»Raststätten sind die Visitenkarten unseres Landes«

70 Cent für einmal pinkeln, 3,99 Euro die Dose Red Bull – und Fernweh gratis. Kurz vor den Ferien: ein Gespräch mit dem Pächter Willy Habermeyer über den heimlichen Sehnsuchtsort der Deutschen.

SZ-Magazin: Herr Habermeyer, Sie sind auf der Autobahn unterwegs, plötzlich müssen Sie pinkeln. Was machen Sie?
Willy Habermeyer: Ich suche eine Raststätte, fahre raus und gehe aufs Klo. Inzwischen gibt es überall moderne Sanifair-Toiletten, die sind hygienisch und ordentlich, im Hintergrund läuft Musik, eine saubere Sache.  

Und teuer: Seit letztem Jahr kosten die nicht mehr 50, sondern 70 Cent.

Als Raststätten-Pächter habe ich Gott sei Dank die goldene Sanifair-Karte bekommen, mit der kann ich kostenlos rein. Funktioniert ähnlich wie die Senator-Karte der Lufthansa.

Herzlichen Glückwunsch, wir finden 70 Cent alles andere als fair. Vor allem, da man nur 50 Cent mit dem Sanifair-Bon beim Kauf einlösen kann: Pinkeln kostet also wieder Geld.
Sie beschweren sich beim Falschen, die Preise machen nicht die Pächter. Vor ein paar Jahren hat der britische Investor Guy Hands den größten Teil der deutschen Raststätten aufgekauft, seitdem erhöht er die Pacht und zwingt die Betreiber, den Kunden das Geld aus der Tasche zu ziehen. Das Sanifair-System ist trotzdem toll. Früher, als die Raststätten noch in Staatsbesitz waren, sahen die Toiletten furchtbar aus, verdreckt und verschmiert, sogar Junkies hatten wir in den Kabinen.

Aber die Erhöhung auf 70 Cent ist eine Schweinerei. Die Pächter profitieren doch von der Erhöhung.
Nein, die 20 Cent fließen in die Tasche des Eigentümers. In den Sechzigerjahren konnte eine Familie noch allein vom Toilettengeld richtig gut leben. 20 Pfennig Gebühr, mehrere Millionen Kunden im Jahr, das war eine Goldgrube. Heute leiden die Pächter selbst unter der Preiserhöhung.

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Inwiefern?
Weil die Leute sauer sind, so sauer, dass sie nicht mal mehr meckern. Die haben mit dem Thema abgeschlossen. Von Januar bis März hatte ich auf der Holledau und meinen drei anderen Raststätten 72 000 Gäste weniger auf dem Klo als im Vorjahr, obwohl ich im gleichen Zeitraum mehr Benzin verkauft habe. Die pinkeln einfach in die Büsche. Letzten Sommer musste ich Feuerwehrschläuche besorgen und das Areal jeden Abend abspritzen, so bestialisch hat es gestunken.

Warum haben Sie keine Zäune gebaut?
Haben wir, aus Maschendraht, aber die Leute sind drübergestiegen. Ich habe dann engmaschigere aufstellen lassen, fand ich nicht gut, aber was blieb mir anderes übrig?

Lösen eigentlich viele Kunden den Toiletten-Bon für ihren Einkauf ein?
Immer mehr. Die Menschen schenken nichts her. Die meisten kaufen sich einen Espresso oder einen Schokoriegel. Als die Bons im Jahr 2003 eingeführt wurden, habe ich sofort Duplo und Hanuta aus dem Sortiment gestrichen.

Warum das denn?
Weil beide nur 40 Cent gekostet haben. Ich will aber nicht, dass die Leute Geld rauskriegen, sondern drauflegen, schließlich muss ich an Sanifair eine ziemlich hohe Gebühr zahlen. Es ist also am besten, wenn es nur Sachen gibt, die mehr als 50 Cent kosten. Gott sei Dank hat die Bild-Zeitung den Preis auf 60 Cent erhöht, die war uns lange ein Dorn im Auge. Inzwischen haben sich die Bons zu einer richtigen Währung entwickelt. Auf Amazon und Ebay werden sie gehandelt, arme Leute suchen in unseren Mülleimern danach, Busfahrer nehmen sie als Trinkgeld. Es kommt immer wieder vor, dass einer zwanzig Bons auf den Tresen legt und Zigaretten will.

Ihre Eltern haben die Raststätte Holledau 1953 übernommen, Sie haben das Geschäft von Grund auf gelernt. Trotzdem mussten Sie im April Konkurs anmelden. Was ist passiert?
Viel zu hohe Pacht. Viel Pech. Viele Baustellen. Am Ende konnte ich nicht mehr mithalten.

Was ist so schlimm an Baustellen?
Sie machen einem das Geschäft kaputt. Auf zwei meiner Raststätten konnte man kaum noch parken, ist doch klar, dass da jeder weiterfährt, auf der dritten haben sie mir monatelang die Porsche-Spur auf die Gegenfahrbahn umgeleitet.

Sie meinen die linke Spur?
Ja. Rechts fahren die Laster, in der Mitte ist die Opel-Spur, links die Porsche-Spur, auf der die kaufkräftigen Leute unterwegs sind, die mit Anzug und Kreditkarte. Wenn die Porsche-Spur aber wegen einer Baustelle auf die Gegenfahrbahn geleitet wird, halten diese Leute nicht mehr an deiner Tankstelle. Selbst wenn sie wollten, sie kommen gar nicht mehr rüber. Am Ende hatte ich im Restaurant vierzig und an der Tankstelle zwanzig Prozent Verlust.

Hotels, Schulen, Restaurants, Zugabteile – fast nirgendwo treffen Menschen unterschiedlichster Herkunft noch aufeinander. Kann man sagen, dass die Autobahnraststätte einer der letzten demokratischen Orte ist?
Nicht ganz. Die Reichen und Wichtigen kriegen wir nicht, die nehmen den ICE oder das Flugzeug, aber unsere Bandbreite ist ziemlich groß: Die meisten sind Angestellte und Handwerker, dann kommen die Schlipsträger und Touristen, zum Schluss Familien und Rentner. Sie wissen schon, die in den Bussen.

Und die Lkw-Fahrer – wohin fahren die?
Zum Autohof, das ist eine komplett andere Welt. Die sind tagelang allein auf Tour, brauchen Ansprache und freuen sich, wenn die Bedienung mit ihnen plaudert. Sie legen Wert auf gute Duschen und große, günstige Portionen, kein Fertigzeug, sondern ehrliche Küche, Bratkartoffeln mit Butterschmalz, und zwar mit richtigem Butterschmalz und nicht mit diesem Öl, das wie Butterschmalz schmeckt und einem die ganze Nacht im Magen liegt.

Auf dem Autohof ist es günstiger?
Ja, die Dose Red Bull kostet an der Raststätte 3,99 Euro, auf dem Autohof 2,49 Euro. Die Raststätten sind zu teuer, das weiß jeder, aber die Pächter werden gezwungen, diese Preise zu nehmen.

Warum fahren dann nicht mehr Leute zum Autohof?
Faulheit. Die Autohöfe liegen ja immer etwas abseits der Autobahn. Dazu kommt, dass die Atmosphäre ziemlich rau ist, da sitzen die Fernfahrer im Sommer in Unterhemden und Shorts und trinken den halben Abend Bier. Dort würde ich mit meinen Kindern nur ungern Pause machen.

Wie lange halten sich die Menschen an der Raststätte auf?
Mit Restaurantbesuch eine Dreiviertelstunde, ohne zwanzig Minuten. Nicht alle, die unsere Ausfahrt nehmen, tanken oder kaufen was. Ungefähr die Hälfte will einfach nur eine Pause machen. Wenn es regnet, machen wir zehn Prozent mehr Umsatz, dann suchen die Leute Geborgenheit. Entscheidend ist auch, auf welcher Seite die Raststätte liegt. Richtung Süden ist der Umsatz besser, da freuen sich die Leute auf ihren Urlaub und kaufen den Kindern Stofftiere, auf dem Nachhauseweg ist das Geld weg, da kaufen viele nur noch eine Fernsehzeitschrift, aber die ist wichtig, schließlich fängt jetzt der Alltag wieder an.

Was ist das Wichtigste für die Kunden, wenn sie zur Raststätte kommen?
Erst Toilette, dann essen und trinken, zuletzt tanken – ist empirisch belegt.

Eigentlich ist die Raststätte ja ein Un-Ort, an dem man nur hält, um das Notwendigste zu erledigen. Können Sie diese Sicht verstehen?
Nicht wirklich. Wir sind ein Transitland, und da sehe ich die Raststätten als die Visitenkarte unseres Landes. So wie Flughäfen oder Bahnhöfe, die Knotenpunkte unserer Infrastruktur. Die Deutschen haben noch ein sehr pragmatisches Verhältnis zu den Raststätten, aber in Italien zum Beispiel gehört der Besuch zu jeder Reise dazu. Inzwischen ändert sich das hier auch, fast ein Drittel der Kunden sind Stammgäste.

Raststätte und Stammgast – das klingt wie ein Widerspruch.
Kommt drauf an, wen man als Stammgast bezeichnet. Wenn ein Pharmavertreter in einem Jahr drei- oder viermal nach München fährt und dabei immer an derselben Raststätte stoppt, ist er ein Stammgast. Er hat sein Lieblingsgericht, kennt die Bedienung und weiß, wo die Toiletten sind. Wenn er dann noch gefragt wird, ob er wieder die Bratwürste mit Kraut will, ist er glücklich und kommt wieder. Es gibt viele Menschen, die bewusst rausfahren, für die ist die Raststätte kein anonymer Ort, sondern einer mit eigener Atmosphäre und Identität.

Haben Sie diese Leute persönlich kennengelernt?
Meine Eltern kannten noch viele, heute geht das nicht mehr. Zu viel Büro- und Verwaltungsarbeit. Aber es gibt einen älteren Herrn, der ist oft Gast im Hotel in der Holledau, genau genommen fünfmal in der Woche. Und jedes Mal wollte er von mir begrüßt werden. 250 Tage im Jahr auf der Raststätte – was für ein Mensch ist das? Ich kenne ihn nicht weiter. Er fährt einen alten Mercedes. Ein geheimnisvoller Mensch.

Vielleicht trifft er eine Frau?
Nein, er ist immer allein, aber das Thema Seitensprung darf man nicht unterschätzen. In unserem Hotel gibt es auch Tageszimmer, das heißt, man zahlt den vollen Preis, übernachtet aber nicht. Die sind gedacht für Leute, die nachts fahren und tagsüber ein bisschen Schlaf nachholen wollen. Tatsächlich aber treffen sich hier auch oft Liebespaare. Früher stand hier ein »Best-Western«-Hotel, vier Sterne, richtig gut, heute ist es ein Zwei-Sterne-Hotel, nach 23 Uhr steht niemand mehr an der Rezeption. Auch dafür ist der neue Investor verantwortlich.

Man kann nach elf Uhr abends nicht mehr einchecken?

Einchecken schon, aber nur an einem Automaten. Das schreckt viele ab, vor allem ältere Menschen kommen mit der Technik nicht zurecht und fahren weiter. Die Auslastung liegt nur noch bei 35 Prozent. Einmal hat eine Rockerbande sämtliche Türen aufgebrochen und abgeräumt; damals gab es wenigstens noch einen Nachtportier, der hat die Polizei gerufen.

Wurde die Tankstelle mal überfallen?
Sechs- oder siebenmal, mit Pistole und allem Drum und Dran, ist aber immer glimpflich ausgegangen. Einmal bekam ein Mitarbeiter einen Streifschuss ab.

Hat man die Täter geschnappt?
Immer. Eine Autobahntankstelle zu überfallen ist das Dümmste, was man machen kann: Man kann nur in eine Richtung flüchten, die Polizei ist wenige Minuten nach dem Überfall da, auf der Autobahn sind mittlerweile so viele Zivilpolizisten unterwegs, irgendeiner ist immer in der Nähe.

»Motoröl kauft kein Mensch mehr«

Sie haben Ihr gesamtes Leben an der Autobahn verbracht. Galt man in der Nachkriegszeit als jemand, wenn die Eltern eine Raststätte betrieben?
Das hängt davon ab, wer gefragt hat. Viele haben mich beneidet, weil man mit einer Raststätte damals gutes Geld machen konnte. Aber viele haben uns auch einfach nur als Imbissbudenbesitzer einsortiert.

Hat Ihnen das was ausgemacht?
Mir war das egal, ich habe die Zeit auf der Raststätte immer genossen. Der Traum, ins Auto zu steigen und alles hinter sich zu lassen, lag immer in der Luft. Die Leute hier hatten gute Laune, weil sie auf dem Weg in den Urlaub waren, raus aus dem Alltag. In den Ferien habe ich als Tankwart gejobbt. Ich weiß noch, wie wir uns immer gefreut haben, wenn ein Auto aus Belgien angerollt kam, die haben oft zwei Mark Trinkgeld hergegeben, das war viel Geld. Manchmal, wenn ich am Samstagmorgen um fünf Uhr von der Disco heimkam, standen die Autos schon Schlange und die Sonne ging auf, dann bin ich auch nicht mehr ins Bett, sondern habe mitgeholfen.

Gehörte zu Ihrer Kindheit auch, dass Sie den ganzen Tag Süßigkeiten essen konnten?
Damals durfte man an der Tankstelle noch keine Süßigkeiten verkaufen, nur »Hallo Wach«, eine Art Blechdose mit Bitterschokolade, die wach gehalten hat, aber die durfte ich nicht essen, weil ich sonst nachts nichts einschlafen konnte. Heute gibt es ziemlich absurde Produkte zu kaufen: Motivkrawatten, Lesebrillen, sogar ein Kratzgerät für den Rücken.

Wer kauft so was?
Es gibt sogar Steine, so eine Art Kraftsteine. Klingt absurd, aber ab und zu kommt halt eine Busladung älterer Damen, und die kaufen das dann.

Haben Sie das Sortiment ausgesucht?
Dafür gibt es Spezialisten, die den kompletten Einzelhandel sichten. Anschließend beschließt eine Kommission von Pächtern, welche Produkte ins Sortiment aufgenommen werden. Man kriegt aber nicht alles. Anfang der Neunzigerjahre wollte ich unbedingt Diddl-Maus-Produkte verkaufen. Ich bin auf die Frankfurter Buchmesse und habe mit den Leuten vom Verlag verhandelt: Spinnst du, haben die gesagt, wir machen uns doch unseren guten Namen nicht an einer Tanke kaputt. Inzwischen haben wir auch Bücher, aber keinen Philip Roth, sondern Krimis und Liebesromane.

Was verkauft sich am besten?
Red Bull. Vor Cola und Kaffee.

Sie meinen Red Bull in der Mini-Dose für 3,99 Euro.
Genau. Da schauen die Leute nicht auf den Preis. Die wollen wach bleiben. Red Bull hat ein super Image, vor allem bei den Jungen natürlich, dabei schmeckt es viel zu süß, finde ich.

Motoröl?
Kauft kein Mensch mehr.

Essen?
Pommes, Wurstsemmeln, Bratwurst, Bockwurst, der Deutsche isst immer noch wahnsinnig gern Wurst.

In Ihrer Raststätte bieten Sie Dom Pérignon an. Wer kauft denn Champagner auf der Autobahn?
Irgendeinen gibt es eben immer, der jemand anderen beeindrucken möchte.

Und die hausgemachte Marmelade, gleich neben den Mozartkugeln …
… macht meine 85-jährige Mutter. Damit verdient man kein Geld, aber meiner Mutter macht es Spaß, und die Marmelade schmeckt hervorragend. Früher haben wir viel selbst hergestellt: Wir hatten unsere eigene Konditorei und Metzgerei, da war alles vom Feinsten. Wir waren als einzige Raststätte Deutschlands im Guide Michelin erwähnt. Geht heute alles nicht mehr. Die Tank & Rast und Guy Hands wollen alles vereinheitlichen, sogar der Kartoffelsalat soll überall gleich schmecken. Der Charme geht verloren, überall wird das Essen nach Franchise-Regeln zubereitet, das schmeckt meistens einfach nur langweilig.

Wann hat der Job aufgehört, Spaß zu machen?
Als ich nicht mehr Unternehmer sein durfte. Früher war es so, dass nur die faulen Pächter unter die Räder kamen, heute trifft es alle. Früher konnte ich meinen Umsatz beeinflussen, ich musste nur gute Ideen haben, ein Marketingmensch würde sagen: Alleinstellungsmerkmale schaffen. Das hat richtig Spaß gemacht. Ich habe eine gemütliche Einrichtung aus Holz einbauen lassen, charmante Bedienungen mit Dirndl eingestellt und dreimal im Jahr einen teuren, aber professionellen Gärtner für die Beete bestellt. Im Prinzip ist es doch ganz einfach, Menschen wollen irgendwo reinkommen und wahrgenommen werden. Mehr ist es nicht. Sogar Spiegel habe ich im Restaurant anbringen lassen, damit die Leute ein bisschen flirten können. Und selbst wenn die hübsche Frau vom letzten Mal nicht mehr da saß, die Erinnerung und das warme Gefühl waren noch da. Sogar nach New York und San Francisco bin ich geflogen, um zu schauen, wie die das machen. Ich wollte lernen, besser werden, den Kunden was bieten.

Und heute?
Darf ich nicht mal mehr die eigene Speisekarte schreiben. Ich bin nur noch der Verwalter. Ist das Sortiment aufgefüllt? Sind die Angestellten da? Das sind so meine Fragen. Der Investor hat alles auf den Kopf gestellt und unsere Pachtverträge neu interpretiert. Der hat in den Tankstellenshop zwei Metallregale reinschieben lassen – weil in den Verträgen steht, dass die Pacht bei verkaufsfördernden Veränderungen erhöht werden darf. Und anschließend hat er 5000 Euro draufgeschlagen.

Hat es auch etwas Gutes, da nicht mehr mitmachen zu müssen?  
Was soll ich sagen, ich bin ganz unten, aber endlich wieder frei. Ich bin der Erste, den es erwischt hat, meine Kollegen sind schockgefrostet, aber diese Pachten sind ein lebendiges Grab. Irgendwie bin ich glücklich, aus diesem Gefängnis raus zu sein.

Wenn Sie in Zukunft von Berlin nach München fahren, halten Sie an der Raststätte Holledau?
Nein, da noch mal hin und mit ansehen, wie sich alles verändert hat, nein, das schaffe ich nicht.