Wer auf Resonanz hofft, denkt und formuliert klarer.
Natürlich ist es ein Wahnsinn. Natürlich ist es völlig unnötig, dass Millionen von Menschen ununterbrochen das Internet vollschreiben, mit Notizen, Beobachtungen, Sinnsprüchen, Tagebuchgebrabbel und Tiraden aller Art. In einer Studie wurde das ganze Ausmaß vor Kurzem zusammengerechnet: Jeden Tag produzieren wir Internettext, der ungefähr 36 Millionen Büchern entspricht. 400 Millionen Twitter-Mitteilungen. Mehr als eine Million Blog-Einträge, rund zwei Millionen Kommentare allein auf Plattformen wie WordPress. Auf Facebook werden täglich 16 Milliarden Wörter getippt. Macht alles in allem 3,6 Billionen Wörter allein in E-Mails und Social-Media- Botschaften. Eine Größenordnung, die sich schon gar nicht mehr in Regalmeter umrechnen lässt. Es ist ein Wahnsinn - aber es ist gut für uns.
Mehr Schrift als heute war nie in der Welt. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein war Schreiben ein Zeitvertreib der gebildeten Stände. Erst im Jahrhundert der Bürojobs, der wachsenden Verwaltungen und Konzerne, wuchs die Zahl derer, die Tag für Tag mit geschriebenen Wörtern zu tun hatten - und allmählich den Wunsch entwickelten, sich auch selbst auszudrücken.
Der amerikanische Autor Clive Thompson hat gerade in einem Artikel für das US-Magazin Wired festgestellt: »Die Tatsache, dass so viele von uns schreiben - ihre Gedanken mit der Welt teilen, egal, ob gut oder schlecht -, verändert unsere Art zu denken. So wie wir in der Öffentlichkeit leben, so denken wir jetzt auch in der Öffentlichkeit.« Wer im Internet schreibt, erwartet, dass er wahrgenommen wird. Für Mails gilt das sowieso - aber auch Tweets, Facebook-Posts oder Blog-Einträge sind immer verbunden mit der Hoffnung auf Echo.
Das heißt nicht, dass alles, was so ins Internet hineingetippt wird, wertvoll wäre. Im Gegenteil, oft haben die pensionierten Studienräte ja recht, die das Internet als Ort der Komplettverblödung kritisieren. Da mäandern Menschen auf Blogs durch abstruse Gedankenwelten, schimpfen rum oder sammeln abseitiges Fachwissen, ohne dass erkennbar wäre, wozu. Aber ob Absurd-Blog oder Egal-Tweet, in all diesen Fällen setzen sich Menschen hin und formulieren ihre Gedanken. Das heißt, sie zwingen sich, das, was sie sagen wollen, präziser zu fassen, als wenn sie einfach nur gedankenverloren aus dem Fenster starren würden. Heinrich von Kleists ewiggültige Formel von der »allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden« müsste heute lauten: Die Gedanken vieler Menschen verfertigen sich, während sie auf einer Computertastatur getippt werden.
Anke Werani, Psycholinguistin an der Universität München, hat mehrere Studien zum Verhältnis von Denken und Sprechen durchgeführt. Ihr Ergebnis: Wenn wir uns artikulieren, denken wir nicht nur klarer, wir lösen auch Probleme besser. Sie sagt: »Wir sprechen in der Psycholinguistik von Materialisierung. Sprache dient als Mittel der Regulation, der Selbststeuerung. Erst wenn ich einen Gedanken formuliert habe, kann ich darüber nachdenken.«
Vor ein paar Jahren wurde an der Vanderbilt University in Nashville ein Versuch mit Kindern durchgeführt: Vier- und Fünfjährige sollten eine Reihe von bunten Bildern betrachten und nennen, welches logischerweise als nächstes kommen müsste. Die erste Gruppe von Kindern riet einfach vor sich hin. In der zweiten sollten die Kinder gleichzeitig ihren Müttern erklären, wie und warum sie auf das nächste Bild kommen. Das Ergebnis: Die Kinder, die formulieren mussten, was ihnen durch den Kopf ging, schnitten weit besser ab.
Wer Blog-Einträge oder Facebook-Posts schreibt, äußert oft Dinge, die er so vielleicht gar nicht aussprechen würde, sei es, weil er niemanden hat, der ihm gerade zuhört, oder weil er sich nicht traut, das Gedachte jemandem ins Gesicht zu sagen. Es ist ein Paradox, das Sozialpsychologen immer wieder fasziniert: Viele äußern sich online in der größtmöglichen Öffentlichkeit - und fühlen sich doch dabei, als befänden sie sich in einem privaten Raum. Der Autor und Blogger Clive Thompson erklärt: »Ein Publikum zu haben, kann das Denken klarer machen. Es ist leicht, einen Streit im eigenen Kopf zu gewinnen. Aber wenn man ein reales Publikum vor sich hat, muss man echt überzeugend sein.«
Bleibt die Frage, ab wie vielen Lesern man wirklich von einem Publikum sprechen kann. Zehn? Hundert? Tausend? Mehrere Studien haben ergeben, dass der Effekt der Selbstkontrolle bereits ab einem einzigen Leser einsetzt: Schon dann formuliert und denkt man anders, als wenn man nur vor sich hin denken würde. Es ist wie mit der eigenen Wohnung, 15 Minuten, bevor Besuch kommt: Erst wenn man noch mal kurz mit dem Blick des Gastes durch den Raum schaut, fällt einem auf, was nicht stimmt.
Es gilt also: Je mehr Leute schreiben, umso besser für uns alle. Natürlich können wir als Leser problemlos auf einen riesigen Teil der umgerechnet 36 Millionen Bücher täglich verzichten. Aber dass sie geschrieben werden, ist prinzipiell gut. Für die, die schreiben. Und damit für uns alle. Die Psycholinguistin Anke Werani sagt: »Sprache dient eben nicht nur der Kommunikation, sondern auch dem Denken. Je mehr sie eingesetzt und je mehr auf Qualität geachtet wird, desto besser für die ganze Gesellschaft.«
Illustration: Luc Melanson