Leider ist »furchtbar« das treffende Wort für den Anfang, es beginnt nämlich alles ganz furchtbar. Mit einer Diashow und dem Streichorchester »Femme Fatale«: zwölf junge Frauen in eng anliegenden roten Kleidern, die, acht links, vier rechts, neben dem schwarzen Flügel stehen, an den sich Richard Clayderman gleich setzen wird. Was sie spielen, klingt nicht fatal oder verrucht, eher zuckrig. Dazu kommt Synthesizerbegleitung vom Band. Auf zwei Leinwände werden Fotos aus dem Leben Claydermans projiziert, meistens schaut er sehr verträumt in die Kamera. Das geht so eine ganze Zeit. Dann endlich bittet eine Stimme aus dem Off, den berühmtesten Pianisten der Welt zu begrüßen: Richard Clayderman. Jubel und Beifall.
Ein grau-blonder Mann im Smoking, der tatsächlich entfernt an den blonden Märchenprinzen aus dem Diavortrag erinnert, betritt die Bühne des Palazzo dei Congressi in Lugano, er winkt kurz ins Publikum, setzt sich an den Flügel und beginnt zu spielen. Erneut Jubel und Beifall. Nach einigen Takten erhebt er sich und animiert das Publikum zum Mitklatschen, er macht vor, wie es geht. Jubel und Beifall, der in rhythmisches Klatschen mündet. Clayderman setzt sich wieder und spielt das erste Stück weiter. Als Zweites spielt er das Lied, das alle im Saal hören wollen, das ihn weltberühmt gemacht hat: die Ballade Pour Adeline. Daa daa dadadadadadadaa daa daadadaa. Eines der wenigen Lieder, das wirklich jeder so summen kann, dass man es sofort erkennt.
Ältere Frauen legen ihre Köpfe an die Schultern ihrer Männer. Dazwischen im Publikum immer wieder ein paar Enkel, die herangeführt werden sollen an den Glanz vergangener Tage. Das heißt auch: herangeführt an die Clayderman-Versionen der Monsterhits der Gefühle, vom Titanic-Song bis zu Don’t Cry For Me Argentina.
Es ist nicht einfach, das jetzt hier hinzuschreiben, aber: Es gab eine Zeit, in der war Richard Clayderman mein Held. Ich stehe dazu: Er traf mit seinen Melodien einen Nerv in mir, sie trösteten den verwirrten Gerade-erst-Teenager, der ich war. Wie eine weiche, Musik gewordene Wolldecke.
Ich entdeckte ihn vor fast 25 Jahren in einer Fernsehshow, er spielte auf einem weißen Flügel, sah sehr sympathisch aus und sagte ein paar nette Worte auf Deutsch mit starkem französischen Akzent. Vor allem aber war da diese sanfte Musik, von der ich dachte, sie sei Klassik. Fast wie Mozart, nur moderner. Vielleicht dachte ich mir deswegen auch nichts dabei, mir eine Best Of Richard Clayderman-CD zu kaufen. Ich wusste ja auch nicht, dass außer mir vor allem ältere Damen auf den blonden Jüngling standen.
Vor allem wusste ich damals nicht, wie erfolgreich Richard Clayderman war: Dass er Mitte der Achtzigerjahre schon mehr als 30 Millionen Platten verkauft hatte und ausverkaufte Tournee an ausverkaufte Tournee reihte. Und ich hatte keine Ahnung, wie sehr das Feuilleton ihn verachtete. Im Archiv ist nachzulesen, dass ein Kritiker dem »blonden Beau« in der FAZ damals »grenzenlose Gefälligkeit« unterstellte und Claydermans musikalische Formen »als klangliche Schonkost« bezeichnete. Der Kritiker, der mit M. O. C. Döpfner zeichnete, wurde später Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG. Der Spiegel attestierte Clayderman »musikalische Anämie«. Aber selbst wenn ich diese Kritiken gekannt hätte, sie wären mir vermutlich egal gewesen. Mit elf gibt man wenig darauf, was im Feuilleton steht. Für mich war Richard Clayderman jemand, der es mir auf Knopfdruck warm ums Herz werden ließ.
Deswegen bin ich jetzt in Lugano, um meinen Helden von damals, der auf der Bühne gerade bei Stevie Wonders I Just Called To Say I Love You angekommen ist, zu treffen. Nach dem Konzert soll es so weit sein, hat mir Olivier de Toussaint versprochen, Claydermans Manager. Mir wäre eine Begegnung vor dem Auftritt lieber gewesen, entspannt in einem Café zum Beispiel, aber am Tag des Konzerts sei das unmöglich, sagte der Manager. Richard müsse üben, sich auf das fremde Klavier einstellen, mit den Streicherinnen proben, Haare und Make-up machen lassen und so weiter. Olivier de Toussaint muss es wissen, er ist gewissermaßen der Mann, der Richard Clayderman überhaupt erst erschaffen hat.
Toussaint hatte in den Siebzigerjahren eine Lücke im Musikgeschäft ausgemacht, die des betörenden jungen Pianisten. Er organisierte ein Casting – lange vor Deutschland sucht den Superstar. Aus 20 Bewerbern erwählte er 1976 einen jungen Franzosen namens Philippe Pagès, »er spielte nicht nur besser, er sah auch besser aus als die anderen«, taufte ihn um auf »Richard Clayderman«, schrieb ihm – im Familienschloss derer von Toussaint – die Ballade Pour Adeline auf die Finger und machte ihn zum bestverkaufenden Pianisten der Gegenwart.
Inzwischen hat er beinahe 100 Millionen Alben verkauft, und das Prinzip Clayderman funktioniert weiterhin, noch immer bringt er neue CDs auf den Markt, die sich gut verkaufen, und noch immer strömen die Massen zu seinen Konzerten. »Wir sind bumsvoll«, hatte der örtliche Veranstalter mir im Palazzo dei Congressi zur Begrüßung begeistert zugerufen, »wirklich bumsvoll!«
Vor dem Auftritt in Lugano standen 17 Konzerte in China auf dem Plan, davor spielte Clayderman in Paraguay, danach in Mexiko, dann in Taiwan und schließlich Japan. Dort war er schon mehr als 50 Mal auf Konzertreise, wenn man einer Auflistung seines Managers glauben darf. Außerdem ist Clayderman demnach in den vergangenen Jahrzehnten auf Tournee mehr als drei Millionen Kilometer gereist, mit 5000 Flugzeugen, 30 000 Autos, 400 Zügen. Ihm seien außerdem in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 50 000 Blumensträuße von Verehrerinnen auf die Bühne geworfen worden, und er habe im Gegenzug mehr als 3000 Rosen an sein Publikum verteilt. Toussaint hat, man mag es kaum glauben, über wirklich alles Buch geführt.
50 000 Blumensträuße. Von 50 000 Frauen. Wenn ich diese Dimensionen gekannt hätte, ich hätte vielleicht doch mehr geübt: Rückblickend hätten meine Eltern die 80 Mark im Monat für den Klavierunterricht klüger anlegen können. Aber sie hatten Talent in mir vermutet: Immerhin hatte mein Onkel mit zehn Jahren schon Konzerte am Flügel gegeben. Doch selbst wenn ich am Klavier saß, träumte ich lieber stundenlang vor mich hin. Hinter den Notenheften hatte ich oft ein oder zwei Scheiben Brot versteckt – als Proviant. Und falls meine Eltern aus dem Garten hereinschauten: Ich saß immerhin am Klavier.
Zu Beginn meiner Clayderman-Phase erklärte ich meinem Klavierlehrer, dass ich Ballade Pour Adeline lernen wollte. Vermutlich hat er nur ergeben die Schultern gezuckt. Ich glaube, ihm war im Grunde egal, welches Stück ich Woche für Woche nicht übte. Umso erstaunter war er, als ich schon nach einer Woche tatsächlich etwas zusammenbrachte, was dem Original zumindest ähnelte.
Im Luganer Palazzo dei Congressi wird derweil munter akustischer mit optischem Kitsch verrührt: Auf den beiden Leinwänden hinter Richard Clayderman und seinen zwölf Streicherinnen laufen Videoclips: Sonnenuntergänge im Zeitraffer, wenn es romantisch wird, oder Vögelschwärme im Formationsflug, wenn es eher träumerisch zugeht. Außerdem: Wellen, die ans Ufer schwappen, Ziegenherden, die über Berghänge fliehen, Pinguine, die daherwatscheln.
Das alles ist ein bisschen mehr, als man verkraften kann. Aber es ist das, was Richard Clayderman seit Jahrzehnten macht, jedes Jahr, immer wieder. Ist das tragisch? Oder einfach ein Beruf?
Seichte Unterhaltung am chinesischen Flughafen
Eine Viertelstunde nach Ende des Konzerts, nach zwei Zugaben und begeisterten Klatschstürmen, öffnet Richard Clayderman schüchtern lächelnd die Tür seiner Garderobe. Turnschuhe, Jeans, weißes T-Shirt und Jacke, ein älter gewordener Tennislehrer. »Che bello!«, stößt die Frau vor mir hervor, er signiert Notenblätter und schreibt Autogramme.
Er sieht müde aus, erschöpft. »Ich bin Richard«, sagt er auf Englisch, mit diesem weichen französischen Akzent, in dem »English« wie »Önglüsch« klingt. Er hat ein bisschen Zeit zu reden, sagt er, aber nach ein paar Worten über das Konzert – »nice and moving« war es, »nett und bewegend« – bittet er doch darum, das Gespräch telefonisch fortzusetzen. Er muss ins Bett. Es ist anstrengend, eine ganze Stadthalle mit so viel Gefühl zu füllen.
Ein paar Tage später klingt er ausgeruht und gut gelaunt, er meldet sich aus seinem Haus bei Paris. Die Tourneereisen würden ihn inzwischen ziemlich anstrengen, sagt er, aber das sei eben die Arbeit, die damit verbunden ist, Richard Clayderman zu sein. Dann erzählt er, dass er vor einiger Zeit in einem kleinen chinesischen Provinzflughafen gelandet sei, und in jeder Halle sei über Lautsprecher seine Musik gelaufen. Er kichert. »Die Menschen hören meine Musik auch an nicht so schönen Orten. In Fahrstühlen, Hotellobbys, Telefonwarteschleifen und eben auf Flughäfen.«
Das ist sein Image: der Mann für die seichte Unterhaltung. Der harmlose blonde Prinz. Er erzählt, dass er gern Michel Petrucciani höre, den renommierten Jazzpianisten, und dass er für die letzte Japan-Tour ein oder zwei Stücke von Petrucciani ins Repertoire genommen habe. »Das Problem ist nur: Wenn die Leute in mein Konzert kommen, wollen sie Clayderman hören, nicht Michel Petrucciani.«
Es ist kurz still in der Leitung. Auch Richard Clayderman, oder im Moment vielmehr Philippe Pagès, der Mann, den seine Freunde Phiphi rufen, denkt nach. »Es gibt nie nur eine Sicht der Dinge«, sagt er dann, »ich habe ein tolles Publikum und gebe gern Konzerte. Natürlich können andere Bach besser spielen, ich bin kein Horowitz, ich bin Clayderman. Und ich bin stolz darauf. Nein, ich mochte mein Image wirklich nicht immer. Aber es ist nun mal, wie es ist.«
Es ist eben, wie es ist. Und es ist so: Richard Clayderman hat 100 Millionen Alben verkauft. Muss man sich dafür schämen? Kann man das überhaupt? Ich weiß es nicht. Richard Clayderman ist 58, ein netter älterer Mann, der vielleicht zu früh ein sehr einfaches Rezept für ungeheuren Erfolg gefunden hat und deswegen nie ernsthaft auf den Gedanken kam, etwas anderes zu machen. Und anders als der Erbe eines florierenden Unternehmens kann er die Marke Clayderman ja nicht verkaufen. Sie funktioniert nur, solange er sie ausfüllt.
Bin ich enttäuscht von der Begegnung und dem Gespräch? Nein. Richard ist ungeheuer nett, ungefähr so nett wie seine Musik. Und Richard ist mir auch nicht peinlich. Ich stehe zu ihm, so wie ich auch jederzeit zu Rainhard Fendrich stehen würde, aber das ist eine andere Geschichte.
Nach dem Konzert im Palazzo dei Congressi laufe ich auf dem Heimweg ins Hotel am nächtlichen Ufer des Luganersees entlang. Alle paar Schritte beleuchtet eine Laterne den Weg, der See zur Linken wird immer dunkler. Die Schwäne haben den Kopf ins Gefieder gesteckt. Vor mir spaziert ein Pärchen, das ich auch in der Konzerthalle gesehen habe, beide vielleicht Mitte fünfzig, sein Sommermantel ist offen, ihr weht ein Schal um den Nacken. Sie halten Händchen und bleiben dicht beieinander. Als ich sie irgendwann überhole, höre ich, dass sie leise eine Melodie vor sich hinsummt, ein sanftes, verträumtes Stück. Es ist sehr leicht zu erkennen, das Lied.
Ein Schwan hebt den Kopf und schläft gleich wieder ein. Es gibt nie nur eine Sicht der Dinge.
RICHARD CLAYDERMAN
»Begrüßen Sie den berühmtesten Pianisten der Welt!« - so wird Richard Clayderman, der 1953 als Philippe Pagès geboren wurde, seit mehr als drei Jahrzehnten auf die Konzertbühne gebeten. Die ersten Akkorde schlug Phiphi, sein Spitzname bis heute, in der Pariser Wohnung seiner Eltern an, sein Vater war Klavierlehrer. Mit zwölf Jahren wurde er am Pariser Konservatorium aufgenommen, mit 23 spielte er die Ballade Pour
Adeline, die ihn weltweit berühmt machte. Sein Privatleben - er ist zum zweiten Mal verheiratet und hat zwei Kinder - hält der Franzose weitgehend aus den Schlagzeilen.
Set-Design: Nina Lemm/liganord.de; Styling-Assistenz: Elena Mora
Fotos: Attila Hartwig, Ullstein Bild/dpa