Vor ein paar Tagen saß ich mit meiner Tochter auf dem Sofa und las ihr aus »Pippi Langstrumpf« vor, dabei kuschelte sie sich auf mich und schnurrte: »Mama, du bist sooo gemütlich!« Im ersten Moment fand ich das sehr innig und sehr schön. Im nächsten dachte ich: Toll, hab ich also einen weichen Bauch, trotz der ungefähr hunderttausend Sit-ups, die ich in meinem Leben schon gemacht habe. Ich merkte, wie ich beim Vorlesen kurz wegdriftete und mir vornahm, auf jeden Fall noch mein Pilates-Programm zu machen, wenn die Kinder im Bett waren. Denn: In dem Wertesystem, das ich bislang an meinen eigenen Körper bislang anlegte, war ein fester Bauch besser als ein weicher.
Ich las weiter. Pippi mischte gerade ein Kaffeekränzchen auf, als ich erschrak. Nicht vor dem scheppernden Porzellan, das im Buch zu Bruch ging – sondern vor mir selbst. Erst vor ein paar Wochen habe ich ein Interview mit der australischen Kinderbuchautorin Jessica Sanders (SZ Plus) geführt. Wir sprachen darüber, wie man Kindern helfen kann, ein gesundes Körperbild und Selbstliebe zu entwickeln, Sanders hatte zu dem Thema kurz zuvor ein Buch veröffentlicht: »Liebe deinen Körper«. Sanders sagte in dem Gespräch: »Eltern sind in der Regel die größten Vorbilder ihrer Kinder. Es ist wichtig, dass sie Selbstliebe vorleben. Nur so lernen ihre Kinder, sich selbst und damit andere gut zu behandeln.« Ich schrieb das damals so auf, weil es mir logisch vorkam. Aber in diesem Moment auf dem Sofa begriff ich, wie viel es mit mir selbst zu tun hat.
Sanders hatte gesagt, wir sollten mit unseren Kindern darüber sprechen, »wie stark unsere Beine sind, die uns jeden Tag tragen, oder wie clever unsere Augen sind, dass wir mit ihnen Vögel am Himmel beobachten können«. Also Kindern eine eher praktische und weniger ästhetische Sicht auf den Körper und all das, was er kann, beibringen. Dann hätten sie es später deutlich leichter, ihren Körper toll zu finden und dankbar dafür zu sein, was er kann.
Früher war das bei mir so. Ich habe immer viel Sport gemacht und deshalb nie ein ernsthaftes Problem damit gehabt, wie mein Körper aussah, solange er das tat, was ich von ihm wollte. Es ging um die Bewegung an sich, also hoch springen, schnell laufen oder lange im Handstand stehen zu können, und nicht darum, fit und schlank zu sein. Doch irgendwie ist mir dieser pragmatische Blick auf meinen Körper in den vergangenen Jahren abhanden gekommen. Vor allem seit ich Mutter bin. Durch den Job hatte ich schon vorher viel weniger Zeit für Sport, aber seit die Kinder da sind, muss ich mich extrem gut organisieren und disziplinieren, um auf ein Pensum zu kommen, mit dem ich mich wohlfühle (so, wie es vermutlich den meisten Müttern auf der Welt geht). Trotzdem habe ich den Maßstab, den ich an mich selbst anlegte, nie bewusst verändert – und verglich deshalb meinen heutigen Bauch mit jenem vor 15 Jahren. Wie ungerecht. Wie dumm.
Ich zog mein T-Shirt hoch, klopfte auf meinen Bauch und sagte zu meiner Tochter: »Weißt du, warum der so weich ist? Weil du und dein Bruder da drin gewachsen seid.« Außerdem eignet er sich hervorragend als Kinder-Kissen, dachte ich, während meine Tochter ihren Zeigefinger in meinen Bauchnabel bohrte, und der Gedanke gefiel mir: Mein Bauch ist nicht nur weich, er ist vor allem »gemütlich«, also irgendwie nützlich – so, wie er ist.
Ich hatte schon häufiger das Wort Wunder im Kopf, wenn ich mit diesem warmen Gefühl in der Brust an meine Kinder dachte und daran, wie sie entstanden und zu den Menschlein geworden sind, die ich heute jeden Tag in den Arm nehmen darf. Aber ich habe das Wunder eher mit etwas Metaphysischem und nie mit meinem Körper an sich in Verbindung gebracht. Der sollte am besten einfach wieder so sein wie vor den beiden Schwangerschaften und Geburten. Ich habe ihm nie wirklich zugestanden, dass er jetzt ein anderer ist – und sein darf. Und ich glaube, dass es vielen Müttern ähnlich geht: Dass sie sich selbst und ihren Körper nicht ausschließlich für das feiern, wozu er während Schwangerschaft (einen anderen Menschen in sich wachsen lassen!) und Geburt (diesen Menschen auf die Welt bringen!), aber auch in den Wochen, Monaten, ja Jahren danach (diesen Menschen mit dem Wichtigsten versorgen, was er zum Überleben braucht!) imstande ist, sondern schlaffe Haut, Augenringe oder graue Haare als Fehler ansehen.
Es gibt diesen Spruch, dass jede Narbe eine Geschichte erzählt
Ich habe mich zwar nie groß gegrämt, wenn ich mich im Spiegel angeschaut habe, aber liebevoll war mein Blick auch nicht gerade. Und wenn mein Mann zu mir sagte: »Ich finde dich schön!«, dachte ich automatisch (und sagte es sogar manchmal): »Naja, für eine Frau, die zwei Kinder bekommen hat, ist es schon okay...« Niemand sieht einen so genau und so kritisch an wie man selbst, wenn man alleine und nackt und ungeschminkt im Bad steht. Wie oft habe ich morgens nach einer durchwachten Baby-Nacht gedacht, dass ich mit diesen Augenringen nicht mal zum Bäcker gehen will – und schnell Concealer draufgeschmiert, bevor mich jemand so sieht. Würde ich die pragmatische Sicht von Sanders auf die Schatten und Furchen in meinem Gesicht anwenden, könnte ich sie aber sogar als eine Art Auszeichnung betrachten: dafür, dass ich das Wohlergehen eines kleinen Wesens über mein Bedürfnis nach Schlaf gestellt habe. Dafür, dass ich dieses kleine Wesen durch Bauchweh, Hunger und schlechte Träume begleitet habe, und am Morgen trotzdem mit dem Wecker aufgestanden bin, um pünktlich am Schreibtisch zu sitzen.
Es gibt diesen Spruch, dass jede Narbe eine Geschichte erzählt. Gedehnte Haut und müde Augen sind zwar keine Narben, aber wenn ich nur kurz nachdenke, fallen mir zu jedem vermeintlichen Makel an meinem Körper gleich mehrere Geschichten ein, die ihn zu einem Beweis für seine – und damit meine – Stärke machen.
Ich ärgere mich, dass mir das erst jetzt klar wird. Erst, als ich darüber nachgedacht habe, wie ich meinen Kindern dabei helfen kann, sich selbst gut zu finden. Es ist ein Phänomen, das vermutlich viele Eltern kennen werden: Dass das Nachdenken über die Erziehung oder Begleitung der Kinder plötzlich zum Nachdenken über sich selbst oder das Leben im Großen und Ganzen wird. Zu einer Art umgekehrter Selbsterkenntnis und -therapie. Wie oft zum Beispiel haben mich die Kinder mit scheinbar absurden Wünschen oder Marotten (»Ich kann ohne meinen Kuschelkoala nicht in die Kita!!«) schon ausgebremst, wenn ich mal wieder ungeduldig durch den Tagesplan gehetzt bin – und mir damit gezeigt, dass es viel besser ist, dem eigenen Rhythmus zu folgen, als sich ständig stressen zu lassen.
Kinder brauchen uns als Vorbilder, aber wir brauchen unsere Kinder manchmal als Spiegel unserer eigenen Verhaltens- und Denkmuster. Wenn es gut läuft, wie hoffentlich bei unserer Selbstliebe, dann wächst von beiden Seiten aus etwas Neues. Und das ist viel größer als alles, das man alleine geschafft hätte.