Es ist halt immer irgendwas. Mein halbes Leben lang sage ich mir: Wenn ich endlich mal Zeit habe, übe ich wieder Klavier, aber so richtig. Die Revolutionsetüde von Chopin, dieses brutal schwere Gewirbel. Aber leider, leider – es ist halt immer irgendwas. Oder: Wenn ich nur mal Zeit habe, lese ich endlich den Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Ganz. Dass ich bisher über den zähen Anfang dreimal nicht hinausgekommen bin? Es ist halt immer irgendwas. Oder: Wenn ich nur Zeit hätte, würde ich Sport machen, jeden Tag mit einer halben Stunde Fitness beginnen, meinen Rücken trainieren. Aber es ist halt immer –
– nichts. Es ist absolut nichts. Pandemie. Lockdown. Vollbremsung. Die Seuche mag die Welt vor große Aufgaben stellen, im Kleinen liefert sie vor allem eine klägliche Selbsterkenntnis: Die Ausrede mit der Zeit kannst du dir sparen. Wir stecken in der größten Versuchsanordnung der Menschheitsgeschichte, ein Virus grinst uns diabolisch an und fragt: So, Zeit angehalten – was tust du wirklich? Ich habe dir alle sozialen Verpflichtungen aus dem Weg geräumt, alle großen Reisen, alle Abendtermine, alle Einladungen, Freizeitaktivitäten, alles, was dir immer deine ach-so-knappe Zeit geraubt hat. Und jetzt kommst du.
Ich wette, kein Mensch übt mehr Klavier als zuvor. Niemand stellt die Alben mit den Familienfotos zusammen, die schon seit Jahren auf Vervollständigung warten. Niemand ackert die ungelesenen Bücher durch. Kein Nachbar kommt plötzlich mit sportgestähltem Oberkörper um die Ecke.
Natürlich hat jeder sofort zig andere Gründe parat. Homeschooling – anstrengend. Eng in der Wohnung – kostet Kraft. Und überhaupt zieht einen die Dauerbremsung runter. Macht schlapp und antriebslos. Jaja. Klar. Stimmt. Aber der Evergreen »Wenn ich nur mal Zeit hätt«, der zieht nicht mehr.
Wir werden in dieser merkwürdigen Schwebezeit nachweislich immer dümmer und immer zielloser
Genauso wenig die ganzen anderen kleinen Leiderleiders. Die X- und Y-Details, die angeblich noch geordnet werden müssen, bevor man mit Aufgabe Z anfängt. Erst aufräumen. Erst Klavier stimmen lassen. Erst besseres Licht im Wohnzimmer. Erst dieses eine wichtige Computer-Update. Unsinn. Wäre jetzt alles kein Problem. Aber man hat sich so dran gewöhnt, die vielen Mikroausreden vor sich herzuschieben wie die Straßenreinigung die leeren Pappbecher.
Bis vor einem Jahr konnte man sich manchmal wenigstens einbilden, man sei wie einer der Protagonisten bei Thomas Bernhard. Die haben ihre große Studie, ihr Buch quasi fertig im Kopf, es fehlt nur der ideale Moment, um alles in einem Rausch aufs Papier zu donnern. Sie schaffen es nie. Aber wir ja erst recht nicht. Corona brummt uns gelangweilt an: Vergiss es, du bist keine Bernhard-Figur, du hängst nur durch.
Sogar ein Jahreswechsel ist an uns vorbeigezogen. Der Termin der ewigen Nächstes-Jahr-nun-aber-wirklich-Bekundungen. Dieses Mal haben deutlich weniger Menschen erklärt, was sie im neuen Jahr garantiert anders angehen wollen. War ja von vornherein klar, nichts wird anders. Wir stellen alle unser Sektglas in die Spüle und machen am 1. Januar so weiter wie am 31. Dezember.
Rundum Ermüdung. Kann man aber auch positiv sehen. Der englische Autor Joel Golby hat vor Kurzem gut gelaunt die Waffen gestreckt: »Wenn nicht mal eine globale Pandemie mich dazu bringt, endlich mit Yoga anzufangen, dann schafft es nichts und niemand. In dieser Erkenntnis steckt auch ein gewisser Friede.« Stimmt. Wenn ich mir eingestehe, dass ich den Mann ohne Eigenschaften nie zu Ende lesen werde …? Ach, passt schon. Dann eben nicht.
Beunruhigend ist nur, dass wir in dieser merkwürdigen Schwebezeit nachweislich immer dümmer werden und immer zielloser. Neurowissenschaftler haben den Effekt von Lockdowns auf das menschliche Gehirn untersucht – bei den Polarforschern, die auf der Neumayer-III-Station 14 Monate lang isoliert im Eis steckten. Stellte sich raus: Bei den Teilnehmern war ein Bereich des Hippocampus verkleinert. Das ist der Teil des Gehirns, der für die räumliche Navigation zuständig ist – und für die Gedächtnisbildung. Außerdem hatten sich Hirnareale verkleinert, die wichtig sind für die Planung und Steuerung von Handlungsabläufen. Na, tolle Aussichten.
Andererseits: hervorragende neue Ausrede. Ich würde den sauschweren Chopin ja üben, aber leider, leider, mein Hippocampus.