Wegschauen geht nicht: In Helnweins bekanntem Werk Epiphany I umringen Nazi-Offiziere Aria und ihren Sohn Adolf.
SZ-Magazin: Herr Helnwein, was wollten Sie werden, als Sie 14, 15 Jahre alt waren?
Gottfried Helnwein: Kinderarzt oder Revolutionär. Mein Hass auf die graue, enge Welt der Erwachsenen war gigantisch. Ich sehnte mich nach Umsturz, Ekstase und Rundumschlag. In meinen Tagträumen habe ich die Schule in die Luft gesprengt und die korrupte Gesellschaft niedergerissen. Wir biederen, eingeschüchterten Nachkriegskinder hätten gern Haare gehabt wie die Rolling Stones, aber mit unserem Hitlerjugend-Haarschnitt und den roten Ohren standen wir da wie Ministranten. Als wir uns die Haare auch etwas länger wachsen ließen, wurden auf der Straße Steine nach uns geworfen, und man schrie: »Ihr Gsindel ghört weggeräumt und vergast. Der Hitler ghört wieder her!« Wenn im Stadtpark einer mit einem Afro saß, ließen manche gern ein brennendes Zündholz hineinfallen.
In einem gerade erschienenen Buch* wird behauptet, Sie hätten lange an Alexithymie gelitten, der Unfähigkeit, Gefühle zu haben.
Solche Pathologisierungen sind schwachsinnig. Ich fand, dass ich in ein Straflager hineingeboren war, und wollte da raus. In der Schule habe ich angefangen, mir mit Rasierklingen die Hände aufzuschneiden, als Protest gegen das System, das ich ablehnte. Wenn ich blutüberströmt war, musste ich nur die Hand heben, und alles stand still. Es war plötzlich ein freier Raum um mich herum. Ich empfand das als Befreiungsschlag und eine Demonstration der Selbstbestimmung, auch über meinen Körper. Es war ein sinnliches Erlebnis, denn Blut hat ja eine magische, mystische Dimension, besonders im Christentum.
Wurde der kleine Gottfried angehalten, an Gott zu glauben?
Mein Vater war wirklicher Amtsrat in der Wiener Postdirektion und streng katholisch. Ich habe den Großteil meiner Kindheit in kalten Kirchenschiffen verbracht. Meine Bilder waren bluttriefende, verzückt gen Himmel blickende Märtyrer, heilige Wundmale, das Blut Christi im Kelch und das blutende, von Schwertern durchbohrte Herz Marias von den sieben Schmerzen. Wir sangen: »Jesu, drücke Deine Schmerzen tief in aller Christen Herzen.« Es war eine Erlösung, wenn mich die schöne Sekretärin des Direktors liebevoll verbunden hat, und ich meinen Knabenkopf auf ihren wohlgeformten Busen legen konnte.
Ihr Erlöser war der Disney-Zeichner Carl Barks. Die Begegnung mit seinen Figuren beschreiben Sie als »Epiphanie« und »Eintritt in ein neues Universum«.
Wien war nach dem Zweiten Weltkrieg ein dunkler Ort ohne Farben und Töne. Der Geruch des Todes hing immer noch in der Luft. Ich erinnere mich an leere Straßen, die Ruinen ausgebombter Häuser, Schutt und Asche. Die Erwachsenen erschienen mir grantig und gebrochen. Gott sei Dank hatten einige PR-Offiziere der amerikanischen Besatzungstruppen die Idee, uns Nazi-Kindern die amerikanische Kultur durch Micky-Maus-Comics zu vermitteln. Bei der Suche nach einer Übersetzerin sind sie zu unserem großen Glück auf Erika Fuchs gestoßen, eine äußerst gebildete Kunsthistorikerin, die gerade einen Job brauchte. In ihrer Unvertrautheit mit Comics übersetzte sie den Text in ihr wunderbares Bildungsdeutsch und wuchs mit ihren Wortschöpfungen über sich hinaus. Sie wurde zu einem weiblichen Goethe. Als ich Entenhausener Boden betrat, war ich der Vorhölle der Wiener Nachkriegszeit entronnen. Ich nahm zum ersten Mal Farben wahr, und das Leben bekam einen Sinn. Ich traf jenen Mann, der mein Leben verändern sollte: Donald Duck. Von ihm habe ich mehr gelernt als in allen Schulen, in denen ich war. Der Umgang mit Leuten wie Schmu Schubiak, Kasimir Keiler, dem Haarigen Harry oder Sebastian Sandig, genannt der Wüstenwastel, schärfte mein Auge für die Einschätzung meiner Mitmenschen. Seit ein paar Jahren habe ich mein eigenes Entenhausen: 35 Enten aller Schattierungen und zwei Gänse, Franz Gans und Gustav Gans.
Der Futurist Filippo Tommaso Marinetti meinte, ein Rennwagen sei schöner als die Nike von Samothrake, Sie meinen, Donald Duck sei bedeutsamer als die Mona Lisa.
Obwohl er eher wie eine Ente als wie ein Mensch aussieht, verkörpert Donald Duck das Menschliche mehr als alle Werke der bildenden Kunst vor ihm. Die Mona Lisa hat bei aller malerischen Qualität wenig mit einem wirklichen Menschen zu tun. Es ist erstaunlich, dass dieser kleine, künstliche Erpel ein so viel besserer Spiegel der menschlichen Seele ist. An ihm erkennen wir unsere Ängste, Unsicherheiten, Schwächen, Dummheiten und Eitelkeiten, aber auch jene Starrköpfigkeit, mit der wir nach jedem Scheitern wieder aufstehen und neu beginnen.
Mit 16 brachen Sie das Gymnasium ab und besuchten die Höhere Graphische Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt, eine 1888 gegründete Schule für Grafik und Zeichnen mit internationaler Reputation. Nach ein paar Wochen waren Sie der bekannteste Schüler.
Unser Lehrer war ein altakademischer Maler. Beim Aktzeichnen pirschte er sich von hinten an und raunte einem ins Ohr: »Sei kühl wie ein Fechter.« Oder er schrie plötzlich: »Wage den Panthersprung!« Irgendwann hatte ich genug von den fetten Aktmodellen und malte mit roter Farbe Hitler auf mein Blatt. Als mir der Professor über die Schulter blickte, erstarrte er. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und rannte in Panik hinaus. Ich höre noch das quietschende Geräusch seiner Gummischuhe. Der weiße Arbeitsmantel flatterte ihm hinterher, und weg war er. Kurz drauf quoll die gesamte Professorenschaft durch die Tür, wie eine Schar aufgeschreckter Vögel. Der Direktor hielt mit bebender Stimme eine Ansprache über die Zeiten, wo alle aufstehen und das Vaterland verteidigen mussten, und dass wegen meiner Zeichnung der achtzigjährige Weltruhm der Anstalt auf dem Spiel stünde. Dann wurde das Blatt beschlagnahmt. Das war der Moment, wo ich zum ersten Mal eine Ahnung von der Macht eines Bildes bekam.
Mit 18 wechselten Sie für vier Jahre an die Akademie der bildenden Künste. Sie besuchten nie eine Vorlesung und machten keinen Abschluss.
Da ich mich in kein System einfügen konnte und jede Art von Autorität ablehnte, blieb als letzter Freiraum nur die Kunst. Um zur Aufnahmeprüfung zugelassen zu werden, musste man Arbeiten vorweisen. Da ich bis dahin noch nie gemalt hatte, dachte ich, gut, dann male ich halt ein Bild. Mehr wollte ich nicht investieren, denn Maler waren für mich Rauschebärte mit Baskenmützen, die besoffen abstrakte Bilder malten, die niemand sehen wollte. Da ich keinen Vergleich hatte, wusste ich nicht, ob mein Bild etwas taugte oder scheiße war. Zu meinem Erstaunen war der Professor so beeindruckt von meiner Arbeit, dass er mich ohne die übliche Aufnahmeprüfung sofort in seine Meisterklasse aufnahm. Er ersparte mir damit, stundenlang in einer langen Schlange verlorener Seelen stehen zu müssen, die in ihre Firmungsanzüge gepresst mit großen Mappen unterm Arm darauf warteten, zu den Professoren vorgelassen zu werden, die dann mit ihren gichtigen Fingern in den Arbeiten wühlten und sagten: »Die Malerei ist nichts für Sie. Lernen Sie lieber was Gescheites.« So ist es einem jungen Mann in dieser Akademie sechzig Jahre davor ergangen. Er wurde gleich zweimal abgewiesen. Sein Name war Adolf Hitler. Es war der schwerste Fehler, den eine Universität je begangen hat.
Ihr Professor war Rudolf Hausner, ein Vertreter des Phantastischen Realismus, der wegen Hehlerei zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden war.
Hausner hatte eine Professur in Hamburg gehabt. Dort war er von rebellierenden Studenten mit den Worten empfangen worden: »Halt’s Maul, reaktionärer Sack! Malen ist ein Privileg der Bourgeoisie auf dem Rücken der Arbeiterklasse.« Nach diesem Schock beschloss er, sich in Wien von Anfang an an die Spitze der Revolution zu setzen, und predigte Marx und Freud. Da er aber auf kein großes Interesse stieß, zog er sich in sein stattliches Atelier in der Akademie zurück, fuhr mit seinem Mercedes 600 herum und genoss die Zeit mit seiner appetitlichen Sekretärin, die ihm der österreichische Staat bezahlte. Wir haben ihn nicht mehr gesehen. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür, denn für mich war das ein Glücksfall. Niemand kümmerte sich um mich, und ich konnte vor mich hinmalen wie ein autistisches Kind. Es war der ultimative Freiheitsrausch.
Nach ein paar Wochen porträtierten Sie abermals Hitler.
Diesmal in Öl. Der Führer sah in die Abenddämmerung. In einem Altwarengeschäft fand ich einen schweren, schwarzen Rahmen aus den Dreißigerjahren. Als das Bild später in einer Ausstellung hing, reagierten einige mit Begeisterung. Einer kam mit hohler Hand auf mich zu und zeigte mir verstohlen, aber stolz sein silbernes SS-Totenkopfabzeichen.
Wer besitzt Ihr Hitler-Porträt heute?
Ich habe es gegen einen Ford Mustang eingetauscht, den ich gleich bei meiner ersten Ausfahrt bei einem Frontalzusammenstoß zu Schrott fuhr. Wo das Bild heute ist, weiß ich nicht.
In die Annalen der Akademie gingen Sie mit einem Anschlag ein, der die Feuerwehr und eine Hundertschaft Polizei auf den Plan rief.
Die Zeit war reif für den Umsturz. An der Akademie beschimpften sich Neomarxisten, Maoisten, Trotzkisten und Spartakisten gegenseitig und schwafelten darüber, wie man Proletarier befreit, die nicht wissen, dass sie befreit werden wollen. Darunter waren adlige Fräuleins mit Parka, die im Schloss ihrer durchlauchten Frau Mama lebten. Damit wollte ich nichts zu tun haben. Das gehörte auch weggesprengt. Ich beschloss, die Revolution selbst in die Hand zu nehmen. Mit ein paar völlig unpolitischen Freunden verwandelte ich die Akademie in ein qualmendes Inferno. Selbst gebastelte Farb-, Stink- und Rauchbomben flogen herum, und die riesigen Fenster wurden in den Hof geworfen. Die Professoren hatten wir mit Nachschlüsseln in ihren Zimmern eingesperrt.
Wie sahen Sie damals aus?
Lange Haare, enge, rote Samthose, darüber eine alte Uniformjacke. Ein Hippie im Sergeant-Pepper-Stil.
Als Sie mit Anfang zwanzig zum zweiten Mal LSD nahmen, bekamen Sie eine Psychose, die Sie um den Verstand brachte: Dämonen zerhackten Sie in tausend Stücke und verstreuten Ihre Überreste im Universum. Manchmal waren Sie blind, oder Sie verloren Ihren Gleichgewichtssinn und konnten nur noch auf allen vieren kriechen.
Es war ein Sturz durch alle neun Kreise der Hölle, der mich fünf Jahre meines Lebens kostete. Eines Tages gab es einen Augenblick, wo der nicht enden wollende Horror in Verblüffung umschlug, weil ich bis dahin nicht gewusst hatte, dass ein derartiges Ausmaß an Panik, Schmerz und Wahnsinn überhaupt erlebbar ist. Größere Mengen Valium waren das Einzige, das kurzfristig half.
Haben Sie in den fünf Jahren Ihrer Valiumsucht gemalt?
Nein. Als ich wieder anfing, kamen Leute, die meine Bilder ausstellen oder kaufen wollten, aber ich lehnte das ab und sagte, ich hätte die Bilder doch nicht gemalt, um damit Geschäfte zu machen.
Wovon haben Sie gelebt?
Geld war peinlich. Man hat es nicht erwähnt. Damals konnte man in Wien wunderbar leben, ohne mit Geld jemals in Berührung zu kommen. Wir verbrachten den Tag in Kaffeehäusern und ließen anschreiben. Irgendwann haben wir eine Zeichnung dagelassen. Nirgendwo konnte man mittellos auf so hohem Niveau leben wie in Wien.
»Der einzige Weg für mich, mit diesem Wissen fertigzuwerden, war, es zu malen.«
Kindermotive: Helnwein hat vier Kinder, erzog sie ohne Zwang. Sie durften, sagt er, sogar in seine Bilder hineinmalen.
Trotz Ihrer Antihaltung wurden Sie fast über Nacht zum bekanntesten Maler Ihres Landes.
Ich habe überlegt, welche Todsünde ich begehen müsste, um in der Kunstszene für ewig stigmatisiert zu sein. Die Antwort war eindeutig: Peter Alexander für das Titelblatt der Kronen-Zeitung malen. Nach dieser Selbstverbrennung hätte ich meinen Frieden. Ich habe dann auch noch Hans Krankl gemalt, den österreichischen Helden, der Deutschland in Córdoba aus der Weltmeisterschaft geschossen hat. Die Kunstszene ist ausgerastet. Es war wunderbar befreiend, alle Brücken hinter sich verbrannt zu wissen und vogelfrei zu sein. Ich konnte endlich wieder durchatmen.
Die Leser der Kronen-Zeitung waren begeistert von Ihnen.
Wenn ich durch Wien ging, hörte ich die Leute sagen: »Schau, da geht der Krankl-Maler.« Ich war berühmt als Krankl-Maler. Ich fand die Vorstellung aufregend, dass irgendjemand morgens verschlafen in die Trafik schlurft, um sich Zigaretten und die Kronen-Zeitung zu kaufen, und dann unvorbereitet auf meine Bilder trifft. Diese kleinen engen Galerien, in denen bei der Vernissage irgendwelche Verlierer mit Sektflöten herumstehen, das war es einfach nicht.
1988 haben Sie ein Jahrhundertfoto gemacht: Der Bildhauer Arno Breker, Hitlers Lieblingskünstler, hält sich in seinem Düsseldorfer Atelier ein Gemälde von Ihnen vor die Brust, das Joseph Beuys zeigt.
Als ich Breker bat, für die Aufnahme das Bild von Beuys hochzuhalten, murmelte er: »Das hätte sich der Beuys aber nicht träumen lassen.« Anschließend erzählte er mir, wie er Anfang der Dreißiger vom russischen Ministerpräsidenten Molotow kontaktiert wurde, der ihn im Auftrag Stalins nach Moskau einlud, um dort den neuen sozialistischen Realismus zu begründen. Als Breker schon seine Koffer gepackt hatte, war Goebbels am Telefon: »Breker, der Führer möchte, dass Sie bleiben. Das Deutsche Reich braucht Sie!« Dann hat er wieder ausgepackt. Er hätte genauso gut Held der Sowjetunion werden können.
Wie sah es in Brekers Atelier aus?
Mir fiel die heroisierende Büste eines beleibten Schwarzen auf, auf dessen Militäruniform Fantasieorden prangten. Breker sagte, das sei der frühere Präsident der Elfenbeinküste. In den Sechzigern sei der Mann in seinem Atelier aufgetaucht und habe ihm den Arm um die Schulter gelegt: »Kommen Sie in mein Land, Breker, ich werde Ihr zweiter Hitler sein! Gestalten Sie mir die neue Hauptstadt. In der Mitte entwerfen Sie mir ein Monument, Thema: befreites Afrika.« Breker zeigte mir sein Gipsmodell der Hauptstadt. Im Zentrum war ein gigantischer Versammlungsplatz vorgesehen, in der Mitte eine kolossale Statue: ein Schwarzer mit gesprengten Ketten und zerrissenem Hemd, der mit geballter Faust aufgewühlt gen Himmel blickt. Als ich Breker fragte, was aus seinem Utopia geworden sei, sagte er resigniert: »Der Präsident ist leider kurz darauf gestürzt worden.«
Haben Sie Breker gefragt, wie er zur sogenannten entarteten Kunst stand?
Ich habe es mehrfach versucht, aber jedes Mal hieß es: »Warten Sie einen Moment, ich verstehe Sie gerade nicht. Ich habe Probleme mit meinem Hörgerät.«
Auch wer noch nie von Ihnen gehört hat, kennt ein mit fotografischem Realismus gemaltes Gemälde von Ihnen. Boulevard of Broken Dreams zeigt James Dean mit Zigarette im Mund auf dem regennassen Times Square. Das Bild wurde zu einem der meistverkauften Poster der Welt.
Es ist ein eher untypisches Bild in meinem Werk. Es entstand 1981 zum fünfzigsten Geburtstag von James Dean. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht. Plötzlich war es überall.
Die Poster-Tantiemen müssen Sie zum Multimillionär gemacht haben.
Das war nicht so wild, weil es weltweit so viele Raubdrucke gab. Ich habe dann alle Poster aufgekauft und die weitere Herstellung untersagt. Durch das Internet kann man sofort sehen, wenn sich jemand nicht daran hält.
Das Leitmotiv Ihrer Malerei ist der Schmerz von Kindern, die mit Rohren und chirurgischen Werkzeugen misshandelt werden. Wie sind Gewalt und Folter Ihre Lebensthemen geworden?
Ich war besessen von der Idee, alles über den Holocaust herauszufinden und die Ursachen zu verstehen. Bei meinen Recherchen bin ich auf gerichtsmedizinische Fotos von Kindern gestoßen, die zu Tode gefoltert worden waren, häufig von ihren Verwandten. Wie kann ein Mensch ein dreijähriges Mädchen vergewaltigen? Warum presst jemand ein Kleinkind auf eine glühende Herdplatte? Es waren Bilder, die ich nicht vergessen konnte. Der einzige Weg für mich, mit diesem Wissen fertigzuwerden, war, es zu malen.
Die Kunstkritik feiert Sie heute als Seher. Dreißig Jahre bevor der zigtausendfache Missbrauch von Kindern in Heimen und Kircheneinrichtungen publik wurde, hätten Sie ihn bereits gemalt.
Ich wusste von den konkreten Ereignissen nichts, aber ich spürte die Misshandlungen genau zu der Zeit, als sie stattfanden, und stellte wie besessen immer wieder das verwundete und missbrauchte Kind dar. Die Leute haben meine Bilder als Schock empfunden. Es gab Tumulte, und Ausstellungen wurden abgebrochen. Ich war selber nicht sicher, ob ich normal bin. Heute kann man sehen, dass ich nicht so falsch lag.
Ihre Bilder wurden von der Polizei beschlagnahmt, von Unbekannten mit Messern zerschlitzt oder mit Stickern beklebt, auf denen »Entartete Kunst« stand.
Bei Ausstellungen schrien die Leute: »Das muss ein Geisteskranker gemalt haben!« Wenn mich Leute erkennen, kommt immer wieder die Frage: »Sind Sie als Kind missbraucht worden?« Man spürt die Hoffnung, dass ich Ja sage, weil sie dann eine rettende Erklärung hätten, die das Bild neutralisieren und erledigen würde. Das eigentliche Problem ist nicht das, was auf der Leinwand zu sehen ist, sondern es sind die Bilder in ihren eigenen Köpfen.
In Wien wurden Sie gerade mit einer großen Retrospektive geehrt. Am Eingang der Albertina hieß es auf einer Warntafel: »Wir empfehlen den Besuch auf Grund von expliziten Gewaltdarstellungen im Werk des Künstlers erst ab einem Alter von 16 Jahren.«
Es spricht für die Kunst, wenn man sie für gefährlich hält. Wenn man aber bedenkt, mit wie viel Gewalt und Horror Kinder und Jugendliche täglich durch die Massenmedien konfrontiert werden, ist es seltsam, dass man denkt, sie ausgerechnet vor der Kunst im Museum schützen zu müssen. Ich war gerade im Prado und habe mir die Besucher vor den Gemälden von Hieronymus Bosch angeschaut. Auf den Bildern sieht man Menschen, die von Monstern zerstückelt, aufgespießt und gefressen werden. Aber keiner der Betrachter reagiert darauf bedrückt. Im Gegenteil, die Menschen fühlen sich inspiriert und emporgehoben. Viele haben ein Lächeln im Gesicht. Kunst transzendiert den Schrecken. Durch sie verliert der Tod seine Macht.
1970 malten Sie ein Mädchen mit Maschinenpistole. Was dachten Sie, als Jahrzehnte später jugendliche Amokläufer an Schulen Massaker verübten?
Dass Kinder Massenmorde an Kindern begehen und anschließend selbst sterben wollen, hat es in der gesamten Geschichte der Menschheit noch niemals gegeben. Das ist ein sicheres Anzeichen für das Sterben einer Zivilisation. Von Amerika geht eine Kultur des Todes und des Tötens aus. In den Kriegen, die dieses Land seit 1945 geführt hat, starben knapp dreißig Millionen Menschen. Der Friedensnobelpreisträger im Weißen Haus führt eine Todesliste. Weit weg von Amerika werden Leben durch Drohnen ausgelöscht, tagtäglich, wie am Fließband. Tausende sind auf diese Weise getötet worden, darunter viele Kinder. Keiner kennt ihre Namen, und niemand weiß, was ihnen überhaupt vorgeworfen wird.
Wenn man Ihnen gegenübersitzt, wirken Sie mit Ihrer leisen, freundlichen Art wie ein Denkmal der Friedfertigkeit. Gibt es die Gewalt, die Sie malen, in Ihrem Kopf?
Nein. Vielleicht ist es ein Defekt, aber ich habe schon immer einen fast pathologischen Gerechtigkeitswahn in mir gehabt. All meine »evil intentions« richten sich gegen Leute, die anderen Schmerz zufügen.
Sie haben vier Kinder. Manche Eltern geben zu, dass sie bei eskalierenden Konflikten mit ihrem Nachwuchs für Bruchteile von Sekunden von Totschlagimpulsen durchzuckt werden.
Ich habe nie andere Gefühle als Bewunderung, Liebe und Respekt für meine Kinder empfunden. Ich bestaune Kinder als großes Wunder. Sie tragen mit ihrer Reinheit und Entrücktheit die Möglichkeit zu einem besseren Menschsein in sich. Es ist nur wichtig, sie vor den Indoktrinierungsmethoden der korrupten Erwachsenenwelt zu schützen.
Ihre Kinder sind zwischen 26 und 36 Jahre alt. Wie waren Sie als Erzieher?
Erziehung ist schon der falsche Ausdruck. Ich wollte niemanden irgendwo hinziehen. Zwang gab es bei mir nicht, weil ich mit den schwachsinnigen Regeln und Verboten der Erwachsenenwelt im Kriegszustand bin. Meine Kinder sind im Atelier aufgewachsen. Sie konnten abends aufbleiben, so lange sie wollten, und es war ihnen freigestellt, ob sie zur Schule gehen oder nicht. Sie durften auch in meine Bilder hineinmalen. Ich habe den Kindern einen Freiraum gegeben und gesagt: »Schaut euch um, findet heraus, wer ihr seid und was ihr wollt. Ich bin auf eurer Seite und gebe euch jede Unterstützung, aber vertraut nur eurer eigenen Wahrnehmung.« Die Kinder waren meine Rache an den repressiven Regeln der Gesellschaft.
Sie leben seit 1997 in einem traumschönen Fünfzig-Zimmer-Schloss aus dem 19. Jahrhundert in der irischen Grafschaft Tipperary. Zuvor wohnten Sie zwölf Jahre lang in einem zweitausend Quadratmeter großen Barockschloss in Burgbrohl in der Eifel. Wie erklären Sie Ihren Immobiliengeschmack?
Wenn man viele Kinder und Freunde hat und auch noch ein Atelier unterbringen muss, sind Schlösser äußerst praktisch. Es war immer meine Vision, in einer süditalienischen Großfamilie zu leben. Es ist wunderbar, wenn man einen Haufen Kinder um sich hat, noch dazu, wenn sie alle Künstler sind.
Ihr Sohn Ali Elvis Donald Dagobert Lancelot ist Musiker und hat als Komponist einen Emmy gewonnen. Ihre Tochter Mercedes ist Schriftstellerin, Filmemacherin und erfolgreiche Malerin. Was machen Ihre anderen Kinder?
Cyril ist Fotograf und mein Assistent. Amadeus ist Schriftsteller. Meine vier Enkelkinder sind auch alle Künstler.
Cyril hat eine Irokesenfrisur und ist am ganzen Körper tätowiert. Hat es Aufstände gegen den berühmten Vater gegeben?
Es gab niemals irgendeinen Streit oder Konflikt mit meinen Kindern. Rebellion ist ein notwendiger Akt gegen Repression. Aber wenn Eltern Verbündete sind und Förderer für alles, was man vorhat und wovon man träumt, gibt es keinen Grund zum Aufstand.
Der Preis für Ihre Bilder geht in die Millionen. Wie viele Helnweins gehören Ihnen?
Nicht viele. Ich habe immer versucht, meine eigene Sammlung zu haben, aber wenn irgendein Sammler insistiert, verkaufe ich doch. Der einzig sichere Weg, ein Bild zu behalten, ist, es meiner Frau zu schenken.
Wie viele Helnweins besitzt Ihre Frau?
Ich weiß es nicht genau, aber viele Sammler haben mehr.
Bilder von Ihnen gekauft haben Arnold Schwarzenegger, Sean Penn, Nicolas Cage, Ben Kingsley, Andrew Lloyd Webber, Lisa Marie Presley, Elton John und Michael Jackson.
Gut für sie. Ich finde das nicht relevant.
Stimmt es, dass viele Käufer Sie in Ihrem Schloss besuchen wollen?
Ja. Ich empfehle aber, Künstler nicht kennenlernen zu wollen. H.C. Artmann wurde in Österreich als Dichterfürst verehrt. Die Leute erwarteten daher ständig poetische Bonmots zum Mitschreiben und waren dann enttäuscht, wenn er darüber sprach, wo es die besten Schnitzel gibt.
Der Schriftsteller Arthur Koestler meinte: »Künstler zu mögen und ihnen dann zu begegnen ist wie Gänseleberpastete zu mögen und dann die Gans zu treffen.«
Das kann ich nicht nachvollziehen. Meine Gänse und meine Enten sind mir heilig. Ich würde lieber die Gänseleberpastete nicht kennenlernen wollen.
Gottfried Helnwein
Der Sohn einer Hausfrau und eines Wiener Postbeamten machte zunächst als Aktionskünstler von sich reden. 1966 zerschnitt er sich Gesicht und Hände mit Rasierklingen und Holzstichwerkzeugen. Zwei Jahre später ging er mit seinem Freund Manfred Deix zu Fuß von Venedig nach Wien, ohne zu essen und zu schlafen. Mit seinen hyperrealistischen Bildern von verwundeten Kindern wurde er zu einem der wichtigsten Maler seines Landes. 1982 erschien sein Selbstporträt auf dem Album »Blackout« der Scorpions. Der 65-jährige Vater von vier Kindern lebt die eine Hälfte des Jahres in seinem Schloss in Irland, die andere Hälfte in Los Angeles, laut Helnwein »die Versuchsstation für den Weltuntergang«.
Fotos: Ingo Pertramer