Interessant. Drei nagelneue Alben stehen diese Woche auf den ersten drei Plätzen der Charts. So eine Top-Platzierung aus dem Stand bedeutet: Sehr viele Menschen haben nicht lange überlegt oder probegehört, sondern direkt zur Platte gegriffen. Es muss sich also um drei Bands mit ausgesprochen treuer und ungefähr gleich großer Fanbasis handeln.
Platz eins haben AnnenMayKantereit mit »Alles nix konkretes«. Klar, die Jungs aus Köln sind die Sympathen der Saison, sogar die Tagesthemen haben über sie berichtet. Auf der Platte geht es um die großen Gefühle Anfang 20, um Fernbeziehungen, um die eigenen Eltern und um die wichtige Frage, wer bei wem pennt. Eine sehr brave, aber ausnehmend hübsche Platte zum Durchhören auf dem Weg in die Osterferien. Platz eins? Sehr verdient.
Auf Platz zwei steht »Das letzte Konzert«, das Live-Abschiedsalbum der Puhdys. Die bekannteste Ostrockband hört auf - nach tausenden Konzerten, Millionen verkauften Platten, viel Stress mit der SED und einer auch nach der Wende beachtlich nachhaltigen Karriere als Ost-Export. Auch hier: Schon klar, warum das auf die Zwei springt.
Der dritte Platz ist nicht weniger logisch, verleiht dem Siegertreppchen aber erst die nötige Würze: »Der W« steht da mit seinem Album »IV«. Phonetisch nicht unkompliziert, aber die Fans sind ganz anderes gewöhnt: »Der W« ist Stephan Weidner, Bassist und Gründungsmitglied der Böhsen Onkelz. Und genau wie die Onkelz ein alter Stammgast in den Top 5. Musikalisch? Lahmer Hardrock, pathosdurchtränkte Songs mit Titeln wie »Faust auf Fresse«. Ästhetisch bewegt sich bei Weidner alles sehr nah an der Mutterband, deren Fans, das merkt man in den Amazon-Reviews, auch den Großteil von Weidners Käufern stellen. Überraschen kann einen der Erfolg also kaum.
Interessant ist aber natürlich die Kombination. Die Meta-Ebene. Die deutschen Musikkäufer haben sich in dieser Woche in drei fast gleich große Lager geteilt: Einmal sind da die Freunde der studentischen Gefühligkeit. Dann gibt es die Fans der Lederwesten-Ostalgie, die noch wissen, dass die Puhdys ihr erstes Auftrittsverbot 1970 ausgerechnet nach einem Konzert in Clausnitz bekamen. Und dann sind da noch die Anhänger von humorlosem Germanen-Rock, von Songtiteln wie »Vorhaut. Kopftuch. Kruzifix.«, und die in zornigen Leserbriefen mit Vorliebe Formulierungen verwenden wie »lieber im Stehen sterben als auf Knien leben!«
Klar, das alles kann natürlich Zufall sein, und wir entschuldigen uns hier schon mal für den Pathos – aber passen diese Charts nicht gespenstisch gut? Zu Deutschland, zur schizophrenen Lage der Nation im März 2016? Zur Erinnerung: Die AfD hat mehr als 24 Prozent der Stimmen in Sachsen-Anhalt bekommen. Am selben Tag wurden die Grünen die stärkste Partei in Baden-Württemberg. Und bei den Ostermärschen sind diese Woche mehr als 20.000 Menschen gegen Krieg, Gewalt und Rüstungsexporte durch die deutschen Städte gelaufen – deutlich mehr als vergangenes Jahr. Alles hängt mit allem zusammen. Deshalb wird Deutschland gerade in manchen Teilen härter und in anderen dafür weicher. Ängstlicher und als Reaktion darauf großherziger. Nostalgischer und gleichzeitig offener. Müssten wir von der Chartskolumne jedenfalls drei aktuelle Alben raussuchen, um die Spaltung des Landes musikalisch zu untermalen – es wären AnnenMayKantereit, die Puhdys und Der W.
Erinnert an: Ein Triptychon von Otto Dix.
Wer kauft das? Sehr viele Menschen in sehr vielen Altersschichten. Nur alle drei Alben zusammen kauft garantiert niemand.
Was den Alben gut tun würde: Falls die Puhdys sich noch einmal aufraffen – vielleicht ein ökumenisches Gemeinschaftskonzert?
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