Gefolgsmodell

Überall im Land werden »Lange Nächte« veran­staltet, fast jede Branche hat ihre eigene. Wann hat das eigentlich angefangen? Und, noch wichtiger: Wann hört es endlich auf?

Illustration: Giacomo Bagnara

Ach ja, wie herrlich, der Frühling ist da, und mit ihm werden die Tage länger und die Nächte kürzer, stopp, das war schon grundfalsch. Denn nicht kürzer werden die Nächte, sondern lang und immer länger, bis am Schluss noch jede von ihnen geworden ist, was sie nie hätte werden sollen: eine Lange Nacht. Der Museen, der Kultur, der Industrie. Der Clubs, der Kirchen, der Theater. Man ergänze die Reihe beliebig, das ist nur konsequent, denn beliebig ist längst auch die Lange Nacht geworden.

In München wird zur Langen Nacht der Konsulate geladen, in Frankfurt am Main zur Langen Nacht der Pfannkuchen. Es gibt in Deutschland die Langen Nächte der Mathematik und der Wissenschaft, der Literatur und der Hotelbars, der Architektur und der Start-ups, der Ateliers und der Comedy, was mir besonders perfide erscheint, denn ist nicht schon der kurze Comedy-Abend eine Zumutung? Jede Branche hat mittlerweile in irgendeiner Stadt ihre ­Lange Nacht, selbst abseitige Gewerke, Chöre und Feuerwehren. An der Hochschule Osnabrück lud das Institut für Management und Technik unter der Leitung von Prof. Dr. Sauer 2018 schon zur »4. Langen Nacht der Prozessoptimierung und Organisationsentwicklung«. Es gibt kein Entkommen. Ich kann mich nur schimpfend überrennen lassen von all jenen, die eifrig ihre Programmhefte studieren wie die Landkarten einer fremden Welt und mit roten Filzstiften anmarkern, wohin sie fahren und was sie sehen wollen.

Was treibt diese Menschen? Ist es die kindliche Vorstellung, ein einziges Mal nach Einbruch der Dunkelheit im Museum zu verweilen, allein und still, auf dass das Ausgestellte zum Leben erwache und mit ihnen seine Geschichte teile? Das wäre, immerhin, eine liebliche, nicht ganz so kulturpessimistische Erklärung. Aber nein.

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Spart euch die Mühe, will ich den Besuchern zurufen, sehen wollt ihr doch nur euch selbst, und jede Fahrt muss am Ende zu euren schlechten Gewissen führen, es wieder nur dieses eine Mal im Jahr geschafft zu haben, sich ein Gemälde anzuschauen, eine Zeche, eine Bühne. Ich glaube nämlich: Die Lange Nacht funktioniert wie ein Ablasshandel, und darin liegt ihr Erfolg begründet. Die Gäste verschwenden eine Nacht im Jahr an Orte ihrer Stadt, die sie üblicherweise ignorieren, weil sie sich nicht für sie interessieren. Im Umkehrschluss darf für den Rest des Jahres von weiteren Besuchen abgesehen werden.

Mit einem Ticket für die Lange Nacht erkauft man sich in meinen Augen die Selbstzufriedenheit, über den eigenen Tellerrand geschaut zu haben, jedenfalls bis zum Weinglas dahinter, davon wird nämlich üppig ausgeschenkt in Langen Nächten. Launig prosten die Besucher einander zu, auf »das bunte Programm« und »die ungewöhnliche Uhrzeit«, auf die Shuttlefahrkarte, die im Preis inklusive war, da kann man nicht meckern. Sie meckern nicht. Erst am Morgen, wenn der Kater kommt, weil der Riesling doch nicht so toll war wie die Laune. Ist er nie. Oder nur bei der Langen Nacht der Weinkeller, aber die findet erst im November statt, in Baden.

Das Konzept der Langen Nacht wurde in Berlin erdacht, 1997 war das. 29 Museen nahmen teil, 6000 Tickets wurden verkauft. Man könnte diesen Urhebern zugutehalten, dass damals noch aufgegangen sein mag, was der Sinn der Veranstaltung sein sollte: Besucher jenseits des Stammpublikums anzusprechen, auch die sogenannten bildungsfernen Schichten in die Häuser zu locken. Aber allzu bald wurden diese ersten Nächte auf Expo-ähnliche Ausmaße aufgeblasen. Kulturbeauftragte planten Diskussionen, Konzerte und DJ-Sets dazu, Vorträge, Tombolas und Fressmeilen. Immer mehr sollten kommen, und an den Zahlen gemessen hat das auch geklappt: In Berlin stapfen mittlerweile zum Beispiel 35 000 Menschen zur Langen Nacht der Museen, in Hamburg und Stuttgart rund 30 000. Was die Zahlen nicht verraten: wie diffus die Programme im Zuge der Gigantomanie geworden sind. Breit, aber dadurch flach. Mittlerweile kann, wer nicht erschlagen vor Überforderung schon am Bratwurstgrill hängenbleibt, in der Berliner Nacht der Museen aus knapp 80 Stationen und mehr als 800 Programmen wählen. So lenkt die Lange Nacht selbst von den Museen ab, die sie bewerben will. Sie ist zum Event verkommen.

Und als solches zieht sie ein Publikum an, das ich als Eventpublikum wahrnehme: Leute, die sich alles ein bisschen anschauen, aber nichts so ganz. Wohl dem, der sich diesem Wahnsinn zu entziehen weiß. Die Staats­galerie in Stuttgart stieg schon 2013 aus der dortigen Langen Nacht aus, was für viel Aufsehen sorgte, weil damit zum ersten Mal eine Kulturinstanz das Konzept anz­weifelte. Der finanzielle und organisatorische Aufwand sei immens, erklärte der Kaufmännische Leiter, bringe aber keinen nachhaltigen Besucherzuwachs.

Es hätte der Anfang vom Ende der Langen Nacht sein können. Wenn da nicht all die anderen Branchen gewesen wären, die den cool gelabelten Präsentiermodus für sich entdeckten, völlig ungeachtet der Frage, ob sie etwas zu präsentieren hatten. Eines Nachts, das scheint fast sicher, wird alles kulminieren in der Langen Nacht der Langen Nächte. Ein Albtraum. Ich möchte aufwachen. Aber dafür müsste ich erst mal einschlafen, und das darf ich nicht, es ist ja Lange Nacht, und es gibt noch so viel zu sehen.