Die Schlacht endet im Morgengrauen. Nur in Boxershorts gekleidet und bleich vor Müdigkeit stehe ich mit zerstochenem, wundgekratzten Körper auf dem Bett einer portugiesischen Ferienwohnung. Mit zusammengerollter Zeitschrift in der Hand sehe ich der Mücke zu, die auf der weiß getünchten Wand mit zerquetschtem Körper noch einmal zuckt, ihr linker Flügel hebt sich schwach. Will sie mir noch etwas sagen? Mir gratulieren? Mich verfluchen? »Gut gekämpft«, sage ich leise und kratze ihren nun leblosen Leib ab, der sanft zu Boden schwebt. Den Blutstropfen lasse ich an der Wand, die kleinste Jagdtrophäe der Welt.
Am Ende dieser schlaflosen, blutigen Julinacht in Portugal geht es mir wie Santiago, Hemingways Romanfigur in Der alte Mann und das Meer. Das lange, erbarmungslos hin und her tobende Gefecht hat meinen Hass aufgebraucht. Wie sehr hatte ich gegen Mitternacht den Tod dieser Mücke herbeigesehnt, als ihr Summen mich aus dem erst kurzen Schlaf riss. Aber jetzt, etwas nach fünf Uhr morgens, fehlt meinem späten Sieg die Freude. Die Wut auf diesen miesen kleinen Blutsauger ist dem Respekt vor seinen Fähigkeiten gewichen. Wie die kleine Mücke über Stunden gegen mich, einen absurd viel größeren, kräftigeren und eigentlich klügeren Gegner bestanden hat. Ernest Hemingway hat über Stierkämpfe geschrieben und über die Großwildjagd, Herman Melville über den Walfang – warum gibt es keine Weltliteratur über den Kampf Mann gegen Mücke? Sie hätte diese Würdigung verdient. Einen Löwen mit einem Zielfernrohr erlegen kann jeder, aber eine Mücke in einem möblierten Zimmer aufzuspüren, verlangt Ausdauer und Taktik.
Die ersten vier in dieser Nacht waren noch leichte Opfer. Sie saßen in Kopfhöhe an der Wand, einfach so. Selbst wenn ich zu langsam ausholte oder danebenschlug, flogen sie nur einen Meter weiter nach links, wo ich sie … PATSCH! Aber die fünfte war gerissen, fast schon unheimlich clever. Mücke und Tücke, das klingt nicht zufällig ähnlich. Sie kannte jede unzugängliche Ecke, steuerte fintenreich durch den Luftraum, ein roter Baron, mal unerreichbar hoch fliehend, mal in Knöchelhöhe angreifend. Sie drehte vorausahnend ab, sobald ich das Licht anknipste und mit noch zusammengekniffenen Augen die Wände nach ihr absuchte. Da saß sie längst still im Dunkeln – lauernd, vielleicht kichernd, bis ich die Lampe wieder löschte.
Leider kann ich nicht schlafen, wenn eine Mücke im Raum ist. Das macht mich zu einem unerträglichen Zimmergenossen von Mai bis September. Damals etwa, 1997, die Abi-Abschlussfahrt nach Italien: Matthias, mein guter Schulfreund, schlief tief, als die blöde Mücke, die schon zig meiner Schläge entkommen war, sich auf seine Stirn setzte. Was tun? Sie wegpusten und auf den Luftkampf setzen? Dafür war ich zu genervt. Ich schlug mit der flachen Hand auf die Stirn. Nicht zu sanft, ich wollte die Mücke sicher erlegen. »SPINNST DU!?!«, zischte mich der vom Schmerz erwachte Freund an, der nur knapp von der Revancheohrfeige abzubringen war. Mein Einwand »Aber schau doch! Da ist noch dein Blut an meiner Hand!« war ihm egal.
Wirklich, ich habe versucht, mit Mücken zu leben. Ich habe Ohropax probiert (irritieren mich zu sehr), ich habe mich unter der Bettdecke luftdicht verbarrikadiert – bis kurz vor dem Hitzschlag. Ich habe auf dem Bauch liegend ein Bein demonstrativ hochgehalten, den Mücken ein Opfer darbringend, dort, wo mich der Juckreiz am wenigsten plagen würde. Die Mücke flog stattdessen in mein Ohr. Autan? Ich habe Mücken direkt angesprüht – und sie flogen munter weiter. Ich besitze nutzlose Anti-Mücken-Armbänder, Anti-Mücken-Kerzen, Anti-Mücken-Steckdosenstecker (die mit Ultraschall und die mit Biozidverdampfer), ich kenne alle Anti-Mücken-Hausrezepte. Ich habe einmal extra große Spinnen gesammelt (die müssten doch die größten Netze bauen) und im Schlafzimmer ausgesetzt. Vergeblich. Darf man Fledermäuse in der Wohnung halten?
Das Seltsame ist: Ich mag Mücken. Ich mag das Versteckspiel, trotz aller Müdigkeit. Es ist einer der wenigen fairen Wettkämpfe Mensch gegen Tier. Wie gut es sich anfühlt, die Mücke nach zwei Stunden – oder zwei Tagen – hinter einer Stuhllehne zu entdecken. Wie man den Atem anhält, wenn man sich laaangsam heranschleicht, die Handinnenfläche sich ihr Zentimeter für Zentimeter nähert. Meine Obsession für Mücken teile ich mit dem Regensburger Mückenforscher Andreas Rose, der sie seit zwanzig Jahren studiert. Rose sagt, es seien faszinierend konstruierte Wesen: der Stechrüssel, der unsere Haut aufschneidet und mit feinen, beweglichen Borsten im Fleisch die Blutkapillaren sucht, die Rezeptoren, mit denen die Mücken den Kohlendioxidgehalt unserer Atemluft aus zwanzig, dreißig Metern wahrnehmen.
Und man muss mal sagen: Mücken sind nicht böse. Die Männchen sind eh harmlos, die Weibchen trinken unser Blut nur, wenn sie das Protein darin brauchen, um Eier zu legen. Die Mücke tötet weltweit zwar mehr Menschen als Löwe oder Weißer Hai – 700 000 Tote pro Jahr –, aber die Malariamücke überträgt die Krankheit unbeabsichtigt, wenn sie vorher einen infizierten Menschen gestochen hat.
An diesem Abend in Portugal hatte die Mücke eigentlich schon gewonnen: Sie hatte mein Blut bereits in sich, kurz nach fünf Uhr am Morgen, aber vielleicht hatte sie es zu gierig aus meinem kurz eingenickten Körper gesaugt. Als ich hochschrecke, sehe ich sie langsam davonfliegen, prall gefüllt, das satte Rot schimmerte durch ihren Körper. Sie hätte wieder hinter den Schrank fliehen können (verfluchter schwerer Eichenschrank!) oder unters Bett, der alte Mückentrick, aber wir sind wohl beide des Versteckspiels müde. Sie stirbt durch eine alte Ausgabe des Spiegel, auf der Papst Franziskus auf dem Titel abgebildet ist, benannt nach Franz von Assisi, dem Freund aller Tiere. Darf man Mücken überhaupt guten Gewissens töten? Ich weiß es nicht.
Seit mehr als dreißig Jahren liefere ich diese blutigen Kämpfe. Einmal erschlug ich mitgezählte 321 Mücken binnen einer Urlaubswoche am Rhein (bei etwa vierzig Stichen ein klarer Sieg), aus der französischen Camargue dagegen musste ich vor Millionen von Mücken an die Atlantik- küste fliehen. Ich habe Tausende getötet, Tausende haben mich gestochen. Und doch bin ich traurig, wenn ich nachts keine mehr höre. Dann kommt der Winter.
Illustration: Mouni Feddag