Der, die, das – wieso, weshalb, warum?

Wozu hat die deutsche Sprache noch drei Artikel? Ein einziger würde schließlich vollkommen reichen.

Welcher Artikel zu welchem Wort? Wer Deutsch lernt, fühlt sich manchmal wie beim Glücksspiel.

Illustration: Ruan van Vliet

Um einen etwas zähen Freitagvormittag aufzulockern, lässt der Sprachlehrer in Hamburg-Altona alle an der Tafel sammeln, was sie an Deutschland nicht, mittel und sehr mögen. Die Schülerinnen und Schüler kommen aus Eritrea, Ghana, Gambia, Somalia, dem Irak und Afghanistan. Sie mögen die Pünktlichkeit, die Freundlichkeit, das Brot, den Kaffee und die Marmelade. Das und mehr steht rechts auf der Tafel unter »gut«. In der Mitte, »mittel«: Kartoffeln, ungewürztes Essen, und (die Sprachschule ist im Norden): »München ist sauberer als Hamburg«. Ganz links, unter »nicht gut«, stehen nur vier Dinge, in aufsteigender Reihenfolge: das Internet, die Nudeln, die Leute sind »nicht so höflich«, und dann, ganz oben: die Artikel. Über alles gab es lebhafte Diskussionen, aber über diesen Punkt ist sich die Klasse einig: Die deutschen Artikel sind nicht gut.

Der, die, das. Warum hat das Deutsche drei Artikel und das Englische nur einen? Wird das immer so bleiben? ­Warum schaffen wir zwei der drei Artikel nicht einfach ab?

In der Sprachschule gibt es zu jedem Wort, das an der Tafel steht, eine kleine Fragerunde: Okay, Kaffee ist gut. Aber der, die oder das Kaffee? Die Erfolgsquote liegt (es ist ein Anfängerkurs) bei etwa einem Drittel. Natürlich heißt es »die Frau«, »der Mann«, das ist schnell zu begreifen und einfach zu lernen. Aber warum heißt es »das Fenster«, obwohl der Lehrer doch gerade gesagt hat, die Endung »-er« sei männlich? Und warum »die Mutter«? »Wie soll man das lernen?«, fragen die, die es lernen sollen.

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Man kann es, sagt der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch von der Freien Universität Berlin, »nur auswendig lernen«. Das ist auch das Prinzip im Deutschunterricht: Vokabeln werden immer mit dem passenden Artikel zusammen gelernt. Oder, um es korrekt zu sagen: mit ihrem Genus, also dem grammatischen Geschlecht. Wobei die Artikel zwar die Genera ausdrücken, aber nicht mit ihnen identisch sind – im Lateinischen beispielsweise gibt es drei Genera, aber keine Artikel.

Vom Genus hängt jedenfalls eine ganze Menge ab, und diese Abhängigkeit nennt man grammatisch »Kongruenz«: zum Beispiel, wie sich zugehörige Adjektive anpassen, je nachdem, ob es eine nette Frau, ein netter Mann oder ein nettes Kind ist – hier demonstriert mit den unbestimmten Artikeln, bei denen in diesem Fall zwei gleich sind und einer anders, eine, ein, ein. Nimmt man den bestimmten Artikel dazu, heißt es nicht mehr netter Mann und nettes Kind, sondern: der nette Mann, das nette Kind. Plötzlich ist alles gleich wie die nette Frau, vorher nicht. Bitte merkt euch das, liebe Sprachschulklassen. Und nächsten Monat nehmen wir die grammatischen Fälle durch, da wird die nette Frau zuder netten Frau, Genitiv. Die Frau? Der Frau! Freut euch drauf.

Männlich? Weiblich? Vielleicht liegt die Lösung ganz sachlich in der Mitte.

Illustration: Ruan van Vliet

Der Sprachwissenschaftler Stefanowitsch meint, dass es mit der Herkunft zusammenhängt, wie großzügig man behandelt wird, wenn man im Deutschen Fehler macht: »Wenn Amerikaner oder Franzosen Fehler machen, die die Verständlichkeit nicht beeinträchtigen, wird darüber gern hinweggegangen. Aber Menschen, die als Migranten wahrgenommen werden, weil sie etwa aus Syrien kommen und erst ein Jahr lang Deutsch lernen oder so – denen wird dann bei falschen Artikeln unter Umständen gesagt, lern erst mal Deutsch.« Das sei bei allen Fehlern so, die sie machten, nicht nur beim Artikel.

Aber selbst wer Deutsch als Zweit- oder Drittsprache nahezu perfekt gelernt hat, die Germanistin aus New Orleans, die Pariser Anwältin in Hamburg, der englische Übersetzer in Berlin: Sie alle machen, wenn sie noch Fehler machen, Genus-Fehler. Es scheint unmöglich, hier immer alles richtig zu machen, also auch: wirklich dazuzugehören zu einer Gemeinschaft von Menschen, zu deren sprachraum­typischer Identität es gehört, endlos und mitunter aggressiv darüber zu streiten, ob es der, die oder das Joghurt heißt und warum die jeweils nicht bevorzugten Genera nach eigenem Gefühl schmerzhaft falsch sind: Der Joghurt? Bist du bescheuert?! (Laut Duden sind alle drei Genera korrekt.) »Ehrlich«, sagt meine Freundin Gruschenka, »egal wo man im Ausland ist, alle freuen sich, wenn man die Landessprache auch nur gebrochen spricht, und hier ist man gleich ein Idiot, wenn man der, die, das nicht kann.«

Im Englischen dagegen: ein bestimmter, ein unbestimmter Artikel, »the« und »a«, Ende der Durchsage, keine Probleme mit der Kongruenz, also: Die Adjekti­ve und die Wort­endun­gen bleiben im Singular immer gleich. Klar, Englisch ist eine vielfältige Sprache, zum Beispiel außerordentlich vokabelreich und schwer auszusprechen, aber zumindest dieses eine große Problem, das die Gehirne von Deutsch­lernenden belastet, gibt es nicht, es gibt nur the the.

Die Müncher Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Leiss erklärt, dass es entweder Sprachen mit gar keinem Genus oder mit mindestens zwei Genera gibt (wie heute etwa das Französische oder das Spanische). Manche Sprachen, zum Beispiel Swahili, haben mehr als zwanzig Genera (Sprachreise Ostafrika: die letzte Herausforderung für Grammatikfans). In indoeuropäischen Sprachen aber (zu denen unsere Referenzpunkte Deutsch und Englisch gehören) gab es ursprünglich drei Genera an ein und demselben Substantiv. Zum Beispiel sagte man im Mittelhochdeutschen der Erbe, die Erbe und das Erbe. Das Maskulinum bezeichnete ein zählbares Substantiv, in diesem Fall also wie heute: der Erbe, zwei Erben – jemand, der die Erbschaft bekommt. Das Femininum hieß, dass das gleiche Wort eher abstrakt oder ein Sammelwort war, »die Erbe« hatte also die Bedeutung von »die Erbschaft«. Konkrete, aber nicht zählbare Substantive waren immer Neutrum, hier also: »das Erbe«. Oder, in einem Satz: Der Erbe macht die Erbe, weiß aber noch nicht genau, worin das Erbe eigentlich besteht. Zumindest das müssen wir der Deutschschülerschaft nicht mehr beibringen: Substantive mit drei Genera, je nach Verwendung. Holla der, die oder das Waldfee.

Warum wir »der« als männlichen Artikel sehen und »die« als weiblichen, wissen wir nicht

Wobei es sich bei der Waldfee um eine als weiblich wahrgenomme­ne Figur handelt, insofern ist das Beispiel ungeeignet, denn bei ihr fallen Genus (grammati­sches Geschlecht) und Sexus (biologisches Geschlecht) zusammen. Davon kann bei einem Tisch, einer Tür oder einem Fenster keine Rede sein, so sagt es Professorin Leiss: Das Genus wird in der Sprachgeschichte »zunehmend arbiträr zugeteilt«, also willkürlich. Grammatische Sexus-Systeme würden immer später entstehen als grammatische Genus-Systeme. Warum wir also »der« als männlichen Artikel sehen und »die« als weiblichen, wissen wir nicht.

Warum aber gibt es im Englischen nur einen Artikel, obwohl diese Sprache auch einmal drei hatte? Anatol Stefanowitsch sagt, der Verlust der drei Genera sei »ein Kollateralschaden von Lautwandelprozessen« gewesen, »die immer und in vielen Sprachen zu beobachten sind«. Genauer: »Das Englische hat zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert fast alle seine Wortendungen verloren, aufgrund einer allgemeinen lautlichen Abschwächung der Wort­enden. Dabei hat es ja nicht nur den Genus erwischt, sondern auch Kasus, Personenendungen, den größten Teil des Tempussystems.« Könnte es nun sein, dass wir im Deutschen dieser Entwicklung um ein halbes Jahrtausend hinterherhinken, aber mit ein bisschen Geduld auch bald bei nur noch einem Genus sind? »Das lässt sich schwer vorhersagen«, sagt Stefanowitsch. Auch würden sich die deutschen Artikel von der Aussprache her stärker voneinander unterscheiden als vor fast tausend Jahren die englischen Artikel.

Wie es zu solchen Entwicklungen kommt, ist umstritten. »Wie alle linguistischen Reduktionen: aus Faulheit«, meint der Autor und Übersetzer Cornelius Hartz. Der Schriftsteller Eric Hansen hingegen verfolgt die Theorie, es habe in England nach dem Ende der französischen Adelsherrschaft eine Rückbesinnung auf das Englische gegeben, eine Sprache, die die Führungseliten aber nicht mehr richtig beherrschten. Daher die Vereinfachung der Sprache. Jedenfalls, sagt Anatol Stefanowitsch, sei das Phänomen nicht durch »sprachplanerische Aktivitäten« zu erklären.

Vielleicht ist es aber Zeit, hier und heute ein paar sprachplanerische Aktivitäten zu entfalten. Dadurch würde man drei Probleme auf einmal lösen. Erstens wird unsere Sprache vom ausschließenden generischen Maskulinum beherrscht, etwa im Fall von »der Kunde«, von dem sich Frauen brav mitgemeint fühlen sollen. Bei »das Kunde« wäre klar, der Begriff schließt alle ein. Zweitens ist es fast unmöglich, unsere drei Genera mit all ihren Folgeerscheinungen fehlerfrei zu lernen. Drittens lernen immer weniger junge Menschen europaweit Deutsch, müsste man es nicht einfacher und damit attraktiver machen? Wäre es nicht an der Zeit, die drei Genera aufzugeben und nur noch eines zu behalten, »das« und »ein« für Substantive in der Einzahl, »die« für Substantive im Plural?

Sich bei den Artikeln immer wieder zu vertun, kann einem das Deutschlernen leicht vergällen.

Illustration: Ruan van Vliet

Natürlich nicht durch eine Vorschrift von oben. Sprache ändert sich durch Gebrauch. Und zwar nicht die Sprache durch den Gebrauch, sondern das Sprache durch das Gebrauch. Dafür braucht es kein Vorschrift, aber vielleicht ein Vorschlag: Lasst uns etwa in Sprachkurse während das erste Jahr nur das Artikel »das« unterrichten. Zurzeit gibt es ein System, bei das die Wörter in das Lehrmaterial je nach Genus farblich gekennzeichnet sind. Vielleicht behält man das bei, aber in das Unterrichtsgespräch können alle einfach immer nur »das« sagen, ohne korrigiert zu werden. »Das« ist jetzt schon in die Bücher grün, klares Vorzug vor Rot (»die«) und Blau (»der«): Mit »das« steht das Sprachampel auf Los! Ein weiteres Schritt wäre, Literatur und Journalismus mono-generisch zu verfassen. Ich finde, dass dieses Absatz ganz schön klingt, ein bisschen wie im Dänemark-Urlaub, aber das Redaktion ist skeptisch. Nun gut.

Zumindest habe ich die Hoffnung, die Mono-Artikligkeit werde sich irgendwann von allein ergeben, als ich den Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch frage, ob denn alle Sprachen dazu neigen, immer einfacher zu werden. »Ja, das ist eine Tendenz«, sagt er. »Also etwa, dass Merkmale wie Kasus, Genus, Personalendungen und so weiter sich über die Jahrhunderte abschleifen und verschwinden. Aber Sprache gibt es jetzt seit fünfzig- bis hunderttausend Jahren, und wenn das die einzige Tendenz wäre, hieße das, dass alle Sprachen jetzt maximal einfach sein müssten.«

Dieses Argument ist schwer zu widerlegen. Vermutlich bekommen wir also, siehe die Sprachkurs-Tafel im deutschen Norden, früher ein schnelleres Internet und einen höflicheren Umgang als ein weniger komplexes und willkürliches Artikel-System.