Schon nach ein paar Minuten musste ich die Nadeln fallen lassen, so sehr hatten sich meine Finger zwischen den Fäden verkrampft. Das wird nie was, dachte ich. Gleich mein erstes Strickstück sollte eine Decke sein. Keine Socken, keinen Schal, keine Mütze, nein, eine mehrere Quadratmeter große Decke wollte ich stricken. Als Vorbild dienten mir Teppiche und Webereien von Anni Albers, Gunta Stölzl und Woty Werner, also von einigen der wichtigsten Textilkünstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Was in etwa so ist, als würde jemand, der noch nie an einem Klavier saß, gleich beim ersten Mal so etwas wie Rocket Man komponieren wollen.
Im Nachhinein ist es rührend, mit wie viel Selbstvertrauen ich an mein Strickprojekt ging. Ich war mir sicher, dass ich bald keine Geschenke mehr kaufen müsste, weil meine Strickstücke Geschenk genug sein würden. Nun war ich schon immer ein wenig größenwahnsinnig, und in normalen Zeiten hätte ich nach diesem ersten, vielleicht nicht gescheiterten, aber doch unzufriedenstellenden Versuch das Stricken wohl wieder aufgegeben. Aber die Zeiten, Sie wissen schon, und so strickte ich weiter. Jeden Abend beim Seriengucken, viele Stunden seit Oktober: Mützen, Rasseln und Schals, die sich im Werden in Wärmflaschenbezüge verwandelten.
Und was anfangs mühselig war und in den Gelenken schmerzte, ging nun immer noch nicht leicht, aber es stellte sich eine gewisse Routine ein, irgendwas war zwischen Fingern und Augen passiert, irgendwas musste in meinem Gehirn neu verknotet worden sein. Plötzlich lief der Faden locker gespannt über meinen Zeigefinger, ich machte noch immer Fehler, aber ich fing an, in den ineinander verschlungenen Fäden Zusammenhänge zu erkennen, ich sah, wo die verlorenen Maschen hingefallen waren und welchen Faden ich wieder hervorholen musste, um zumindest einige meiner Verstrickungen zu korrigieren.
Was für eine Freude, sich als Erwachsene noch mal etwas Neues beizubringen. Nicht, weil man muss, sondern aus eigenem Antrieb, aus Langeweile. Und dadurch gefühlt auch ein bisschen unabhängiger zu werden, von Trends, Geschäften, der Textilindustrie. Das Problem war nur: Meine Strickereien sahen scheiße aus.
Die Farben der Decke, an der ich so lange gearbeitet hatte, passten auch mit zugekniffenen Augen kaum zusammen, die verschieden großen Rechtecke, aus denen sie bestand, waren teils so schlecht gestrickt und noch schlechter vernäht, dass sich die Decke bog und wellte, und genauer durfte man sowieso nicht hinschauen. Mein rechts kraus (so heißt die vielleicht einfachste Stricktechnik der Welt) war okay, aber alle anderen Muster krünkelten so vor sich hin, an der einen Stelle hatte ich mich verzählt, an der anderen aus Versehen eine Reihe falsch herum gestrickt, überall fanden sich Knötchen und kleine Löcher, die ich eben doch nicht korrigiert bekommen hatte.
Trotzdem macht es mich nachdenklich, dass wir, wenn wir auf Frauen von früher schauen, wieder nur die Gebildeten, die Belesenen, die Begabten, die Besonderen sehen.
Das Stricken beglückte mich trotzdem. Und da das Zeug jetzt nun mal da war, fing ich tatsächlich an, die Sachen zu verschenken, eine Mütze an mein Patenkind, einen unidentifizierbaren Rasselwicht an die neugeborene Tochter einer Freundin. Während der Übergaben muss in meinen Augen Stolz und vielleicht auch Unsicherheit gestanden haben. In den Augen der anderen spiegelte sich neben der Freude des Beschenktwerdens und trotz ihrer Bemühungen, es zu verbergen, eher meine Mittelmäßigkeit.
Das passt nicht so gut zu dem Bild, das ich mir gern von mir selbst mache. Denn seitdem ich ein kleines Mädchen war, wurde mir suggeriert, dass Mittelmaß nicht reicht für eine Frau, die was erreichen will. Eher sollte ich in dem, was ich sowieso schon gut konnte (schreiben, Sport, diskutieren), noch besser werden. Und die Dinge, die ich nicht so gut konnte (rechnen, Musikinstrumente, basteln), sollte ich besser gleich sein lassen.
Stattdessen sollte ich meine Zeit darauf verwenden, herauszustechen, und nicht darauf, in der Masse zu verschwinden. Ich sollte mir Sichtbarkeit verschaffen, und genau darum geht es ja im Moment so häufig. Darum, Menschen sichtbar zu machen, die früher unsichtbar waren, also so ziemlich alle Menschen, die nicht männlich und weiß sind. Im Zuge dessen wurden und werden auch meine Vorbilder Anni Albers, Gunta Stölzl, Woty Werner neu entdeckt. Drei Frauen, die überall herausstachen, ihre Werke tun es bis heute. Deshalb dienten sie mir ja auch als Anregung.
Trotzdem macht es mich nachdenklich, dass wir, wenn wir auf Frauen von früher schauen, wieder nur die Gebildeten, die Belesenen, die Begabten, die Besonderen sehen. Und nie die ganz normalen Frauen in ihren ganz normalen Leben, die keine Kunstwerke für die Ewigkeit webten, sondern Pullover strickten, die warm hielten unter dünn gewordenen Mänteln. Diese Künstlerinnen des Mittelmaßes, die unser aller Vorfahrinnen sind, werden niemals wiederentdeckt werden, niemand wird ihre Entwürfe auf Postkarten drucken, niemand wird Bücher über ihre langen, arbeitsamen, entbehrungsreichen Leben schreiben. Sie sind ja auch nicht vorangegangen, vielleicht sind sie nicht mal hinterhergelaufen.
Und bisher habe auch ich sie immer abgetan, als diejenigen, die eben nicht emanzipiert und nicht stark genug waren, um über den für sie vorgesehenen Platz im Leben hinauszuwachsen. Seit ich stricke, sehe ich sie, sehe die Arbeit, Liebe und Kreativität, die sie in die Dinge des Alltags gesteckt haben. Und denke: Auch ihretwegen kann eine Frau wie ich, die immer darauf getrimmt wurde, nur etwas zu machen, wenn sie es außergewöhnlich gut macht, Frieden schließen mit der Mittelmäßigkeit.