SZ Magazin: Sie haben ein Buch über Ihre Reisen mit Menschenrechtsorganisationen geschrieben, auf denen Sie Opfer von Vergewaltigungen, Hunger und Folter begegnet sind. Gibt es eine Rangfolge von Leid?
Katja Riemann: Im Sinne von, was ist am schlimmsten? Ich weiß es nicht. Was ist Leid? Wo beginnt es denn? Wo leiden wir schon, wo andere das Wort noch nicht in den Mund nehmen würden?
Sie erwähnen im Buch einen zwölfjährigen Jungen, der in Bukavu ein neun Monate altes Baby vergewaltigt haben soll. Geht es noch schlimmer?
Im Ostkongo haben wir mit ehemaligen Kindersoldaten gesprochen, die waren alle noch so klein, aber man hat sie unter Drogen gesetzt und dann haben sie unglaublich grausame Sachen gemacht. Dennoch gehören Minderjährige nicht in ein Gefängnis mit anderen Rebellen. Ich muss dazu noch sagen, dass man nicht weiß, ob der Junge das tatsächlich getan hat. Wir sind nicht nach Bukavu gefahren, um das herauszufinden, wir sind keine Anwälte. Aber natürlich passierte es, dass Babys vergewaltigt wurden. Geschieht nicht nur im Kongo.
Wo noch?
An der deutsch-tschechischen Grenze zum Beispiel. Es gibt Sachen, die sind so grausam, dass ich über sie nicht geschrieben habe. Wir werden ohnehin schon mit Bildern von Gewaltexzessen überflutet, ich habe mich auch schwer getan bei der Beschreibung von Gruppenvergewaltigungen im Kongo und was da genau passiert. Ich habe von Kriegsfotografen Geschichten aus nordirakischen Flüchtlingslagern gehört, die ich lieber nicht wissen wollte und die ich auch nicht weitergeben werde.
Sie haben einige Gräueltaten nicht beschrieben, weil Sie das nicht zweckdienlich fanden?
Ja. Wir kennen die furchtbaren Missstände dort, das individuelle Schicksal detailliert darzustellen und zu multiplizieren, ist nicht unbedingt notwendig. Ich will ja versuchen, mit meinem Buch über die konkrete humanitäre Arbeit zu berichten, also davon erzählen, was gemacht wird, nachdem Frauen zum Beispiel von Polizisten des Landes vergewaltigt wurden, in meinem Buch steht nicht das Leid im Mittelpunkt, sondern wie man es lindert und damit umgeht, Perspektiven nachher und Prävention vorher aufzuzeigen, bzw. zu entwickeln.
Mussten Sie erst eine Distanz zu dem Leid schaffen, dem Sie auf Ihren Reisen begegnet sind?
Ja, man braucht Distanz, um über die Dinge zu schreiben. In den letzten drei Jahren habe ich Reisen unternommen, schon in dem Wissen, dass daraus ein Buch entstehen würde. Ich hatte im Libanon versucht, mich abends zum Schreiben hinzusetzen, es ging nicht, ich brauchte den Abstand. Vor Ort bin ich dort als Lernende und Erlebende, die das Gespräch sucht, als Schreibende muss man ja dann einen Fokus setzen und darf nicht einfach erzählen, was dann passiert ist. Im Libanon-Kapitel habe ich den Schwerpunkt auf das Thema Flucht gesetzt. Die Flucht der Syrer vor dem Bürgerkrieg, aber auch die Flucht der Palästinenser nach 1948 und die Flucht meines Vaters, der lange Jahre selbst im Libanon gelebt hat.
»Die Aktivisten vor Ort müssen an Prävention und Krisenintervention denken. Und sie benötigen immer die Kooperation oder Erlaubnis der Regierungen«
Machen Zeit und Entfernung die Erinnerung an das gesehene Leid erträglicher?
Die Distanz ist bei mir schon durch die Zeit entstanden, meine ersten Reisen für Menschenrechtsorganisationen fanden vor zwanzig Jahren statt. Empathie und Anteilnahme sind selbstverständlich da, aber sie benötigen den Kanal der konkreten Maßnahmen, sonst führt es nirgendwo hin, das lernt man als erstes von den Mitgliedern der Nichtregierungsorganisationen auf Projektreisen. Die Frage ist: Was können wir tun? Was ist am dringlichsten? Antwort: Die vergewaltigten Frauen finden, um sie zu Dr. Mukwege oder Dr. Lusi ins Krankenhaus zu bringen. Partiell sind Frauen mit zerfetztem Unterleib bis zu 300 Kilometer gelaufen und möglicherweise erneute vergewaltigt worden, wir brauchen also eine Ambulanz, um sie zu uns zu holen. Die gibt es nun, sie macht den Unterschied. Die Aktivisten vor Ort müssen an Prävention und Krisenintervention denken. Und sie benötigen immer die Kooperation oder Erlaubnis der Regierungen.
Welche Bilder verfolgen Sie noch heute?
Bilder, die ich nicht selbst gesehen habe, sondern von denen mir erzählt wurde. Sie dürfen nicht vergessen, ich war nicht in Krisengebieten, sondern eher in den Geflüchtetenlagern, die aus dem Konflikt resultieren. Ich bin kein Kriegsreporter. Ich kenne ein paar Fotografen, die in den konfliktreichsten Orten und Momenten waren. Ich habe diese Geschichten gut verpackt abgespeichert und will eigentlich gar nicht dran denken.
Kann man die Situation nachhaltig verbessern? Oder geht es nur darum, einzelnen Menschen zu helfen?
In Nepal hat 2015 ein Erdbeben viele Plätze zerstört, die wir zwei Jahre zuvor bereist haben. Aber im Südwesten des Landes werden die Mädchen heute nicht mehr in die Sklaverei verkauft, das ist eine entscheidende bleibende Bewegung und Veränderung der Lebensverhältnisse. Durch die Arbeit von Tostan, einer NGO, die in Dakar gegründet wurde, werden Hunderttausende Mädchen in 8000 Dörfern aus sechs westafrikanischen Ländern nicht mehr beschnitten. Auch das ist bleibend. Natürlich kann man sich fragen, wie die Welt ohne die Humanitären aussähe, vielleicht gar nicht anders. Das erklärte Ziel der Menschenrechtsaktivisten sollte ja eigentlich ihre Arbeitslosigkeit sein. Aber das vordringlichste Ziel ist, Bewusstsein in der Öffentlichkeit zu schaffen.
Kann man in Diktaturen helfen, ohne die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen verändern zu wollen?
In den meisten Diktaturen dürfen Hilfsorganisationen gar nicht arbeiten. Aber bei dem Wort helfen schwingt für mich etwas Missionarisches mit, das mag ich nicht. Es gibt natürlich den Gedanken der Hilfe zur Selbsthilfe, aber es geht vor allem darum, Impulse zu geben. Tostan hat in Westafrika über das Recht auf Unversehrtheit des Körpers und auf freie Meinungsäußerung aufgeklärt, hat Mikrokredite initiiert, und dadurch zu einer Aufbruchstimmung unter den Frauen gesorgt.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mit Hilfsorganisationen zu reisen?
Das ist auf mich zugekommen. Ich wurde vor zwanzig Jahren von Unicef gefragt, ob ich anlässlich einer Veranstaltung ein Projekt zum Thema Beschneidung vorstellen würde, gemeinsam mit der Initiatorin. So habe ich Molly Melching, die Direktorin von Tostan, Senegal, kennen gelernt.
Wie oft sind Sie mit Hilfsorganisationen verreist?
Sehr unterschiedlich. Ich bin ja nicht nur mit Unicef gereist, auch mit Plan International, und in den letzten Jahren habe ich immer öfter die Reisen selbst initiiert. Ich werde nicht für jede Projektreise von Unicef gefragt, auch wenn ich das toll fände, doch manchmal haben sie Partner aus den Print-Medien oder dem Fernsehen, von denen die Unicef weiß, dass sie nicht so meine Cup of Tea sind, und dann fahren sie mit einem Fußballer oder so. Aber dann gibt’s anschließend auch richtig Spenden, das ist doch großartig.
Fühlten Sie sich schon mal überfordert und sind mal schlecht gelaunt von einer Reise zurückgekehrt?
Zurückgekommen nicht. Vor Ort habe ich mich sicher mal überfordert gefühlt, aber wir reisen ja immer zusammen, und da feiert man gemeinsam und trauert gemeinsam.
Was sagt Ihre Familie zu Ihrem Engagement? Ist Helfen ansteckend?
Ich glaube schon. Meine Tochter Paula hat mich zweimal auf solchen Projektreisen begleitet. In den Senegal, da war sie 16, und jetzt noch mal nach Burkina Faso. Sie sagt, diese beide Reisen seien die schönsten und inspirierensten ihres Lebens gewesen, obwohl wir auch sonst viel unterwegs gewesen sind.
Können Sie überhaupt noch Faulenzen am Strand?
Da bin ich total gut drin. Ich bin auch ein sehr guter Schläfer.
Glauben Sie, dass Ihnen diese Projektreisen irgendwann einmal emotional und psychisch zu anstrengend werden?
Ja. Aber an den Punkt bin ich noch nicht. Ich bereite jetzt eine Reise mit einer Freundin nach Venezuela vor. Bin noch nie weiter südlich als Mexiko gekommen.
Haben Sie das Gefühl, die Welt besser gemacht zu haben?
Das weiß ich nicht, aber ich habe schon das Gefühl, der Welt etwas zu erzählen, wie früher ein Moritatensänger am Hof. Ich sehe das nicht losgelöst von meiner anderen Arbeit. Ich erzähle auch als Schauspielerin Geschichten.
Würden Sie sich wünschen, dass Ihre Arbeit mit Hilfsprojekten eine größere Rolle bei Ihrer Arbeit beim Film spielen sollte?
Unbedingt. Ich mache jetzt quasi mein Regie-Debut und drehe einen Dokumentarfilm für Arte über die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal, die mit ihrer NGO hawar help über den Völkermord an den Jesiden aufklärt.
In Afrika müssen Sie sich mittlerweile ganz gut auskennen.
Würde ich nicht behaupten. Man kann ja so schlecht reisen in Afrika. Als ich vergangenes Jahr in Marokko war, hatte ich noch Zeit und wäre gern noch kurz nach Ouagadougou in Burkina Faso geflogen. Ging nicht, gab keine Flugverbindung. Man hätte über Brüssel oder Istanbul fliegen müssen, kostet ein Heidengeld und ist völlig absurd. Und mit dem Auto hätte man durch die Sahara fahren müssen. Das wäre wegen der vielen Schlepper einfach zu gefährlich gewesen. Und außerdem braucht man einen Schrauber für so eine Fahrt, der mehr können muss als Reifenwechseln, da bin ich nicht so gut drin.
Sie machen das seit zwanzig Jahren, wie hat Sie das verändert?
Finde das ja gar nicht so wichtig, was das mit mir gemacht hat, aber ich habe, besonders in den vergangen drei Jahren, eine andere Haltung zu Menschen bekommen, und zwar überall. Ich versuche, die Freundlichkeit, mit der man mir in der Fremde begegnet ist, mit in die Heimat zu nehmen und selbst so freundlich und offen zu sein.
Katja Riemanns Buch »Jeder hat. Niemand darf.« erscheint am 26. Februar bei S.Fischer.