»Ich war in Gedanken immer woanders«

Seit fast 60 Jahren zeichnet der Franzose Sempé die Welt, wie sie ihm (und uns) lieber wäre. Ein Gespräch über kleine Weisheiten und große Begegnungen.

Foto: Reuters

Im Erdgeschoss seines Hauses am Boulevard Montparnasse in Paris ist eine Buchhandlung, wie passend. Ein beeindruckend eleganter Eingang mit einer Spiegelgalerie und in Glas gesetzten Jugendstilblüten. Der Art-déco-Fahrstuhl mit gläsernen Wänden ruckelt knarzend in den siebten Stock. Ein unverkennbares, auf das Türschild gekritzeltes schwarzes »S.« verrät, dass man beim Meister angekommen ist. Überall im lichtdurchfluteten Atelier von Sempé hängen und liegen Zeichnungen, Skizzen, Aquarelle.

SZ-Magazin: Ein wunderschönes Atelier! Mitten in Montparnasse und gleichzeitig über den Dächern. Sind Sie hier glücklich?
Jean-Jacques Sempé:
Im Grunde schon – nur leider sehe ich die Menschen von hier oben nicht. Das fehlt mir. Stört es Sie, wenn ich rauche? (Sempé zündet sich die erste von vielen Selbstgedrehten an. Kein Aschenbecher stört die Ästhetik des Raums. Sempé lässt die Asche achtlos auf den Boden fallen, das Fischgrätenparkett ist zum Glück an dieser Stelle mit einer dicken Auflage geschützt.)

Hier liegen viele neue Zeichnungen, Sie arbeiten immer noch sehr viel. Was treibt Sie an?
Es bewegt mich einfach, wenn jemand eine Zeichnung von mir möchte. Ich hätte nie geglaubt, dass eines Tages jemand meine Sachen kaufen wird, um sie bei sich zu Hause zu haben. Das haut mich um, auch nach all den Jahren noch.

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Sie haben allein unzählige Titelbilder für den New Yorker und Dutzende von Büchern gezeichnet, die in 30 Sprachen übersetzt sind, Sammler zahlen Tausende von Euros für ein Blatt, und Sie können immer noch nicht glauben, dass man Ihre Zeichnungen liebt?
Ich bin höchstens ein-, zweimal im Jahr mit einer Zeichnung zufrieden. Ich sehe in meinen Bildern immer nur die Mängel. Je älter ich werde, desto mehr empfinde ich meinen Erfolg als Wunder. Überhaupt, das Alter, eine elende Sache.

Bei allem Respekt, Sie kokettieren! Beginnen Sie immer noch jeden Tag vor einem weißen Blatt Papier?
Aber ja! Und dann suche ich.

Suchen Sie auf den Straßen, in den Cafés?
Nein, ich bin kein Beobachter. Ich beobachte nicht mit den Augen.

Sondern?
Ich sehe natürlich, dass es Autos auf den Straßen gibt. Aber Sie finden nie eine lustige Zeichnung im Leben. Man muss sie immer erfinden. Manchmal ist es Folter. Man scheitert, scheitert, scheitert, setzt neu an, neu an, neu an … Die Arbeit macht mir nur selten Spaß. Es ist zum Verzweifeln.

An der Wand hier hängen viele Zeichnungen von berühmten Kollegen – Bosc, Chaval, Saul Steinberg … Ihre Freunde Chaval und Bosc haben sich beide das Leben genommen. Gehören die Melancholie und der tiefgründige Blick auf die Welt zwingend zusammen?
Wenn man Freunde verloren hat, wird man notwendigerweise melancholisch. Man ist melancholisch, weil die Zeit so schnell vergeht, weil die Dinge so kompliziert sind. Man kann gar nicht nicht melancholisch sein, ich kann es mir jedenfalls nicht vorstellen.

Sie zeichnen die Menschen seit mehr als 50 Jahren. Was haben Sie dabei über die Menschen gelernt?
Nicht beim Zeichnen lerne ich über die Menschen, sondern indem ich sie anschaue, wenn sie auf der Straße an mir vorbeigehen, oder indem ich über das Leben nachdenke.

Sie beobachten also doch.
Ich spüre die Atmosphäre und stelle mir Szenen vor. Mensch zu sein braucht enorm viel Tapferkeit. Es ist schwer. Auf der Straße sieht man Menschen, die griesgrämig schauen, ein Mann in einer zu engen Jacke, vielleicht Mitarbeiter einer Versicherung, es ist heiß, er wirkt müde, aber er muss immer weitergehen, immer weiter. So etwas berührt mich sehr.

Wie viel Sempé steckt in Ihren Figuren – den kettenrauchenden Musikern, den verschrobenen Parisern oder dem kleinen Nick?
Sie kennen den kleinen Nick?

Den kennt doch jeder. Die Bände haben sich fast acht Millionen Mal verkauft!
Der kleine Nick ist das Ergebnis eines Traums. Im Kleinen Nick balgen sich die Kinder, aber sie tun sich nicht weh. Ich habe mich oft geprügelt und kann Ihnen sagen: Das tut sehr weh! Ich habe eine Traum-Kindheit gezeichnet, die nicht existiert hat.

Sie haben keine schönen Erinnerungen an Ihre Kindheit?
Meine Kindheit war sogar traurig, geradezu tragisch. Ich bin als Sohn eines katholischen Lebensmittelhändlers in Bordeaux aufgewachsen und wegen Ungezogenheit von der Schule geflogen. Weil ich ein trauriger Junge war, habe ich meine Zeit damit verbracht, an anderes zu denken, mich wegzuträumen. Der kleine Nick dagegen hat eine eher glückliche Kindheit, und ich habe sie so gezeichnet, damit man denkt, ich hätte auch so eine gehabt. Ich habe geträumt, um gegen die Wirklichkeit zu kämpfen.

Hat das funktioniert?
Das wurde mir zur zweiten Natur. Ich war in Gedanken immer woanders. Das hat sich bis heute kaum geändert.

Welche Eigenschaften von sich haben Sie dem kleinen Nick geliehen?
Die Naivität hat er von mir.

Sie halten sich für naiv?
Ja. Die Leute sind oft erstaunt, weil ich so direkt bin. Das ist eine Form von Naivität: zu glauben, man könne so direkt sprechen.

Wie ist die Serie damals entstanden?
Ich hatte eine lustige Zeichnung mit einem kleinen Jungen für eine belgische Zeitschrift gemacht. Der Chefredakteur sagte, ich müsse dem Jungen einen Namen geben. Kurz vor meiner nächsten Verabredung mit dem Chefredakteur fuhr ein Bus an mir vorbei, auf dem Werbung für einen Wein namens Nicolas zu sehen war – und, zack!, hatte ich einen Namen für den Kleinen.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Asterix-Autor René Goscinny, der dann die Geschichten schrieb?
Es fällt mir heute bei vielem schwer, mich genau zu erinnern, aber das weiß ich noch sehr gut. Ich habe eine Zeichnung bei einer Presseagentur in Paris abgeliefert. René Goscinny war auch dort, er war gerade aus Amerika zurückgekommen, und ich war sehr beeindruckt: ein Mann, der Englisch sprach und Amerika kannte! Ich war 23, er war 29. Am gleichen Abend haben wir zusammen gegessen, ich habe ihm erzählt, der Chefredakteur der Zeitschrift will einen Comicstrip. Das ist aber nicht mein Ding, diese kleinen Rechtecke. Ich brauche Platz! Eines Tages habe ich zu ihm gesagt: Hör zu, du schreibst die Geschichten, und ich mache die Zeichnungen dazu. Das war die Geburt des Kleinen Nick.

Sempé
Leonard Bernstein hat ihn ein »Genie der Komik« genannt. Der französische Zeichner Jean-Jacques Sempé, 77, dessen Werke die Bayerische Staatsbibliothek vom 10. Juli an ausstellt, wird von vielen als lebende Legende verehrt. Er ist der Vater des »kleinen Nick«, von »Monsieur Lambert« oder »Herrn Sommer«, zudem einer der bekanntesten Karikaturisten der Gegenwart. Vor zwei Jahren erlitt Sempé nach einem Skiunfall eine Gehirnblutung und lag monatelang im Koma. Er musste danach das Gehen, Sprechen und Zeichnen wieder neu erlernen; heute noch führt die agilere linke Hand den fast steifen rechten Zeigefinger beim Zeichnen. Die reservierte Art Sempés gegenüber Journalis­ten ist berüchtigt; in deutscher Sprache gibt es kaum gedruckte Interviews mit ihm. Für unsere Autorin hat er eine Ausnahme gemacht.

Stimmt es, dass Sie zum Zeichnen eher auf Umwegen gekommen sind?
Erst wollte ich Jazzmusiker, Barpianist oder Profifußballer werden. Ich bin mit 18 Jahren nach Paris gegangen und habe mich so durchgeschlagen: als Aufpasser in einer Feriensiedlung, als Weinauslieferer mit dem Fahrrad, als Bürojunge, sogar bei der Armee, aber ich habe überall versagt. Nur weil ich keinen vernünftigen Job gefunden habe, habe ich mich aufs Zeichnen verlegt. Es war einfacher, ein Blatt Papier zu finden als eine Lokomotive oder ein Klavier.

Sie haben sich für eine Arbeit entschieden, bei der Sie meistens in Ihrem Atelier sind. Wären Sie manchmal gern mehr rumgekommen?
Nein, nein, nein. Ich kenne mich mit dem Reisen nicht aus. Ich suche ständig meine Tickets, die Adressen …Wenn ich reise, bin ich total verloren. Ich muss eine merkwürdige Visage haben, denn wenn ich in New York bin, sprechen mich immer Leute an und fragen nach dem Weg. Dabei spreche ich kein Englisch! Das ist der Horror für mich. Ich sehe, dass sich mir jemand nähert, der spricht mich auf Englisch an, und ich sterbe vor Angst.

Eines Ihrer Geheimnisse ist, wie Sie es geschafft haben, auf all den Magazintiteln die New Yorker mit ihren Eigenheiten so akkurat zu porträtieren, obwohl Sie im ganzen Leben nur ein paar Wochen dort waren.
Ich habe ein Buch über die Franzosen gemacht, Monsieur Lambert. Der Chef des New Yorker hat gesagt: Sie müssen das für uns machen, aber über die Amerikaner. Ich habe ihn angefleht, das sein zu lassen. Aber dem Chef des New Yorker schlägt man nichts ab.

William Shawn, der Chef, war als exzentrischer, harter Knochen bekannt.
Sehr hart, aber das gefällt mir. In der Arbeit mag ich die Sachen gern akkurat, tak, tak. Einmal hat er von mir sage und schreibe fünfzig Mal verlangt, dass ich einen Arm korrigiere. Aber das Ergebnis war dann eine gute Zeichnung.

Aber jetzt noch mal die Frage: Wie porträtiert man Menschen, die man nur sehr kurz erlebt und gesehen hat?
Ich hatte Freunde in New York, die Französisch sprachen. Die haben mir Geschichten erzählt. Es hat mich amüsiert, mir über diese Freunde Sachen auszudenken. Ich hoffe, dass man das nicht als Schadenfreude missversteht. Wissen Sie, die meisten von ihnen sind heute nicht mehr am Leben.

Sie selbst lagen vor einiger Zeit nach einem Skiunfall mit einer Gehirnblutung monatelang im Koma. Mussten Sie vieles neu lernen?
Ja, Gehen zum Beispiel. Ich hätte nie geglaubt, dass Gehen eine so komplizierte Angelegenheit ist.

Mussten Sie auch das Zeichnen neu lernen?
Es ist ein Prozess, der immer noch andauert. Ich lerne jeden Tag dazu.

Haben Sie denn gleich wieder angefangen zu zeichnen?
Aber ja, jeden Tag! Nur heute nicht, weil Sie da sind.

Sie arbeiten nur mit einer bestimmten Füllfeder, der Atome 423. Die wird aber nicht mehr hergestellt. Müssen wir uns Sorgen machen, oder haben Sie noch genügend Vorrat?
Ich habe noch einen kleinen Vorrat. Ich passe aber sehr auf, dass er nicht so schnell zur Neige geht.

Spielen Sie noch Klavier?
Nein. Ich habe ohnehin immer nur gestümpert. Ich habe Musik immer geliebt, aber ich kann ja nicht einmal Noten lesen.

Aber die Musik inspiriert Sie?
Mehr noch – ich brauche sie.

Einer Ihrer großen Helden war der Jazzmusiker Count Basie. Den haben Sie sogar mal persönlich kennengelernt.
Ja, ich habe damals ein Buch über Saint-Tropez gemacht. Eines Tages bin ich dort am Hafen spazieren gegangen, und eine junge, blonde Frau kommt mit meinem Buch auf mich zu und bittet mich: »Könnten Sie es bitte für meinen Onkel signieren?« – Klar, wie heißt er? – »William.« – Was macht er? – »Er ist Chef eines Orchesters.« Ich dachte, aha, ein Brite, also habe ich einen noblen Engländer gezeichnet, einen Orchesterchef mit blonden Haaren. Am Abend besuchte ich ein Konzert von Count Basie. Plötzlich höre ich einen Aufschrei: »Ah, da sind Sie!« Die blonde Frau stürmt auf mich zu und sagt: »Ich bringe Sie zu meinem Onkel.« Count Basie hatte mein Album in der Tasche. Und ich hatte einen blonden, weißen Orchesterchef gezeichnet! Wie hätte ich wissen sollen, dass Count Basie eine blonde Nichte hat? Also habe ich ihn gebeten, mir das Buch wiederzugeben, und ich habe den Orchesterchef geschwärzt. Count Basie hat wie verrückt gelacht und gesagt: »Noch eine Zeichnung, noch eine!«

Sind Sie Freunde geworden?
Leider nein, aber an diese Begegnung denke ich sehr oft. Ich denke jeden Tag an all die Menschen, die verschwunden sind. Man könnte meinen, das bräuchte sehr viel Zeit, an all die Menschen zu denken, die nicht mehr da sind. Aber das ist nicht wahr. Diese Gedanken kosten ja keine Zeit.

Wir bedanken uns beim Diogenes-Verlag und der Galerie Bartsch & Chariau für die freundliche Unterstützung.