Alle Jahre wieder nicht

»Mensch, du bist ja ein richtiges Christkind« – warum unser Autor mit seinem Geburtstag am 25. Dezember hadert.

Nicht so leicht, den Geburtstag zu feiern,
wenn alle ringsum gerade etwas anderes zelebrieren.

Illustration: Chester Holme

Zumindest eine schöne Geschichte gibt es zu erzählen. Es war der erste Weihnachtsfeiertag 1975. Die Familie versammelte sich mittags in der winzigen Wohnung meiner Großeltern, mein Großvater zog die Gans aus dem Ofen. Nur meine Eltern fehlten noch. Mein Großvater schimpfte schon auf seinen Sohn, da klingelte das Telefon. Es war mein Vater, der atemlos mitteilte, dass meine Mutter gerade einen Sohn – mich! – bekommen habe, einen Monat vor Termin. Mein Großvater, aus hartem Holz, aber zart besaitet, stellte die Gans auf den Tisch und sagte, dass ihm vor Aufregung nun der ­Appetit vergangen sei. Ich kenne diese Geschichte sehr gut. Vermutlich hörte ich sie schon 43-mal, schließlich wird sie mir jedes Jahr an meinem Geburtstag erzählt.

Ich habe also am ersten Weihnachtsfeiertag Geburtstag. Die Reaktion, wenn ich von dem Datum berichte, ist immer die gleiche. Zuerst kommt ein »Ach, du Scheiße!«. Meistens folgt darauf die Bemerkung: »Na ja, aber am 24. wäre noch blöder.« Da ich seit etwa 40 Jahren über die Sache nachdenke, weiß ich, dass das falsch ist. Denn Heiligabend wäre sogar ein außerordentlich güns­tiger Termin, um in meinen ­Geburtstag hineinzufeiern. Da alle Freunde schon in Urlaubs­stimmung sind, die Weihnachtsorgie aber noch ansteht und alle sich für das bevorstehende Familientreffen Mut antrinken müssen, wäre meiner Feier ein reger Zuspruch sicher.

Nun wird man einwenden: Was hat der Mann eigent­lich zu jammern? Ist er etwa nur auf Geschenke aus? Über dieses Thema bin ich hinweg. Meine Eltern und liebsten Verwandten achteten stets darauf, dass ich als Kind auch einen Tag nach der Bescherung ein Geschenk erhielt. Mit steigendem Alter ist das sowieso gleichgültiger, Bücher und Wein kaufe ich mir lieber selbst. Mein Geburtstag ist aus einem anderen Grund ein Ärgernis. Ich habe zum sozialen Leben ein ziemlich manisches Verhältnis. Freunde treffen, sich treiben ­lassen, in neue Kreise geraten: All das ist für mich die Definition des interessanten Lebens. Sehr oft komme ich dieser Leidenschaft als Gast von Geburtstagsfeiern nach – und blicke immer neidisch auf das Zentrum des Geschehens: das Geburtstagskind. Überhäuft von ­Geschenken und Küssen, Souverän über Musik, Gesprächsthemen und den weiteren Verlauf des Abends, geliebter Gönner von Freigetränken … Wenn ich mir das Paradies vorstelle, dann als eine ewige Geburtstagsfeier, auf der man nie müde wird und ständig neue ­Gäste kommen.

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Ich will über meinen Geburtstag hier nicht nur schimpfen. Er hat seine eigene, ruhige Schönheit. Ich wache auf, die Kinder singen artig ein Ständchen, dazu gibt es selbst gemalte Bilder. Mittags geht es zu meiner Tante, zum Gansessen. Nachmittags zu meiner Mutter, zu Kaffee und Kuchen. Beides liebe ich. Was ich hin­gegen nicht liebe, ist das Schweigen meines Telefons. Ich weiß: Alle sind im Kalorienkoma und im Familien­stress – aber kann man nicht trotzdem an mich denken? Schwer zu merken ist mein Geburtstag ja nicht. Einmal war es anders, da dudelte das Telefon alle fünf Minuten, ich errötete vor Glück. Viel später erfuhr ich, dass meine Frau meinen Freunden SMS geschickt hatte, sie sollten sich doch mal bei mir melden.

Natürlich gäbe es nun die Möglichkeit, nachzufeiern, und jedes Jahr wälze ich mantrahaft diesen Gedanken ab Anfang Dezember. Zwei Optionen stehen im Raum. Ich könnte an einem ganz anderen Termin feiern, etwa an meinem Namenstag, Peter und Paul, am 29. Juni. Das erscheint mir reizvoll, aber zu exaltiert, so als würde ein Brillenträger auf Monokel umsteigen. Und es ginge eine Nachfeier im frühen Januar – nur sind da alle feiermüde, und eine Mineralwasserparty ist das Letzte, wonach mir der Sinn steht. Also lasse ich es, wie es ist, Jahr für Jahr aufs Neue.

Die Zeit heilt alle Wunden: An diesen Spruch glaube ich eigentlich nicht. Aber vielleicht stimmt er leicht modifiziert: Das Alter heilt diese Wunde. Bekanntlich ist Facebook ein sinkendes Schiff, das jedoch noch eine letzte sinnvolle Funktion hat – an Geburtstage zu ­erinnern. Seit einigen Jahren beobachte ich, dass immer­ mehr »Freunde« jenseits der 40 klammheimlich ihr ­Geburtstagsdatum von Facebook löschen. Sie möchten wohl nicht ans Altern erinnert werden. Sollte es auch mir bald so gehen, hätte ich auf jeden Fall den besten Geburtstag dafür.