Diese verfluchten zwei Meter. Diese lebenswichtigen zwei Meter. Seit Tagen habe ich sie nicht überschritten, keinen Menschen berührt, noch nicht mal mit Ellenbogengruß. Das ist schwer und wichtig und für mich nur aus einem einzigen Grund zu ertragen: Weil ich meinen Freund*innen auf eine andere Weise ganz nah bin.
Ich nehme sie mit nach Hause, zu jeder Zeit und bei jeder Unordentlichkeitsstufe. Ich schaue ihnen beim Anziehen und beim Abspülen zu. Ich putze mir in ihrer Gegenwart die Zähne. Ich gehe mit ihnen ins Bett. Ich begleite sie sogar aufs Klo. Und das alles ohne Social-Distancing-Forderungen und Ausgangsbeschränkungen zu missachten: über Videotelefonie.
Mir ist klar, dass ich mich glücklich schätzen kann. Ich arbeite von zuhause aus, bekomme weiter mein Gehalt, bin jung und gesund – und unendlich dankbar dafür. Allerdings sitze ich mit meinem Corona-bedingten Weltschmerz ganz allein in einer 33-Quadratmeter-Wohnung. Niemand da zum Abendessen, Netflix gucken, Ellenbogen berühren. Niemand da, um die Nachrichten dieser Tage gemeinsam auszuhalten. So gut es mir auch gehen mag: Ich habe das erste Mal in meinem Leben Angst vor Einsamkeit, und damit bin ich nicht allein. Was uns, den kinderlosen Singles, nun bleibt, um uns mit anderen zu verbinden, ist die Videotelefonie. Nie hätte ich gedacht, dass sie Menschen einander so nah bringen kann.
Wir unterhalten uns nicht nur, wir leben auch zusammen.
Früher konnte ich nicht verstehen, warum man sich beim Telefonieren extra filmen muss, heute facetime ich jeden Morgen und jeden Abend. Mit Freund*innen, mit Mama und Papa, meiner Schwester, verflossenen Lieben, fast vergessenen Menschen, neuen Menschen. Zeit haben ja alle. Die Gespräche sind mal banal, mal tiefgehend, mal lustig, mal deprimiert. Zwischendurch sagen wir einander, wie gut es tue, sich zu hören. Am Ende: »Pass auf dich auf, es wird bestimmt wieder gut.« Noch nie war es so tröstlich, Stimmen zu hören, Gesichter zu sehen. Auf das Gesagte kommt es dabei gar nicht so sehr an. Viel schöner finde ich, dass wir auf diese Weise den Alltag zusammen meistern.
Normalerweise sitze ich mit meinen Freund*innen in Restaurants und Bars, gehe mit ihnen ins Theater, auf Konzerte, ins Kino. Alle hübsch angezogen, alle zurecht gemacht für das gute Leben. Jetzt rufen mich dieselben Leute in den unvorteilhaftesten Momenten an. Wir zeigen uns einander ungeschminkt, ohne BH, vor Wäschebergen. Wir essen Chips und machen dabei den Hosenknopf auf. Gestern hat eine sonst sehr feine Freundin vor mir gerülpst. Ich vergaß meinen Weltschmerz für einen Moment und musste lachen – was für ein Vertrauensbeweis. Videotelefonie hilft eben nicht nur gegen Einsamkeit, sie ermöglicht auch eine ganz neue Intimität. Wir nehmen einander mit in unseren Alltag. Wir zeigen uns verletzlich. Wir unterhalten uns nicht nur, wir leben auch zusammen. Und wir merken, dass Social Distancing eigentlich nur Physical Distancing bedeutet, was viel weniger schlimm ist.
Ich möchte das allen weiterempfehlen. Lasst Skype und FaceTime einfach laufen – im Bett, im Bad, auf dem Klodeckel. Teilt alles, je intimer desto besser. Frank Walter-Steinmeier hat in seiner Videobotschaft gesagt: »Halten wir heute voneinander Abstand – damit wir uns morgen wieder umarmen können.« Ich sage: »Nehmen wir unsere Freund*innen per Smartphone überall hin mit – damit wir es aushalten, uns erst mal nicht zu umarmen.« Ich schwöre, es funktioniert: Wenn man einem guten Freund auf dem Klo beiwohnt, fühlt man sich das Gegenteil von allein.