Der Frankfurter Rechtsanwalt Edgar Liebrucks zählt zu den erfolgreichsten Strafverteidigern der Bundesrepublik. Zu seinen Mandanten gehören allerdings auch viele Führungskräfte der Unterwelt; er ist »Mafias Liebling«. Der Sohn eines Philosophieprofessors und einer Bildhauerin gilt überdies als Freund der schönen Künste. Deshalb übernahm er bei einem geheimnisvollen Handel zwischen Mafiosi und Museen die Rolle des Mittelsmanns. Die Geschichte beginnt im Sommer 1994. In den späten Abendstunden des 28. Juli werden aus der Frankfurter Kunsthalle Schirn drei weltberühmte Gemälde geraubt, Prunkstücke der Ausstellung »Goethe und die Kunst«: »Schatten und Dunkelheit« sowie »Licht und Farbe« des britischen Malers William Turner, Leihgaben der Londoner Tate Gallery, und »Nebelschwaden« des Romantikers Caspar David Friedrich aus dem Besitz der Hamburger Kunsthalle. Die drei Gemälde sind zwar mit insgesamt fast 40 Millionen Euro versichert, doch der Verlust lässt sich nicht mit Geld aufwiegen. Die Frankfurter Polizei steht unter großem Erfolgszwang. Zwei der Kunsträuber werden schnell überführt, doch an dem Coup müssen mindestens ein halbes Dutzend Personen beteiligt gewesen sein. Es gibt viele Verdächtige, doch nur einer hat das Format zum Drahtzieher: Stevo V., »der alte Stefan«, wie er im Milieu genannt wird. Die Polizei hält ihn für ein hochrangiges Mitglied der Jugo-Mafia, die damals in Frankfurt das Rotlichtgewerbe beherrscht. Schon bald sind die Ermittler überzeugt: Stevo war der »Planer und Anstifter« des Kunstraubs. Der 39-jährige Jugoslawe hat auch schon einen potenziellen Kunden: Carlos F., eine Unterwelt-Größe im spanischen Marbella, bietet drei Millionen Mark für die Bilder und schickt einen Unterhändler nach Frankfurt. Doch das ist dem »alten Stefan« offenbar zu wenig, immerhin hat die Bild-Zeitung den Wert der drei Meisterwerke gerade erst auf 300 Millionen Mark beziffert. Der Deal scheitert. Kein Problem. Stevo hat keine Eile, er beschließt, erst einmal Gras über die Sache wachsen zu lassen. Aber wo soll er die Bilder bunkern? Beim Josef vielleicht? Josef Stohl, gebürtiger Wiener, betreibt in einem Hinterhof in der Waldschmidtstraße, ganz in der Nähe des Frankfurter Zoos, eine Autowerkstatt, in der sich Frankfurter Ganoven ihre Schlitten aufmotzen lassen. Irgendwann bringt einer von Stevos Leuten die drei Gemälde vorbei. »Der Jugo« habe ihn gefragt, »kannst die amal a bisserl hinter die Reifen stellen?«, wird sich später einer von Josef Stohls Freunden erinnern, der die Bilder mit eigenen Augen in einer der Garagen sah, in Decken gehüllt. Ölgemälde neben Ölkännchen, für Stohl gehört das zum Kundendienst, Fragen stellt er nicht. Nach einem vertraulichen Treffen eines ihrer Ermittlungsbeamten mit Carlos F. in Marbella geht die Frankfurter Polizei im Februar 1995 davon aus, dass Stevo V. »als Hauptorganisator des Kunstraubes anzusehen« sei. Deshalb versucht das Bundeskriminalamt in Wiesbaden wenig später einen verdeckten Ermittler an den »alten Stefan« heranzuführen. Es kommt zu Verhandlungen mit einem von Stevos Vertrauten. Die Jugo-Mafia verlangt zehn Millionen Dollar für die drei Bilder. Nach mehreren konspirativen Treffen scheitert der Deal in letzter Minute, weil der Unterhändler plötzlich 2,5 Millionen Mark vorab verlangt, das BKA aber nur eine Million anzahlen will. Stunden später wird Stevo vor seiner Stammkneipe »Zum blauen Wasser« festgenommen, doch schon am nächsten Tag ist er wieder frei; Edgar Liebrucks, der Anwalt mit dem exzellenten Ruf in der Jugo-Mafia, hat sich des Falls angenommen. Ende 1996, mehr als zwei Jahre nach dem Kunstraub, gibt die Staatsanwaltschaft endgültig auf. Das Ermittlungsverfahren gegen Stevo muss eingestellt werden, weil »ein Tatnachweis nicht mit der für eine Anklage notwendigen Sicherheit geführt werden« könne. Jahrelang passiert nichts. Dann fällt Ende 1998, mehr als vier Jahre nach dem Kunstraub, in der Direktion der Londoner Tate Gallery eine folgenreiche Entscheidung: Das renommierte Museum kauft für acht Millionen Pfund das Eigentum an den beiden Meisterwerken William Turners von der Versicherung Hiscox zurück; Jahre zuvor war es mit der Auszahlung der Versicherungssumme von 24 Millionen Pfund an Hiscox übergegangen. Sollten die Bilder jemals wieder auftauchen, gehören sie dem Museum – und die verbliebenen 16 Millionen, plus Zinsen, dazu. Viel entscheidender jedoch: Die Tate Gallery erwirbt Handlungsfreiheit für einen der fragwürdigsten Deals der Kunstgeschichte: den heimlichen Rückkauf der Gemälde von der Frankfurter Jugo-Mafia. 16 Millionen Pfund, fast 50 Millionen Mark, stehen nun dafür zur Verfügung. Sir Nicholas Serota, Direktor der Tate Gallery, lässt sich das delikate Geschäft von seinem Verwaltungsrat und dem High Court Ihrer Majestät sanktionieren. Deren Fazit: Die beiden Turner-Spätwerke hätten einen so unschätzbaren Wert für das Kulturerbe des Vereinigten Königreichs, dass auch unkonventionelle Methoden der Wiederbeschaffung gerechtfertigt seien. Scotland Yard soll das streng geheime Geschäft überwachen. Deckname der Operation: »Kobalt«.
Die britische Polizei stellt einen ihrer besten Männer für den Job ab: Detective Sergeant Jurek (»Rocky«) Rokoszynski, gebürtiger Pole, langjähriger Undercover-Agent. Wochenlang klappert Rocky Informanten in Deutschland ab. Einer gibt den entscheidenden Tipp: Einzig Edgar Liebrucks, der Anwalt mit dem »sehr, sehr guten Ruf in der Unterwelt«, wie Rocky später sagt, verfüge über die erforderlichen Kontakte. Edgar Liebrucks ist interessiert an dem Fall, sieht aber das Risiko, als Mittelsmann zum Hehler zu werden. Er könne nur dann bei der Wiederbeschaffung der Bilder helfen, wenn ihm die Staatsanwaltschaft gewissermaßen freie Hand lasse: keine Ermittlungen während »Operation Kobalt«, keine Informationen an die Frankfurter Polizei oder das Bundeskriminalamt und ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht. Tatsächlich geht die Behörde schnell auf Liebrucks’ Forderungen ein, natürlich nicht schriftlich. Ende 1999 beginnt Edgar Liebrucks im offiziellen Auftrag der Tate Gallery mit der Jugo-Mafia über einen Rückkauf zu verhandeln. Einige der konspirativen Treffen finden um Mitternacht auf einsamen Waldlichtungen statt – Stevos Leute fürchten offenbar eine Falle. Sie verlangen zehn Millionen Mark: fünf Millionen für den ersten Turner, fünf Millionen für den zweiten, nicht verhandelbar; von den »Nebelschwaden« ist zunächst nicht die Rede. Und der »alte Stefan« will eine Sofortzahlung von einer Million Mark für Polaroids der Gemälde. Darauf lässt sich die Tate ein. Doch dann verlangt Stevo noch eine zweite Million, als Vertrauensbeweis des Käufers gegenüber dem Verkäufer. Das lehnt die Tate kategorisch ab. Um das Geschäft nicht scheitern zu lassen, beschließt Liebrucks, die Summe vorzustrecken. Er leiht sich das Geld in der Schweiz und bringt es im Aktenkoffer über die Grenze. Das alles sei von der Frankfurter Staatsanwaltschaft abgesegnet worden, versichert er, »denn sonst wäre das ja Geldwäsche gewesen«. Später wird die Behörde das dementieren. Der Deal klappt. Die restlichen drei Millionen Mark übergibt Liebrucks auf einer Parkbank in Bad Homburg – und im Juli 2000 ist Turners Meisterwerk »Schatten und Dunkelheit« zurück in London. Der Kurator der Tate attestiert dem Bild einen erstklassigen Zustand. Bei Scotland Yard werden jedoch Fragen gestellt: Warum hat der Anwalt Geld aus eigener Tasche vorgeschossen? War das kein Risiko? »Hängt alles davon ab, wie gut er die Leute kannte«, sagt Rocky. Liebrucks selbst schweigt dazu, das sei nicht nur eine Frage der Berufsehre – sondern auch des Selbstschutzes, denn mit »den Leuten ist nicht zu spaßen«. Bald nach dem Rückkauf des ersten Gemäldes gehen bei der Frankfurter Polizei Hinweise eines V-Mannes ein, Stevo habe vorläufig kein Interesse an dem Verkauf der anderen Bilder. Das wäre eine Erklärung, warum die weiteren Verhandlungen ins Stocken geraten. Inzwischen hat sich Scotland Yard vollständig aus der »Operation Kobalt« zurückgezogen, der geheime Handel der Tate Gallery mit der Jugo-Mafia, noch dazu an der deutschen Polizei vorbei, ist den Briten zu heiß geworden. Der pensionierte Superintendent von Scotland Yard, Michael (»Mick«) Lawrence, soll Rocky unterstützen. Beide werden fortan nur noch im Auftrag des Museums tätig. Insgesamt sechsmal reisen Rocky und Mick im Jahre 2001 aus London an – und nach Tagen frustriert wieder ab. Was steckt dahinter? Es kommt zu heftigen Wortgefechten mit Edgar Liebrucks, Lawrence gewinnt den Eindruck, »dass der Anwalt inzwischen mehr auf der Seite der Kriminellen steht als auf der Seite der Tate«. Im Herbst 2002, mehr als zwei Jahre nach der Rückkehr des ersten Turner, nimmt die Geschichte eine erstaunliche Wendung. Unvermittelt tauchen zwei Männer in Liebrucks’ Kanzlei auf: Josef Stohl und dessen Freund Hartmut Klatt. Sie behaupten, die Bilder seien jetzt in ihren Händen. Liebrucks ist irritiert; immerhin hat er seinen »richtigen« Klienten Monate zuvor zwei Millionen Mark angezahlt, um Bewegung in die Sache zu bringen, wieder auf eigenes Risiko, wieder aus der Schweiz besorgt. Kann er das Geld in den Wind schreiben? Liebrucks ahnt nicht, dass Josef Stohl seit Jahren »die Bilder vom Jugo« hütet. Als Gebrauchtwagenhändler hat er sich mühsam über Wasser gehalten, neuerdings versucht er sich als Wirt. Sein Kumpel Hartmut verkauft für das Autohaus Starmotors in Erlensee Cadillacs, Chevrolets und Corvettes. Beide sind fast sechzig Jahre alt. Letzte Gelegenheit vielleicht für einen Neuanfang. Ein großes Ding, das wär’s! Dass der Anwalt im Auftrag des englischen Museums einen hohen Betrag für das erste Gemälde gezahlt hat, ist beiden nicht verborgen geblieben. Im Dezember 2002 geht dann alles sehr schnell: Liebrucks wird von den beiden Hehlern in eine Waldhütte bei Offenbach geführt, wo er Turners »Licht und Farbe« und die »Nebelschwaden« in Augenschein nehmen darf. »Die beiden waren ungeheuer naiv«, erinnert er sich. Zwei Millionen Euro in nicht präparierten Scheinen fordern Stohl und Klatt – und keine faulen Tricks. Der Anwalt ist verunsichert. Sind die beiden nur vorgeschoben worden? Aber warum schicken die Jugos ihm solche Amateure? Kurz vor Weihnachten 2002 wird der zweite Turner von Stohl und Klatt übergeben und im Frankfurter »Arabella«-Hotel von einem Experten der Tate Gallery identifiziert. Sofort danach holen Liebrucks und Rocky das Lösegeld von der Deutschen Bank; die Scheine sind weder registriert noch präpariert worden. Stunden später erhalten die beiden Hehler von Liebrucks in einer Pension in Erlensee zwei Millionen Euro ausgehändigt, die sie an Ort und Stelle teilen. Danach treffen sie Vorbereitungen für ihren Abflug nach Kuba.
Liebrucks’ erfolgreiche Mission für die Tate spricht sich schnell in der Kunstszene herum. Im Januar 2003 wird der Anwalt von der Hamburger Kunsthalle beauftragt, auch die »Nebelschwaden« zu beschaffen. Kurz danach kommt Klatt nach sechs Wochen Urlaub aus Kuba zurück. Seinen Job als Verkaufsleiter von Starmotors kündigt er, den Kollegen erzählt er etwas von einer kleinen Erbschaft und dass er auswandern wolle. Doch vorher muss noch »der kleine Friedrich« verscherbelt werden. Auch Josef Stohl kehrt kurz aus Havanna zurück. Die beiden Hehler stehen unter Druck, die Jugo-Mafia sitzt ihnen im Nacken. Haben sie deren Anteil am Lösegeld unterschlagen? Oder gänzlich auf eigene Rechnung gearbeitet? Stohl und Klatt wollen weg, lieber heute als morgen. Der Preis für die »Nebelschwaden« sinkt, von anfangs 1,5 Millionen Euro auf zuletzt 250000 Euro. Nachdem ihm die Hamburger Kunsthalle zugesagt hat, ein Kunstmäzen wolle die Summe zur Verfügung stellen, geht Edgar Liebrucks erneut mit eigenem Geld in Vorleistung. Er übernimmt das Gemälde von Stohl und Klatt, wickelt es vorsichtig in Handtücher ein und versteckt es bei sich zu Hause im Klavier. Wenig später machen sich die beiden Kleinganoven aus Erlensee endgültig aus dem Staub. Der Schock für Liebrucks kommt ein paar Tage später, als ihm die Direktion der Hamburger Kunsthalle per Fax mitteilt, der Mäzen habe seine Zusage zurückgezogen und der Etat gebe keine 250000 Euro her. Der Rechtsanwalt fühlt sich betrogen. Er will die Nebelschwaden schleunigst loswerden, fragt bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft an, ob sie das Bild auf Spuren untersuchen lassen wolle. Doch die Behörde winkt ab, sie will nicht mehr an die Geschichte rühren. So gibt Liebrucks die »Nebelschwaden« am 26. August 2003 dem überraschten Verwaltungsdirektor der Frankfurter Schirn zurück, jenes Museums, aus dem das Gemälde neun Jahre zuvor verschwand. Die beiden Hehler, die tatsächlich das größte Ding ihres Lebens gedreht haben, leben heute in Brasilien. Josef Stohl soll in Campo Grande eine Zwanzigjährige geheiratet haben, um einer möglichen Auslieferung zu entgehen. Er fürchte sich allerdings weniger vor der deutschen Staatsanwaltschaft als vor dem langen Arm der Jugo-Mafia, erzählen Freunde. Von Hartmut Klatt scheint es überhaupt kein Lebenszeichen zu geben. Abgetaucht ist auch die Frankfurter Staatsanwaltschaft. Nachdem sie jahrelang alle Ermittlungen ruhen ließ, hat sie auch nach der Rückgabe der drei Kunstwerke keinerlei Versuche unternommen, den Fall zu lösen. Die Hehler, die Helfer, die Verstecke sind ihr bis heute unbekannt. Stevo V. wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Es ist nicht bekannt, ob er überhaupt noch in Frankfurt lebt, er wurde auch schon in Spanien gesichtet. Und Edgar Liebrucks? Was trieb ihn an? Die Liebe zur Kunst? »Mir war der Gedanke unerträglich, dass die Bilder nie wieder auftauchen«, bestätigt er, »aber es war auch mein Ehrgeiz, das juristisch optimal zu machen, ohne dass einer der Hinterleute verhaftet wird.« Und so trug er dazu bei, dass der Schirn-Raub ein perfektes Verbrechen wurde, bei dem nicht nur die Täter profitierten, sondern auch das Opfer, die Tate Gallery: Die beiden Bilder hängen wieder im berühmten Turner-Flügel des Museums – und nach Abzug sämtlicher Lösegelder blieben von der Versicherungssumme noch rund 20 Millionen Euro übrig. Damit wurde offenbar ein Finanzierungsloch beim Umbau der Tate Modern gestopft, des Ablegers für moderne Kunst. Am Ende könnte Edgar Liebrucks der einzige Verlierer sein. Gewiss, er hat seine Anzahlung von zwei Millionen von der Jugo-Mafia zurückbekommen. Ehrensache. Und er stellte der Tate Gallery zweimal eine saftige Gebührenrechnung, insgesamt 753246 Mark inklusive Mehrwertsteuer. Das Angebot des Londoner Museums, »eine Million Euro für eine Aussage über die Hintermänner«, empfand er als »unsittlich« und lehnte ab. Die Hamburger Kunsthalle allerdings weigert sich bis heute, die von Liebrucks vorgestreckten 250000 Euro Lösegeld zu erstatten. Am 25. November werden sich beide Seiten deshalb vor dem Landgericht der Hansestadt gegenüberstehen.