SZ-Magazin: Herr Risch, Sie machen seit 16 Jahren Knoten in Seidenfäden. Warum?
Jens Risch: Weil ich es für das Sinnvollste halte, was ich machen kann.
Das ist nicht Ihr Ernst.
Doch. Wenn ich eine einfache Tätigkeit immer wieder ausführe, ist das langweilig und spannend zugleich, weil sie nicht darauf angelegt ist zu unterhalten. Im Gegensatz zu anderen Unterhaltungsformen nützt sich das Knotenmachen nicht ab. Es ist immer für mich da, es hat mich noch nie enttäuscht.
Kann es sein, dass Sie kauzig sind?
Das strebe ich nicht an.
Sie haben einen neunjährigen Sohn, der jeden Morgen in die Schule geht. Wie erklären Sie ihm, was Sie machen?
Ich muss es nicht erklären, er sieht es selbst.
Wundert er sich nicht darüber?
Überhaupt nicht. Der denkt noch nicht in Bildern im Sinne von: Komisch, mein Papa geht morgens nicht mit Anzug und Aktentasche ins Büro.
Was antwortet er, wenn er nach dem Beruf seines Vaters gefragt wird?
Er erzählt, dass ich Knoten mache. Vor ein paar Jahren hat er mir stolz ein Stück verknotete Schnur präsentiert. Das kam wirklich von ihm allein. Muss eine Art Spiegelung gewesen sein. Ansonsten interessiert ihn meine Arbeit nicht übermäßig. Er stellt sie nicht in Frage. Es ist, wie es ist.
Was antworten Sie, wenn Sie nach Ihrem Job gefragt werden?
Ich bin Künstler. Ich mache Knoten in Fäden, bis kein weiterer Knoten mehr möglich ist. Dann ergibt sich eine kleine, selbstähnliche Form, die man als Skulptur betrachten kann. Ich arbeite daran, zu vergessen, was ich da eigentlich mache. Ich suche Einfachheit und Klarheit. Im Leben genauso wie in der Kunst. Ich würde gern aufhören nachzudenken und einzuordnen. Das sind alles reflexive Anfangsstufen, von denen ich mich lösen will.
Arbeiten Sie in einem bestimmten Rhythmus?
Ja. An einem normalen Arbeitstag knote ich vier Stunden, samstags, sonntags und an Urlaubstagen je zwei. Früher habe ich an Wochenenden und auf Reisen frei genommen, bis ich vor ein paar Jahren erkannt habe, dass die Rahmenbedingungen konventioneller Berufsmodelle sich nicht so richtig auf meine Tätigkeit anwenden lassen. Ich arbeite nicht für ein Unternehmen. Bei mir geht es nicht um schnelles Wachstum oder Konsens, sondern um Individualität und Kontinuität. Jeden Tag geht die Sonne auf, die kosmischen Prozesse stehen nie still, dem versuche ich mich seitdem ein wenig anzunähern.
Vier Stunden pro Tag – da kommt ein durchschnittlicher Arbeitnehmer ins Träumen.
Vier Stunden sind das Maß, wenn ich auch in Zukunft jeden Tag Knoten machen möchte. Glauben Sie mir, viel mehr geht weder physisch noch psychisch. Bei Tänzern ist die Karriere in meinem Alter meistens schon vorbei. Ich habe noch was vor.
Ihre Finger müssen ganz wund sein.
Überhaupt nicht. Sie sind eher fein, weil der Zwirn ganz weich ist. Trotzdem muss ich meine Finger ab dem zweiten Knotengang mit Tape schützen, weil die kleinen Knoten scharf wie Sägezähnchen sein können.
Was passiert, wenn Sie einen Tag nicht knoten können?
Seit meinem Entschluss, täglich zu knoten, das war am 20. Mai 2009, kam das noch nie vor. Es handelt sich um ein Experiment mit offenem Ausgang. Fehltage wären nicht ideal, sind aber im System inbegriffen.
2010 saß die Künstlerin Marina Abramović wochenlang wort- und regungslos an einem Tisch im Museum of Modern Art, Sie machen jeden Tag stundenlang Knoten in eine Schnur. Sind Sie eine Art Performance-Künstler ohne Zuschauer?
So könnte man es ausdrücken.
Warum richten Sie keine Webcam ein, damit man Ihnen bei der Arbeit zusehen kann?
Weil mir diese Art der Selbstdarstellung nicht liegt. Es geht nicht um mich. Ich habe ein einziges Mal bei einer Ausstellungseröffnung in Paris vor Publikum geknotet. Diese Erfahrung hat mir gereicht. Wenn ich selbst im Mittelpunkt stehe, stört das meine Konzentration, am Ende leidet das Werk.
Wann haben Sie mit dem Knoten angefangen?
Nach dem Abitur habe ich verschiedene Sachen ausprobiert, um mich an der Kunsthochschule zu bewerben. Irgendwann fing ich an, Knoten in ein Haar von mir zu machen, erst einen, dann immer mehr, bis das Haar sich zu einer Spirale gekräuselt hatte.
Sie haben sich mit Knoten in einem Haar an der Universität beworben?
Das Haar war nur der Auslöser für weitere Arbeiten. Diese Spiralstruktur hat mich einfach fasziniert und ich fing an, so viele Knoten wie möglich in eine Paketschnur zu machen, bis sich die Knoten ineinander krümmten und Formen in Streichholzschachteldimension entstanden.
Wie haben die Professoren reagiert?
Ich wurde abgelehnt. Aber einer, der Künstler Thomas Bayrle, nahm mich zur Seite und meinte, ich könne zwar nicht mit Material umgehen, trotzdem seien die Arbeiten konzeptionell so spannend, dass wir einen anderen Weg finden müssten, um mich an die Hochschule zu bekommen. Ich durfte meine Skulpturen also noch einmal vor dem Rat der Professoren erläutern. Zuerst schauten alle etwas unschlüssig, dann nahm einer ein Stück geknotete Schnur in die Hand und fragte: »Herr Risch, warum haben Sie das gemacht?«
Was haben Sie geantwortet?
Ich sagte, dass ich seit Jahren darüber nachdenke, was das eigentlich ist: ein Beruf, eine Arbeit, eine Tätigkeit, mit der man seine Zeit ausfüllt und seinen Lebensunterhalt verdient; und dass die Knoten dieses Nachdenken thematisieren und in sich tragen würden. Am Ende haben sie mich doch genommen.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine neue Arbeit beginnen?
Mit Ruhe und Konzentration. Jeder Knoten soll den nächsten ganz sachte berühren, es dürfen keine Lücken entstehen. Je mehr Knoten ich aneinanderreihe, desto kürzer und dicker wird der Zwirn, irgendwann bin ich durch und der ursprünglich tausend Meter lange Zwirn ist nur noch 250 Meter lang. Dann fange ich von vorne an, die Schnur wird wieder dicker und kürzer, danach kommen die Durchgänge drei, vier, fünf. Nach etwa sechs Durchgängen ist kein Knoten mehr möglich und das Stück damit fertig.
Wo sitzen Sie, wenn Sie knoten?
An einem runden Holztisch in der Küche. Ich arbeite meist vormittags, da habe ich natürliches Licht, das ist angenehmer als Kunstlicht. Manchmal höre ich klassische Musik, meistens ist es einfach nur still.
Woran denken Sie?
An das Leben, an Begegnungen, an sinnliche Eindrücke. Manchmal gelingt es mir, an gar nichts zu denken, dann bin ich selbstvergessen und merke nicht, wie die Zeit vergeht. Oft schaue ich aus dem Fenster und beobachte Elstern und Ringeltauben oder betrachte den Kastanienbaum im Hof. Es ist wunderbar, wenn sich im Frühjahr seine weißen Blüten wie Kerzen aufstellen und der Wind die Baumkrone schaukeln lässt.
Mit welchem Gemütszustand machen Sie die Knoten?
Ich bin entspannt, ich bin in meinem Element. Danach bin ich mental erfrischt.
Entspannung durch Entschleunigung – was Sie praktizieren, wird in Wellness-Hotels angeboten.
Mit dem Unterschied, dass die Gäste solcher Hotels damit ihr anstrengendes Berufsleben kompensieren. Bei mir ist es umgekehrt: Das Knoten ist das Zentrum meines Lebens.
Können Sie von Ihrer Kunst leben?
Noch nicht. Aber ich freue mich momentan über großes Interesse an meinem Tun und hoffe, dass sich das auch finanziell auszahlt.
Was kostet eine Arbeit?
Das möchte ich nicht verraten. Man kann die Preise ja in der Galerie erfragen.
Kann man sagen, dass Geld Sie nicht interessiert?
Ich habe nichts gegen Geldverdienen, ich will mich davon nur nicht steuern lassen. Wenn ich Geld verdienen kann, gut. Wenn nicht, soll das nicht dazu führen, dass ich etwas anderes mache.
Die Einstellung muss man sich leisten können.
Stimmt. Glücklicherweise halten mich familiäre Reserven über Wasser. Und ich habe auch schon ein paar Werke verkauft. Seidenstück I befindet sich beispielsweise in der Sammlung des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt. Ich hoffe, dass früher oder später alle Stücke ihren Weg in Sammlungen finden werden.
Wie viele Seidenstücke haben Sie bisher gemacht?
Fünf. Für mein erstes habe ich vier Jahre gebraucht, damals habe ich nebenbei als Kellner, Nachtwächter und Landschaftsgärtner gejobbt. Für ein Stück brauche ich ungefähr 1500 Stunden. Man kann also sagen, dass alle eineinhalb Jahre ein neues fertig wird. Momentan arbeite ich an Seidenstück VI.
Sie könnten zwischendurch kleinere Arbeiten machen, Hundert-Meter-Stücke für ein paar tausend Euro.
Sie haben recht, ich könnte mich markstrategisch geschmeidiger präsentieren, aber das interessiert mich nicht. Ich habe mal eine Skulptur aus Hanfseil gemacht, nach einer Woche war ich fertig. Das Stück war schnell verkauft, führte mich aber vom Wesentlichen weg. Für mich wird es erst interessant, wenn die Knotendichte so hoch ist, dass man sich im Detail verlieren kann.
Sie könnten mit anderen Farben arbeiten.
Habe ich auch gemacht, bis ich erkannt habe, dass auch das nur ein weiteres Assoziationsfeld ist, das vom Eigentlichen wegführt. Inzwischen arbeite ich ausschließlich mit Seidenzwirn, tausend Meter lang, naturfarben – das ist mein Material.
Warum so streng?
Weil das Werk dadurch an Konzentration gewinnt. Der Seidenzwirn ist das Resultat eines jahrelangen Prozesses. Seide ist eines der edelsten Textilien der Welt. Sie entsteht durch die Verpuppung der Schmetterlingsraupe. Um an den Faden zu kommen, muss der Mensch die Raupe töten. In der Schönheit der Seide stecken also Tod und Ausbeutung. Dieser Tatsache versuche ich mir bei der Arbeit bewusst zu sein. 1993 ließ ich mir einen Zopf abschneiden, den ich anschließend jahrelang aufbewahrte. Irgendwann entnahm ich ihm tausend Haare, knüpfte daraus einen 367 Meter langen Faden und fertigte 2013 ein kleines Knotenstück daraus.
Ist das Haar nicht dauernd gerissen?
Doch, ich musste extrem konzentriert zu Werke gehen, weil es als Material viel widerspenstiger ist als Seide. Insgesamt riss der Faden dreihundert Mal. Das Interessante dabei ist, ich habe dünne, helle Haare von meinem Vater, aber auch dunkle, dicke Haare von meiner Mutter. Durch das Knoten wurden beide miteinander verbunden, der Gedanke gefällt mir. Idee, Material und Arbeit – alles an der Skulptur ist von mir. Ganzheitlich betrachtet erfüllt dieses Stück innerhalb meines Werkes das Ideal.
Was sagen eigentlich Ihre Freunde zu Ihrer Leidenschaft?
Ein guter Freund von mir, der Künstler Jürgen Krause, hat eine spezielle Atemtechnik erlernt, um auf weiße Papierbögen freihändig Karomuster zu zeichnen. Er macht das so exakt, dass man es kaum von gedrucktem Karopapier unterscheiden kann. Ein anderer Freund, der Künstler Jan Schmidt, nummeriert die Blätter eines Busches durch, um sie im Herbst, wenn sie abfallen und vom Wind in alle Richtungen verteilt werden, wieder zusammentragen zu können. Sie können sich vorstellen, dass die beiden mich verstehen.
Hat Ihre Arbeit Sie verändert?
Ich glaube, dass ich durch sie zu mir selbst gefunden habe. Mein Leben fühlt sich ruhig und sicher an. Ich experimentiere nicht mehr so viel. Ich weiß, wer ich bin und was ich möchte. Meine Neugierde verlagert sich von der Kunst auf andere Felder. Beim Kochen, beim Sport möchte ich noch wachsen. Meine Fähigkeit, das Leben zu genießen, nimmt zu.
Glauben Sie, dass den meisten Menschen der Mut abgeht, das zu tun, was ihnen entspricht?
Natürlich weiß ich, dass ich als Künstler das Privileg habe, meinen Weg freier zu gehen als ein Büroangestellter. Allerdings bin ich auch bereit, Sachen auf mich zu nehmen, die andere nicht machen würden.
Zum Beispiel?
Ich verzichte auf Sicherheit und die konventionelle Vorstellung einer Karriere. Ich investiere viel und verdiene wenig. Viele würden umdisponieren, wenn sie merkten, wie langwierig und schwierig der Weg ist.
Warum gehen Sie ihn weiter?
Weil ich an ihn glaube und weil ich gespannt bin, wo er mich noch hinführt. Würde ich mit einer festen Erwartungshaltung an meine Arbeit herangehen, wäre ich von vornherein gescheitert. Das Risiko gehört dazu. Es gibt keine Garantie.