Wie jeder Altbau verfügt auch unsere Wohnung bauseitig über ein paar bedauerliche Liebenswürdigkeiten. Ungünstig platzierte Wandvorsprünge und rätselhafte Rohrleitungen, Böden, die teilweise so schief sind, dass man der verschütteten Milch hinterherlaufen muss, oder daumenbreit Luft unter den Türkanten, wodurch im Winter interessante Klimazonen entstehen. Außerdem haben wir ein Kämmerchen, dessen Tür vom Flur rechts abgeht. Es wirkt nicht so, als hätte sich der Architekt vor hundert Jahren diesen kleinen Raum aktiv ausgedacht, sondern als wäre er aus Verlegenheit entstanden, ähnlich wie beim Tetris, wenn mal zwischen zwei nicht ganz perfekt gelegten Klötzen ein Quadrat offen bleibt. Dieses quadratische Kämmerchen, das etwa den Rauminhalt einer großzügigen Telefonzelle aufweist, hat in den vergangenen 15 Jahren eine ganze Reihe von Aufgaben gehabt. Anfänglich wurde es als Vorratskammer deklariert, was romantisch klang, sich aber als nicht ganz praxistauglich erwies. Alles, was wir in dieser Vorratskammer lagerten, mehrheitlich selbst gemachte Marmeladen, Sirups und geschenkte Weinflaschen (»halbtrocken«), verschwand für immer in der Kammer. Denn wir stellten gern Sachen hinein, holten aber nahezu nie wieder etwas heraus, und wenn, dann nur, um es vorsorglich zu entsorgen. Und die Küche war eigentlich groß genug, das ist ja noch so ein Altbau-Segen, sodass man für ein Glas Marmelade nicht extra durch die ganze Wohnung stiefeln wollte. Deshalb wurde aus der Vorrats- irgendwann eine Haushaltskammer. Zu klein, um darin zu bügeln, aber immerhin gab es Stauraum für Staubsauger, Putzeimer und all die Sachen, von denen man irgendwann denkt, sie würden das mit der Sauberkeit ein bisschen leichter machen, zum Beispiel Staubwedel aus Pfauenfedern. Mit dieser vagen Zuschreibung wurde der kleine Raum recht schnell zu dem, was gemeinhin als Rumpelkammer bezeichnet wird – ein Abwurfplatz für alles, was nicht im Weg stehen sollte, eine erlaubte Unordnung, verborgen hinter der Tür. Und wenn man in dem Verhau etwas suchte, eine Fahrradpumpe, eine Trittleiter, ein Verlängerungskabel, dann rumpelte es ungefähr zehn Minuten in der Kammer.
Moderne Architektur sieht oft keine derartigen Räumchen mehr vor. Platz ist knapp und teuer, Wohnräume werden maximiert, statt eines Kellers gibt es eine Tiefgarage, jeder Fitzel vom Dachstuhl wird ausgebaut und vermietet, überflüssige Mauern werden eingerissen zugunsten offener Grundrisse und loftartigem Lebensgefühl. Kleinsträume, wenn sie denn auftauchen, müssen mindestens eine Gästetoilette sein. Küchen müssen in Wohnräume übergehen, Böden in Fenster, alles muss luft- und lichtdurchflutet sein. Man könnte auch sagen: Moderne Wohnungen haben keinen Platz mehr für kleine Geheimnisse. Undefinierte Ecken verschwinden, und das Kämmerchen hat in diesem Umfeld natürlich keine starke Lobby, obwohl die Architekten doch, pardon, selbst in einer Architektenkammer organisiert sind. Aber vielleicht gelten Kämmerchen heute nur noch als kunstlose Verlegenheitslösung für überschüssigen Raum, als bauliche Blinddärme, die entfernt gehören. Wer so denkt, tut der Kammer aber unrecht. Denn gerade das, was uns an alten Häusern so behaglich umfängt – etwa wenn man ein englisches Landhaus besucht oder auch nur das feine Haus, das sich Hermann Hesse in seiner kurzen bürgerlichen Phase am Bodensee gebaut hat –, ist doch diese gewisse Unübersichtlichkeit. Das Heimelige, Gemütliche lauert nämlich nicht in den möglichst freien Loftgrundrissen und bodentiefen Fenstern, sondern im Verwinkelten, in der Möglichkeit, Türen zu schließen, Plätzchen zu finden und vor allem darin, dass man in einem Haus oder einer Wohnung eben nicht gleich mit einem Blick erfassen kann, wo alles ist. Ein Kämmerchen ist der schönste Nebeneffekt von verwinkelter Architektur. Unter der Treppe, zwischen zwei richtigen Zimmern, am Ende eines Ganges, wo man gar nichts erwartet, tut sich plötzlich noch etwas auf – eine kleine Tür, eine Abseite, eine Zugabe. Damit ein Haus seelenvoll wirkt, muss irgendwo eben auch Platz für die Seele sein. Die liegt ja nicht mittig im Wohnzimmer auf der Obstschale.
Man braucht Orte, an denen man kurz etwas lang verschwinden lassen kann.
Klar, die Begriffe Abstell- oder Besenkammer markieren schon im Namen ein altmodisches Wesen, so ein Oma-Wort schreibt sich heute niemand mehr in seinen Bauplan. Und wer nutzt zu Hause überhaupt noch einen richtigen Besen? Werden doch längst überall Staubsaugerroboter in den Dienst gestellt, die frei zugänglich parken müssen und für die der möglichst offene Grundriss ihres Arbeitsgebiets wichtig ist. Am glücklichsten wäre ein Staubsaugerroboter ja, wenn er eine Turnhalle saugen könnte. Wohnende Menschen sind aber keine Roboter. Sie häufen ständig Dinge an, an denen sie dann aus sentimentalen Gründen hängen. Sie haben saisonale Vorlieben und Hobbys und brauchen ständig Orte, an denen sie kurz etwas lang verschwinden lassen können. Geschenke zum Beispiel, die nicht gleich alle sehen sollen. Oder solche, die man selbst nicht sehen will. Der Wohnalltag kennt tausend praktische Anwendungsmöglichkeiten für eine Kammer, sie wird zur Zeitkapsel, zum Kofferraum des Lebens. Es ist also nicht ganz einzusehen, dass derartiger Stauraum in den neuen Wohnungen und Häusern immer weniger wird. Und es ist schon fast tragisch, dass die Besenkammer nur einmal Schlagzeilen machte, als Boris Becker sie für etwas genutzt hatte, auf das die wenigsten Menschen bei ihrem Anblick kämen.
Die Kämmerchenkultur der alten Häuser gehört auch zu einer alten Häuslichkeit, die heute nicht mehr vorgesehen ist und deren Utensilien langsam in Vergessenheit geraten. Speisekammer, Bügelzimmer, Hauswirtschaftsraum – all diese Vorgänge wurden ja in den vergangenen Jahrzehnten outgesourct oder, wie im Fall des Staubsaugerroboters mit Wischfunktion, auf das kleinstmögliche Maß runterkonstruiert. In Omas Haus hingegen, zumindest kommt es einem so vor, waren noch mehrere Kämmerchen notwendig, um einen reibungslosen Ablauf des Haushalts zu gewährleisten. Und mit Kinderaugen betrachtet, waren das damals nicht nur Abstell-, Speise und Besenkammern, sondern auch Schatzkammern. Geheimnisvolle Kleinstorte, die sich deutlich vom Rest des Hauses unterschieden, nicht nur weil darin lediglich ein paar roh gezimmerte Holzregale standen. Sondern auch weil es anders roch, nach Bügelwasser und dem angesetzten Rumtopf, nach Essigessenz und altem Pelzmantel. Oder weil das Licht von einer schnöden Glühbirne an der Decke kam. Es waren Funktionsräume für die Erwachsenen, aber Spielräume, Versteckorte für Kinder. In denen man bei geschlossener Tür kurz ganz leise, ganz allein, ganz woanders sein konnte.
Als wir dann Eltern wurden, verfolgten manche der Beteiligten (ich) den heimlichen Plan, die Rumpelkammer aufzulösen und dafür das Babybett in das Kämmerchen zu stellen. Schließlich ist die Kammer zwar klein, aber Babys sind noch kleiner und haben zudem keine großen Ansprüche an ihr Wohnambiente. Und damit hätte das Kämmerchen die Illusion eines dringend ersehnten weiteren Zimmers in unserer Wohnung erfüllt. Aber nicht alles, was Raum ist, ist eben auch Zimmer. Was eine Kammer ausmacht, ist ja zum Beispiel ihre Fensterlosigkeit, und die sagt sehr deutlich: Dieser Platz ist nicht für Menschen vorgesehen. Nicht nur deshalb blieb es bei der Idee einer Säuglingskammer, das Kind machte auch von Anfang an klar, dass es keinesfalls irgendwo allein und schon gar nicht in einer Telefonzelle rechts vom Flur schlafen wollte. Trotzdem erlebte das Räumchen wieder eine und die bis jetzt letzte Umdeutung und wurde zur Garderobe. Eine Garderobe mit einer Tür ist ein Segen, ein echter Standortvorteil. Im Winter kann man die dicken Jacken, Mützen, Schals und Handschuhe einfach wandhoch hineinpfeffern. Im Sommer verfährt man mit aufgeblasenen Schwimmtieren und Fahrradhelmen ähnlich, Tür zu, fertig. Wer ein Kämmerchen hat, der hat mindestens eine Sorge weniger.