Kaum ein Satz bringt die Vorurteile gegenüber der Kunstwelt so sehr auf den Punkt wie dieser: Ist das Kunst – oder kann das weg? Wer das sagt, meint es meistens vorwurfsvoll: Das soll Kunst sein? Kann doch jeder! Für die Kunsthistorikerin Dorothee Hamm-Neumann hat der Satz eine andere Bedeutung. Er ist eine Art Leitmotiv ihres Berufs.
Hamm-Neumann arbeitet für Axa Art, eine der größten Kunstversicherungen der Welt. Veranstalter fast jeder wichtigen Ausstellung zählen zu ihren Kunden, ebenso wie reiche Privatsammler und große Galerien. Sie sichern sich dagegen ab, dass Bilder beim Transport kaputtgehen, Plastiken von Ausstellungsbesuchern versehentlich vom Podest geschubst oder Installationen bei einem Wasserschaden derart in Mitleidenschaft gezogen werden, dass geklärt werden muss: Ist das noch Kunst – oder schon ein Totalschaden?
»Was die Bildaussage irreparabel verändert, ist meistens ein Totalschaden«, sagt Hamm-Neumann. Dabei muss die Leinwand nicht in Fetzen hängen. Manchmal reicht es schon, wenn die ehemals makellose Oberfläche einen Kratzer abbekommt und damit eben nicht mehr perfekt spiegelt. In so einem Fall treffen sich Gutachter, Galeristen und oft auch die Künstler und beraten: Kann man das Werk wiederherstellen? Wie teuer wäre das? Etwa achtzig Prozent aller Kunstschäden lassen sich beheben, bei teuren Werken von Künstlern wie Picasso oder Beuys lohnt es sich eigentlich immer. Oft helfen sogar die Künstler: Als der berühmte, in Formaldehyd eingelegte Hai von Damien Hirst zu faulen begann, ersetzte Hirst das tote Tier durch ein anderes. So einfach ist es nicht immer. Viele Künstler weigern sich, an ein Werk noch mal Hand anzulegen. Oder sie sprechen schon dann von Totalschaden, wenn das Werk mit minimalem Aufwand zu restaurieren wäre. Dann merken Verherungsexperten in möglichst nüchterner Behördensprache an, dass einige Leute im Kunstbetrieb eine Meise haben. In einem Gutachten steht: »Manche ›Empfindlichkeiten‹ gehen einfach so weit, dass man annehmen müsste, solche Werke dürften nur an einem Ort und ohne Annäherung irgendeines Wesens aufbewahrt werden.«
Etwa dreißig Werke pro Jahr werden als Totalschaden eingestuft. Die Versicherung muss dann den Wert erstatten, und das Werk wird aus dem Verkehr gezogen – oft kratzen die Künstler ihre Signatur ab. Fortan gilt es nicht mehr als Teil ihres Œuvres, ab dem Moment der Zahlung gehört es offiziell der Versicherung. Bei völlig zerstörten Objekten, etwa nach einem Hausbrand, will auch die es nicht haben. Axa Art lässt sich dann einen Nachweis schicken, dass das kaputte Kunstwerk entsorgt wurde, und die Sache ist erledigt.
Doch immer wieder sind eben Werke dabei, die zu schade für den Schredder sind. »Manche Kunst kann man doch nicht einfach wegwerfen«, sagt Hamm-Neumann. Die Versicherung hat im Kölner Stadtteil Kalk ein Lager gemietet, wo die kaputte Kunst aufbewahrt wird, verpackt in Holzkisten, alarmgesichert und klimatisiert. Die Bilder sind plötzlich in einem seltsamen Zwischenstadium: kein Kunstwerk mehr, sondern Schadgut. Die Öffentlichkeit bekommt die Werke nicht zu sehen, kaufen kann man die Kunst nicht, die Kosten für die Lagerung, immerhin ein paar Tausend Euro pro Jahr, zahlt die Versicherung. »Vielleicht können ein paar der Werke, die heute noch als kaum restaurierbar gelten, in einigen Jahren wiederhergestellt werden, weil die Methoden der Restaurateure immer besser werden«, sagt Hamm-Neumann. Bei Rissen in Gemälden könne man mittlerweile jeden einzelnen Faden der Leinwand verkleben. Mit Zustimmung der Künstler und dem Hinweis auf die Reparatur könnte die Kunst dann wieder ausgestellt werden. Eine frühere Chefin der Axa Art erklärte in einem Vortrag, auch kaputte Werke haben kulturellen Wert: Ohne sie wären die großen Museen zur Kunst der Römer oder Griechen fast leer.
Im Lager ist eine außergewöhnliche Sammlung von bisher rund achtzig beschädigten Werken zusammengekommen. Arbeiten von Peter Lindbergh, Gerhard Richter, Daniel Spoerri, Jeppe Hein, Giorgio de Chirico und vielen anderen warten dort auf eine ungewisse Zukunft. Es ist schon merkwürdig, dass eine der drängenden Fragen der Kulturgeschichte von einer Versicherung geklärt wird: Wo endet Kunst? In Köln-Kalk, im Lagerhaus der Firma Roggendorf, im großen Regal ganz links unten.
Jiří Georg Dokoupil
Dokoupil gilt als wichtiger Vertreter der Bewegung »Neue Wilde«, die mit den damaligen Konventionen des Kunstmarktes brechen wollte. In diesem Bild namens Sieben schwarze Formen (1987) thematisiert er dessen eigene Entstehung in der Tradition eines Martin Kippenbergers – und macht sich damit über den Geniebegriff in der Kunst lustig. Die untere rechte Ecke des Bildes wurde beschädigt, als ein Gabelstaplerfahrer versehentlich die Kiste mit dem Bild rammte.
Jeppe Hein
Nicht alles ist, wie es scheint – das ist eine Grundidee des Dänen Jeppe Hein. Für Horizontal Cut von 2016 gilt das auf unfreiwillige Art: Das Werk aus Spiegelfolie wurde auf der Kunstmesse Frieze in London so beschädigt, dass laut einem Gutachten die »gesamte Erscheinung des Werks stark beeinträchtigt« ist. Es ist nicht der große Schnitt durchs Bild gemeint – der ist Absicht und soll dem Betrachter seine Zerrissenheit vor Augen führen. Sondern der Schaden besteht in einer weniger als einen Zentimeter großen Delle links unterhalb der Bildmitte, verursacht von einem ungeschickten Besucher, die die perfekt spiegelnde Oberfläche etwas weniger perfekt macht.
Gerhard Richter
Es ist wohl eines der bedeutendsten Werke im Lager für beschädigte Kunst: Schwarz, Rot, Gold von Gerhard Richter aus dem Jahr 1999. Diese Arbeit entstand aus einem Auftrag des Bundestages, der zur Jahrtausendwende Künstler um Werke bat, die sich mit dem Reichstagsgebäude und seiner Geschichte auseinandersetzen. In der Tradition von Jasper Jones, der die US-Flagge verfremdet reproduzierte, schuf Gerhard Richter eine rund ein mal einen Meter große Version der Deutschlandfahne aus Kunstharzfarbe hinter Glas. Während einer Routinekontrolle im Folkwangmuseum in Essen wurde im März 2017 ein etwa zwei Zentimeter großer, »spitz auslaufender, bogenförmiger Sprung« am linken unteren Rand der Glasscheibe festgestellt. Dieser Schaden war so gravierend, dass der Künstler persönlich das Werk entwertet hat, indem er seine Unterschrift auf der Rückseite durchstrich.
Louis Apol
Der niederländische Künstler gilt als wichtiger Vertreter der Haager Schule, die ab 1870 durch poetische Betrachtungen der Natur von sich reden machte. Dieses Bild war im Privatbesitz und wurde, soweit der Axa Art bekannt ist, bei einem Einbruch entwendet – als die Beute wieder auftauchte, war das Bild beschädigt. Vermutlich, weil es unvorsichtig transportiert worden war. Eine Restaurierung wäre wohl möglich, aber teurer als der jetzige Wert des Bildes.
Unbekannter Künstler
Zu den meisten Schäden gibt es detaillierte Unterlagen, die beschreiben, was einem Kunstwerk zugestoßen ist. Demnach wurde dieser seltenen Terracotta-Figur aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Ausrutscher zum Verhängnis: Der damalige Eigentümer stolperte an einem Samstagabend im September 2014, als er einen Werkzeugkasten in der Hand hielt, und stieß gegen den rechten Arm der Skulptur. Ihr Wert bis zum Unfall: knapp 50 000 Euro.