Masche für Masche

Das Stricken war für unsere Autorin immer mit ihrer Mutter verbunden. Als diese stirbt, gibt die Tochter das Hobby auf. Doch nun traut sie sich, den Faden wieder aufzunehmen. Eine Geschichte über Trauer und Erinnerung.

Foto: Imani / Unsplash

Das Lila ist bis heute das strahlendste, das ich je gesehen habe. Die Strickjacke leuchtete schon von Weitem, ihre Blende bestand aus einer komplizierten Reihe mehrfarbiger Schmetterlinge. Sie war wunderschön. Ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, als meine Mutter sich diese Jacke strickte. Ich erinnere mich genau an ihren konzentrierten Blick, die vornüber gebeugte Haltung, die tiefen Stirnfalten, ihre rotbraune Dauerwelle und unsere schwarze Ledercouch, auf der sie immer vor dem Fenster saß. Dort war das beste Licht zum Stricken. Mehrere Nadeln steckten in jenem Teil mit den Schmetterlingen; wenn ich sie etwas fragte, bekam ich oft als Antwort: »Warte kurz, ich muss mich konzentrieren.« Meine Mutter war eine Meis­terin im Stricken, die Metallnadeln klapperten zwischen ihren flinken Fingern. Ihr Strickzeug lagerte in einem großen Bastkorb neben der wuchtigen Couch, wenn sie mal nicht strickte.

Schon früh brachte sie auch mir das Stricken bei, dann saßen wir nebeneinander auf dieser Couch in unserem Wohnzimmer, wo es laut meiner Mutter immer ein bisschen nach Kamelscheiße roch. Dafür waren die Teppiche verantwortlich, die mein Vater von seinen Montage-Reisen aus Saudi-Arabien mitgebracht hatte. Kamelscheiße ist schwarz, ihre Flecken auch. Unser großer Teppich hatte an einer Ecke viele davon.

Ich konnte nie besonders gut stricken, aber ich tat es gern. Stricken beruhigt. Man fokussiert sich auf die richtige Bewegung und hat ein sofortiges Erfolgserlebnis. Die Konzentration auf Wollfaden und Nadeln schiebt allen Alltagsmist aus dem Kopf. Da ist einfach kein Platz mehr neben Masche links, Masche rechts. Ich strickte simple Dinge wie Mützen oder Pullunder für meine Kuscheltiere. Was ich allerdings immer wieder vergaß: die erste Reihe. Der Maschenbeginn ist eine ziemlich bizarre Abfolge von Fingerbewegungen mit nur einer Nadel – bis in meine Zwanziger musste mir meine Mutter die erste Reihe stricken. Sie machte den Anfang. Das war ihre große Stärke, in allem.

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Meine Mutter war immer die Erste. Die Erste, die von zu Hause auszog, die Erste, die heiratete, die Erste, die sich scheiden ließ, die Erste, die ein Kind weitgehend allein großzog. Dann auch die Erste, bei der Krebs diagnostiziert wurde, mit Ende 40. Darmkrebs. Einen, den man mit früher angesetzter Vorsorge wahrscheinlich hätte erkennen können. Sie durchlief viele Chemo-Zyklen. Die Ärzte und Ärztinnen gaben ihr bei der Erstdiagnose ma­ximal ein Jahr, sie hielt durch bis kurz vor ihrem 55. Geburtstag. Mit dem Stricken, ihrem liebsten Hobby, hörte sie schon weit früher auf. Eine Nebenwirkung des Chemotherapie-Medikaments Oxaliplatin ist eine gesteigerte Empfindlichkeit der Füße und vor allem der Hände. Ich erinnere mich an die filigranen Hände meiner Mutter mit Haut wie aus Seidenpapier. Sie trug bereits lange vor ihrem Tod Handschuhe, um Wärme- und Kältereize abzufangen. Um Tassen und Gläser anfassen zu können ohne schmerzverzerrtes Gesicht. An Stricken war nicht zu denken. Wir strickten beide nicht mehr. Was gäbe ich dafür, noch mal einen Nachmittag lang mit ihr in der Sonne des Wohnzimmerfensters auf der schwarzen Couch zu sitzen und im Takt mit den Stricknadeln zu klappern. Sie fehlt mir jeden Tag, im Februar ist sie zehn Jahre tot.

Die Konzen­tra­tion auf Woll­faden und Nadeln schiebt allen Alltagsmist aus dem Kopf

Die Psychologie kennt fünf Phasen der Trauer: Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. In der Theorie klingt das nach einem abgeschlossenen System. Ganz neoliberal leistungsorientiert müsste das bedeuten, wenn man Schritt eins bis fünf in Reihenfolge absolviert hat, ist man durch. Die Realität ist eine andere: Die Phasen wechseln sich ab, laufen manchmal auch parallel, überlagern sich, fangen oft immer wieder von vorne an. Trauer ist anstrengend. Und niemand kann einem sagen, wann sie vorbei ist. Kein Ende anvisieren zu können, kann einen um den Verstand bringen. Ich habe seit weit mehr als zehn Jahren keine Stricknadeln mehr angefasst. Diese Tätigkeit ist in meiner Erinnerung so knotenlos mit meiner Mutter verbunden, schon der Anblick von Wolle in einem Schaufenster hat mich den Kopf wegdrehen lassen. Außerdem: Wer sollte mir die erste Reihe stricken?

Wenn ich an das Klappern der Stricknadeln denke, dann denke ich automatisch auch an den Tag, an dem sie starb. Mein Stiefvater, meine Brüder und ich saßen an ihrem Krankenhausbett und hielten ihre Hand mit der Seidenpapierhaut. Als sie aufhörte zu atmen, schlug ihr Herz noch weiter. Ihre Haut war so dünn, ich kann heute noch die verzweifelte Bewegung ihres Pulses an ihrem Hals sehen. Dabei zu sein, wenn jemand stirbt, teilt die Welt in ein Davor und in ein Danach. Es ändert alles, vor allem wie man diese Welt sieht. Mit vielen Dingen habe ich heute mehr Geduld, mit einigen aber auch gar keine mehr. An diesem Februarmorgen war es kalt, weit unter null Grad. Die Sonne schien, der Himmel war blau, mein kleiner Bruder trat lange mit seinem Winterstiefel gegen einen gefrorenen Schneehaufen. Wut. Ich wollte die Zeit zurückdrehen. Leugnen. Mein großer Bruder stand stumm neben mir. ­Depression. Mein Stiefvater weinte. Verhandeln. Was wir alle bis heute selten spüren: Akzeptanz.

Die Welt als Wolle und Vorstellung: Es gibt kaum etwas, das man sich nicht stricken könnte.

Vor drei Wochen bin ich an einem Sonntag aufgewacht und wusste: Aber heute. Ich holte aus einer Kiste mit Hand­arbeitsdingen ein altes Wollknäuel und Fünf-Millimeter-Rundstricknadeln. Ausrangierte Nadeln und Wolle meiner Mutter. Dann setzte ich mich an den Esstisch, klappte meinen Laptop auf und sah mir unzählige Strick-Tutorials auf Youtube an. Suchworte: »Erste Reihe Stricken«. Zu meiner Tochter, die immer wieder vorbeikam und mich leicht irritiert betrachtete, wie ich da im Schlafanzug saß und meine Finger in unnatürliche Richtungen drehte, sagte ich: »Warte kurz, ich muss mich konzentrieren.« Ich strickte noch am selben Tag eine Decke, einen Schal und eine Mütze mit Bommel für ihre Barbies. Ruhe, ein Gefühl, das ich in all den aufwühlenden Pandemie-Monaten so vermisst hatte, rollte sich in meinem Kopf aus. Ich bestellte am Abend im Internet ein Strickset mit Wolle und Anleitung für eine Jacke. Und neue Nadeln. Sie sind aus Holz und haben eine Regenbogenmarmorierung. Sie klappern anders als die meiner Mutter.

In den Tagen darauf lernte ich eine neue Grenze meiner Frustrationstoleranz kennen. Mehrfach musste ich Reihen wieder auftrennen, Maschen rückwärts stricken, fluchen. Strickanleitungen sind in einer fürchterlichen Sprache geschrieben, ganz oft sah ich wieder Youtube-Videos, noch öfter suchte ich im Netz nach Fachbegriffen. Zum Beispiel, um zu verstehen, was »Randmasche über 2 Maschen, in Reihen stricken, bei den abgehobenen Maschen den Arbeitsfaden jeweils vor der Masche weiterführen« bedeutet. Oder: »70 Maschen mit Stricknadeln 5 anschlagen und 8 cm im Rippenmuster stricken. Weiter glatt rechts stricken. Bei einer Länge von 54 cm alle Maschen abketten.« Ich habe jetzt noch mehr Respekt für die Schmetterlingsjacke meiner Mutter.

Meine Probejacke ist tatsächlich fertig geworden. Bis zum Todestag meiner Mutter will ich eine weitere stricken

Wo die abgeblieben ist, weiß übrigens in meiner Familie niemand. Aber wir erinnern uns alle an sie. Wahrscheinlich haben wir sie mit vielen anderen ihrer Kleidungsstücke damals in ein Frauenhaus gegeben. Man kann nicht alles aufheben. Die Erinnerung schmerzt zu sehr. Bei manchen Dingen kann man aber offensichtlich der Erinnerung eine neue Richtung geben. Die Trauer nimmt seltsame Wege. Jede und jeder geht verschiedene. Für mich ist es das Stricken, für andere vielleicht eine Sportart, die sie nicht tun, eine bestimmte Speise, die sie nicht essen, oder ein Ort, den sie lange nicht besuchen können. Die Einzigen, die darüber urteilen dürfen, sind die Trauernden selbst.

Meine Probejacke ist tatsächlich fertig geworden, und ich bin sehr stolz. Bis zum zehnten Todestag meiner Mutter will ich jetzt eine weitere stricken. Schmetterlinge trägt man heute ja nicht mehr unbedingt. Aber Lila ist immer noch eine ziemlich gute Farbe.