Der Ork in uns

Das Online-Rollenspiel World of Warcraft zieht Millionen Menschen in seinen Bann. Wer solche Leute bisher mitleidig belächelt hat, sollte aufpassen, dass er nicht bald zu einer Minderheit gehört.

Was ist »World of Warcraft«? Kennen Sie den: Warum verstecken sich Tauren im Wald? Na, um sich die Hufe rot zu lackieren! Nicht kapiert? Dann haben Sie wohl einen Trend verpasst: Tauren sind eine Mischung aus Mensch und Stier, sie treten auf in World of Warcraft, Deutschlands meistverkauftem Computerspiel. Es zählt zu den »Massively Multiplayer Online Role-Playing Games« (MMORPGs), also Rollenspielen, die hunderttausende Menschen gleichzeitig in einer virtuellen Welt im Internet spielen. Seit 1997 das erste MMORPG auf den Markt kam, zählen Computerspiele, die einer allein spielt, zum alten Eisen. »Singleplayer-Spiele werden für erfahrene Zocker schnell langweilig, weil der Computer immer gleich reagiert«, erklärt Markus Schwerdtel, Redakteur des Computerspielemagazins Gamestar. »Die Reaktionen echter Menschen im Internet kann dagegen keiner voraussehen.« Das Szenario der meisten MMORPGs orientiert sich inhaltlich an J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe; über Maus und Tastatur steuert der Spieler seine Figur durch eine Fantasy-Welt, in der hinter jedem Baum ein Feind lauern kann. Auch in World of Warcraft kämpft eine Allianz aus Menschen, Zwergen, Nachtelfen und Gnomen gegen die Horde der Orks, Trolle, Untoten und besagter Tauren; Schauplatz des epischen Gemetzels ist ein Land namens Azeroth. Die früheren MMORPGs hatten allerdings ein Problem: Unerfahrene Spieler scheiterten zu früh an zu schwierigen Aufgaben. Bei World of Warcraft wird der Laie langsam in die fremde Welt eingeführt. Zuerst wählt er eine Figur und gestaltet deren Geschlecht, Beruf und Aussehen. Damit der Neuling nicht schon im ersten Kampf den Heldentod stirbt, können Anfänger in einem speziellen Modus unangetastet die Spielwelt erkunden; für erfahrene Spieler gibt es schwerere Spielmodi. Das Prinzip geht auf: Im vergangenen Jahr kam World of Warcraft in Nordamerika und Korea auf den Markt. Die Nachfrage war so groß, dass der Hersteller Blizzard auch den europäischen Markt in Angriff nahm: Am 11. Februar erschien das Spiel in Deutschland – und wurde hier bis heute 300000-mal verkauft. Inzwischen streifen weltweit mehr als zwei Millionen Menschen durch Azeroth, Spieler aus China noch nicht eingerechnet. Dort erschien World of Warcraft am 7. Juni.

Was passiert genau im Lande Azeroth? World of Warcraft bedeutet: »Welt des Kriegshandwerks« und in der Tat geht es für jeden Spieler darum, ein gefürchteter Krieger zu werden. Zuerst also die Lehrjahre: Der Neuling lernt zum Beispiel Erz abzubauen und ein Schwert zu schmieden. Jede erfüllte Aufgabe wird belohnt, mit Waffen, Nahrung und Taschen, um alles hineinzustecken. Über einen Chatkanal erfahren Spieler neue Aufgaben, tauschen Tipps aus und fordern sich zum Kampf heraus. Wer stirbt, erwacht sogleich auf einem Friedhof wieder zum Leben. Die mühsam erkämpfte Ausrüstung ist noch da, muss allerdings repariert werden. Wenn sich der Spieler stark genug fühlt, erkundet er die weite virtuelle Welt von Azeroth: Er besteht Duelle, fliegt auf Fabelwesen durch die Gegend, betrinkt sich, verkauft und ersteigert Gegenstände im spiel-internen Auktionshaus, verbündet sich mit anderen Spielern, bekämpft immer stärkere Monster und kassiert immer größere Belohnungen. Wer die beste Rüstung und das längste Schwert hat, wird von den anderen Spielern bewundert. Auf der höchsten Stufe kämpfen Gruppen von bis zu vierzig Kämpfern in Schlachten stundenlang gegen widerstandsfähige Monster um extrem seltene Gegenstände wie den Hammer von Ragnaros. Der Spieledesigner Bill Roper beschreibt die Mechanik so: »Einfach zu lernen, aber schwierig zu beherrschen.«

Wer gut zusammenspielt, gründet eine Gilde: »Die Gemeinschaft steht im Vordergrund, wie im Mittelalter«, erklärt René Grafe. Der Polizist aus Dresden ist Stammesführer der Hadeskrieger, einer von mehr als tausend deutschen Gilden in World of Warcraft. Die Vorteile: Erfahrene Spieler nehmen Neulinge unter ihre Fittiche, die Beute wird nach festen Regeln aufgeteilt, und wer sich mit einem Gildenmitglied anlegt, bekommt Ärger mit den anderen. Viele Gilden versammeln sich nur im Spiel, die Hadeskrieger aber treffen sich auch in der Wirklichkeit. Wer gemeinsam gekämpft habe, könne sich auch von Angesicht zu Angesicht unterhalten, meint Grafe. Wer vertreibt sich mit so etwas die Zeit? Das Vorurteil besagt, dass Computerspiele die Domäne von Kids seien, die sich wegen ihrer vielen Pickel nicht auf die Straße trauen. Nicht ganz richtig: »Online-Rollenspiele sind meist ein Hobby von gut ausgebildeten jungen Männern«, sagt der Soziologe und MMORPG-Forscher Olgierd Cypra. »Überhaupt spielen in der Lebenswelt von Männern Meisterschaft und Wettkampf eine größere Rolle als bei Frauen.« Die halten sich selten in virtuellen Welten auf; zwar ziehen viele Kriegerinnen durch Azeroth, die werden allerdings meist von Männern gesteuert. Weniger als zehn Prozent der Spieler sind Frauen. Die meisten von ihnen interessieren sich mehr für den Chat und das Gruppenerlebnis als für den Wettkampf. Die Krankenpflegerin Maren Fizia spielt im Player versus Player-Modus, ihre 61-jährige Mutter bevorzugt den »etwas gesitteteren« Player versus Environment-Modus (PVE), also »Spieler gegen Monster«. Hier gilt es, computergesteuerte Figuren zu besiegen, fremde Spieler können nicht angreifen. »Manchmal wechsle ich in PVE, um Mutti hallo zu sagen«, erzählt Fizia. Sie spielt wegen ihrer Freunde in der Gilde und würde nie allein durch die virtuelle Welt ziehen. Ein weiteres Vorurteil: Computerspieler flüchten in virtuelle Welten, um Problemen im echten Leben zu entkommen. »Pauschal gesehen völlig falsch«, sagt der Soziologe Cypra. »Die meisten Online-Rollenspieler fühlen sich nicht einsam, sind sogar zufriedener als die Gesamtbevölkerung. Sie haben also gar keinen Grund zu flüchten. Allerdings können einsame, arbeitslose oder unglückliche Menschen schon vor ihren Problemen in virtuelle Welten fliehen.« Dort könne jeder gut sichtbare Erfolge vorweisen – wenn er nur lang genug spiele. Dieser Zeitaufwand ist das größte Problem aller Online-Rollenspieler.

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Warum spielen Menschen Online-Rollenspiele? Stephan Baving, 49, stand samtagsmorgens auf und wollte nur ein bisschen World of Warcraft spielen. Feinde attackierten ihn, Freunde kamen zur Hilfe, alle kämpften sich in Rage und nachmittags um vier schrieb Baving im Chat: »Jetzt muss ich mir langsam mal ’ne Hose anziehen.« World of Warcraft kostet Zeit, viel Zeit. Wer weniger als neun Stunden pro Tag in Azeroth verbringt, wird in Internetforen als passiv bezeichnet. Also verzichten viele Spieler auf Sport, Kino, lange Abende mit Freunden, Gespräche mit den Eltern oder dem Partner, falls sie noch einen haben.

So können Freundschaften kaputtgehen. Der 17-jährige Schüler Sören aus Kassel hat einen Freund an das Spiel verloren: »Olli schläft sechs Stunden, geht sechs Stunden zur Schule und zockt zwölf Stunden«, erzählt Sören. »Jetzt hat Olli keine Freundin mehr, dafür aber im Spiel geheiratet. Er isst nur noch auf seinem Zimmer und seine Mutter räumt um ihn herum auf.« Als Sören seinen Freund zur Rede stellen wollte, habe der nicht mal seinen Kopfhörer abgenommen. Mit seinem Verhalten erfüllt Olli die Suchtkriterien der Weltgesundheitsorganisation. Ein Extremfall, aber keine Ausnahme: »Fünf Prozent der Online-Rollenspieler können als süchtig bezeichnet werden«, sagt der Soziologe Cypra. »Meist sind das allerdings die untypischen Spieler, Personen ohne Schulabschluss oder Erwerbslose.« Viele treten hingegen rechtzeitig auf die Bremse. Der Gedanke »Mist, jetzt habe ich den ganzen Tag wieder nix geschafft«, ist in Online-Rollenspielerkreisen genauso bekannt wie unter Videofreunden, Autotunern und manischen Partygängern. Deshalb setzen sich die meisten feste Spielzeiten oder einigen sich nach dem zehnten Streit mit Freundin oder Mutter auf einen Kompromiss.

Wer verdient damit Geld? Rund um Online-Rollenspiele hat sich eine eigene Industrie entwickelt: Wer sich an einer kniffligen Aufgabe die Zähne ausbeißt, kann seine Figur für 1,50 Dollar pro Stunde bei www.topgameseller.com in die Obhut von Profis geben. Für 450 Dollar spielt ein Experte World of Warcraft sogar von Anfang bis Ende durch. Auch viele Hobbyspieler verkaufen im Internet ausgebildete Figuren, die mühsame Lehrjahre bereits hinter sich haben: Ein World of Warcraft-Paladin mit der höchsten Erfahrungsstufe kostet bei Ebay rund 175 Euro. Professionell handelt die Firma Internet Gaming Entertainment unter www.ige.com von Hongkong aus mit virtuellen Währungen, Gegenständen und Spielfiguren; nach Bezahlung wird die Ware in der virtuellen Welt überreicht. Blizzards Konkurrent Sony will an diesem virtuellen Geschäft mitverdienen: Auf der Fachmesse »Electronic Entertainment Expo« in Los Angeles stellte Sony ein virtuelles Kaufhaus in seinem MMORPG Everquest 3 vor: Dort sollen Spieler bald wertvolle Gegenstände per Kreditkarte kaufen können. Blizzard setzt dagegen auf seine Abonnenten: Neben 44,99 Euro für Installations-CDs und Spielanleitung kostet World of Warcraft eine monatliche Spielgebühr von mindestens 10,99 Euro. Um die Spieler bei der Stange zu halten, wird World of Warcraft ständig verbessert: durch neue Gegner, Gegenstände oder Spielmodi wie die Battlegrounds, auf denen Gruppen gegeneinander um Ranglistenpositionen kämpfen. Ein geregeltes Einkommen bietet das MMORPG Project Entropia: Dort kaufen Spieler zuerst eine Grundausrüstung zusammen, mit der sie virtuell Güter herstellen, die sie dann verkaufen können. Das Spielgeld tauschen sie zum Kurs von eins zu zehn in US-Dollar. So eine Regelung vermeidet Übergriffe virtueller Streitereien ins echte Leben: Laut Computerzeitschriften wurde in Shanghai Ende März ein Mann erstochen, weil er den mühsam erkämpften Drachensäbel seines Freundes für umgerechnet 675 Euro verkauft hatte. Im spielfanatischen Südkorea wäre es wohl nicht so weit gekommen. Dort befasst sich eine Spezialeinheit der Polizei ausschließlich mit Verbrechen rund um Online-Computerspiele.

Was sagt unser Moralkolumnist Dr. Dr. Rainer Erlinger zu »World of Warcraft«?
Oh Gott! Was soll man sagen zu einem Spiel, das übersetzt »Welt des Kriegshandwerks« heißt, bei dem eine Horde gegen eine Allianz kämpft, das Ziel in einer Art Wettrüsten liegt und bei dem manche mehr als zwölf Stunden täglich vor dem Bildschirm verbringen? Meines Erachtens am ehesten: Wenn’s Spaß macht…

Wieso diese Toleranz, wo doch derartige Spiele bekanntlich kulturell verarmen lassen, Gewalt in ihnen ausgelebt wird, Spieler der Sucht anheim fallen und nun auch noch der reale Mammon in die geschützte Welt des Spiels einbricht? Das meiste davon entpuppt sich als Vorurteil, wenn man zum Beispiel einmal das Buch als allseits hoch geachteten Hort der Kultur zum Vergleich heranzieht: Es gibt wunderbare Literatur, aber gemessen an so manchem, was zwischen Buchdeckel gepresst wird, erscheint schon das abwechselnde Drücken von Tasten auf einem Gameboy als intellektuelle Meisterleistung, von einem strategisch zu planenden Spiel ganz zu schweigen. Nicht das Medium Papier als solches ist intelligenter als der Bildschirm, es kommt auf die Inhalte an. Ob ein Buch mehr Gehalt hat als ein Computerspiel, ist eine Frage des Einzelfalls und für den Durchschnitt müsste es erst noch erwiesen werden. Natürlich kann man sich auch über die eigenartigen Figuren in World of Warcraft mokieren, sollte dann aber bedenken, dass J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe im vergangenen Jahr noch vor der Bibel die Wahl zum beliebtesten Buch der Deutschen gewann. Die Brutalität. Richtig, die gibt es: Selten habe ich etwas Mordlüsterneres gesehen als Schach. Man versucht den gegnerischen König einzukreisen und zu erlegen, am besten, indem man vorher seine mächtige Frau kaltmacht. Darüber, wie sehr Gewalt im Spiel toleriert wird, entscheidet offenbar der Grad der Verfremdung. Real in 3D Gedärme platzen zu sehen ist widerwärtig; ebenso wenig begeistert es, als Ork 20 Raptorenköpfe zu sammeln, weil kein Mensch sie braucht, weniger weil es zu brutal wäre, imaginären Wesen nachzustellen. Und schließlich die Vereinsamung der Dauerspieler: Das Suchtpotenzial mag größer sein als bei Büchern, doch ist Blässe besser, wenn sie aus Bibliotheken kommt? Der Leser ist mit seinem Buch immer primär allein, der MMORPG-Spieler nicht. World of Warcraft zeichnet sich durch eine ausgeprägte soziale Komponente aus; wenn Aufgaben nur in der Gruppe gemeistert werden können, zwingt das zu Kooperation und Kommunikation. Der gekaufte Spielerfolg scheint am bedenklichsten. Wo liegt der Unterschied zum teuren Carbonschaft-Golfschläger, zum besseren Laufschuh, zum schnelleren Reifen? Im offenen Umgang mit dem Produkt: Würde der gekaufte und gut ausgebildete Paladin im Spiel ein Etikett mit der Aufschrift »175 € bei Ebay« tragen , wäre alles okay. Ohne Etikett täuscht der Spieler eine Leistung vor, die er nicht erbracht hat.