Etwas erstaunt waren die Polizisten auf dem Revier des fünften Pariser Arrondissements schon über die Mitarbeiter des Centre des Monuments Nationaux, kurz CMN, die da im Herbst 2006 unbedingt Anzeige erstatten wollten.
Wurde etwas gestohlen?
Nein.
Wurde etwas beschädigt oder zerstört?
Nein, nein. Die haben eine Uhr restauriert!
Aha. Wurde das nicht gut ausgeführt?
Oh, doch, doch …
Aber, ähm, welche Straftat wollen Sie dann eigentlich anzeigen?
Die Gendarmen und die Mitarbeiter der nationalen Denkmalbehörde einigten sich schließlich darauf, dass Anzeige erstattet wird wegen »Eindringens in ein öffentliches Gebäude ohne offizielle Genehmigung«. Spätestens hier hätte jemand die Beamten des CMN diskret beiseitenehmen sollen, um ihnen zu sagen, dass das mit der Anzeige keine allzu pfiffige Idee war.
So aber kam es zum Prozess und kurz darauf zu amüsierten bis enthusiastischen Berichten in Zeitungen von Le Monde bis The Guardian: Da hatte sich eine Gruppe von Parisern im Panthéon eingenistet. Ein ganzes Jahr lang. In der Kuppel von Frankreichs nationaler Ruhmeshalle, mitten im Univiertel, hoch über den Dächern der Stadt, hatten sie heimlich eine professionelle Werkstatt inklusive Musikanlage, gut sortierter Bar, Fachbibliothek, dicken Vorhängen (gegen die Winterkälte), kleinem Gemüsegarten und Lounge-Sesseln eingerichtet.
Irgendwie war es ihnen erst mal gelungen, dieses umfangreiche Equipment an allen Touristenströmen, Wachmannschaften und Sicherheitsmechanismen vorbei unter die Kuppel zu schleppen. Und dann reparierten sie in monatelanger Kleinarbeit unter professioneller Führung des renommierten Uhrmachers Jean-Baptiste Viot die historische Uhr von Bernard-Henry Wagner aus dem Jahr 1850. Schließlich ging die seit Anfang der 1960er nicht mehr, und irgendjemand muss sich ja kümmern.
Nebenher hatte die Truppe, die sich »Untergunther« nannte, in diesen Monaten kleinere andere Reparaturen im Gebäude erledigt. Als sie mit ihren Arbeiten fertig waren, besuchten sie den damaligen Verwaltungsdirektor des Panthéon, um ihn höflich darauf hinzuweisen, dass die Uhr jetzt wieder funktionsfähig sei und er doch bitte dafür sorgen möge, dass sie regelmäßig aufgezogen wird. Woraufhin die Beamten des CMN zur Polizei gingen.
Der Prozess wurde eingestellt, die Angeklagten, die sich ihrer Sache so sicher waren, dass sie nicht mal einen Anwalt genommen hatten, wurden freigesprochen, schließlich gibt es in Frankreich kein Gesetz, welches das Betreten eines nationalen Denkmals verbietet. Und wer hat denn, bitte, etwas einzuwenden gegen die meisterliche, kostenlose Reparatur eines alten Uhrwerks? Eines wollte der perplexe und zugleich beeindruckte Richter aber dann doch noch wissen: »Den Verhörprotokollen entnehme ich, dass Sie sogar an einigen Türen im Panthéon neue Schlösser angebracht haben. Warum?« – »Weil sie nicht gut schlossen«, antwortete Lazar Kunstmann, einer der vier Angeklagten. »Wir wollten nicht dabei zusehen, wie einfach irgendwer ins Panthéon reinkommt während unserer Renovierungsarbeiten.«
Das klingt nun einerseits ziemlich anmaßend, so als seien Kunstmann und seine Mitstreiter die eigentlichen Hausherren in Frankreichs wohl wichtigstem Monument. Andererseits waren sie dort tatsächlich nicht erst seit Kurzem Gäste, sondern kamen schon seit 1981 regelmäßig ins Panthéon, um da unter anderem heimlich nächtliche Opern- und Theatervorführungen zu organisieren.
Wenn es nach »Untergunther« gegangen wäre, wüsste übrigens bis heute, abgesehen von einigen Mitarbeitern der nationalen Denkmalbehörde, niemand von der ganzen Aktion. Da dann aber große Artikel über die mysteriöse »Kulturguerilla« (The Guardian) erschienen, sahen sie sich genötigt, ihre eigene Version der Geschichte zu erzählen. Beziehungsweise diese eine kleine Heldengeschichte in den sehr viel größeren Zusammenhang zu setzen. Schließlich ist »Untergunther« nur eine Zelle in einem riesigen Netzwerk namens UX – kurz für Urban eXperiment. Die Geschichte seiner Gruppe hat Lazar Kunstmann in dem schönen Buch La Culture en clandestins – L’UX beschrieben (darin finden sich auch der oben zitierte Dialog mit den Polizisten und die Frage des Richters).
Nun gibt es ja viele politische Guerillatrupps. Die »Yes Men«, zwei New Yorker Aktivisten, kämpfen mit subversiven Aktionen für ein gerechteres Wirtschaftssystem. Am 20. Jahrestag des katastrophalen Chemieunfalls in Bhopal, Indien, gaben sie beispielsweise als angebliche Sprecher von Dow Chemical ein BBC-Interview, in dem sie sagten, das Unternehmen wolle sich seiner Verantwortung stellen und Tausenden von Opfern Entschädigung zahlen. Der Börsenwert von Dow Chemical brach daraufhin um zwei Milliarden Dollar ein. Die Firma dementierte panisch. Profitlogik kann man kaum effektiver demaskieren.
Das Berliner Peng!-Kollektiv versucht sich an ganz ähnlichen FakeKampagnen: Mal geben sie sich als Vattenfall-Mitarbeiter aus und verkünden, der Konzern werde aus der Kohleindustrie aussteigen und verpflichte sich ab sofort einer rundum nachhaltigen Unternehmensethik, ein andermal entschuldigen sie sich im Namen des Bundesarbeitsministeriums öffentlich für die Hartz-IV-Gesetze.
Die Arbeit von UX unterscheidet sich grundlegend von derartigen öffentlichkeitswirksamen Polit-Aktionen. Es ging der Gruppe nie darum, mit ihren Aktionen ans Licht der Öffentlichkeit zu treten, auf dass man ihr Engagement beklatschen möge. Im Gegenteil: UX will unsichtbar sein. Und konservativ im besten Sinne des Wortes: Sie sehen sich als Bewahrer des kulturellen Erbes ihrer Stadt, genauer gesagt »all der vernachlässigten, unsichtbaren Partien dieses kulturellen Erbes«, wie Lazar Kunstmann es formuliert. Ein derartiges En-gagement sollte tunlichst im Verborgenen bleiben, schließlich, das erklärt Kunstmann am Telefon, »muss man nicht irgendwelche Touristen auf interessante Orte aufmerksam machen«. Ihr einziges Publikum sind sie selbst, die Dunkelheit und die Zeit.
Wenn man Kunstmanns Schilderungen glauben darf, fing das Ganze 1981 an, mit einer Angeberei im Schulbus: Wer traut sich nachts ins Panthéon? Vier Zwölf- bis 15-Jährige verabredeten sich an einem Samstagabend – und schafften es zu ihrem eigenen Erstaunen tatsächlich in die Halle. Seither eroberten sie Zug um Zug Paris für sich.
Dazu muss man wissen, dass Paris sich quasi aus sich selbst heraus erbaut hat: Es gibt im Untergrund der Stadt 300 Kilometer labyrinthische Gänge, die im Verlauf von 2000 Jahren wild gewachsen sind, weil der Untergrund die Steine, den Kalk und den Ton lieferte, den die Pariser zum Bau ihrer Häuser benötigten. Dieses Stollennetz in einer Tiefe von fünf bis 35 Metern haben die Mitglieder von UX über zwei Jahrzehnte hinweg erforscht und mit anderen parallelen Netzwerken (Métrotunnels, Versorgungsleitungen, Kanalisationen) so effektiv und technisch versiert verbunden, dass sie sich schließlich unter der gesamten Stadt bewegen konnten.
Illustrationen: Artus De Lavilléon
UX setzt sich aus mehreren Untergruppen zusammen, die jede für sich operieren. Natürlich hilft man einander aus, aber im Grunde hat doch jedes Team seinen eigenen Fokus: »Untergunther« hat sich auf Restaurierungsarbeiten spezialisiert – schließlich, so sehen es die Mitglieder, kümmere sich der Staat nur um wenige Museums-Highlights und lasse große Teile des kulturellen Erbes einfach verfallen. So haben sie sich im Lauf der Jahre einer mittelalterlichen, unterirdischen Krypta ebenso angenommen wie eines ehemaligen Regierungsbunkers, der seit hundert Jahren verfiel. Es gibt in ihren Reihen Fachleute für Kartografie und Tunnelbau, Kunstgeschichte und Archivwesen, es gibt Männer wie Jean-Baptiste Viot, der seine Freunde damals zur Reparatur der Wagner-Uhr überredete und zu der Zeit für die Luxusfirma Breguet arbeitete. Den seltsam teutonischen Namen hatte sich die Gruppe übrigens gegeben, weil sie nachts in den dunklen, unterirdischen Gängen der Katakomben oft eine CD mit beängstigendem Hundegebell abspielten, um potenzielle Neugierige fernzuhalten (es steigen immer wieder Jugendliche in das unterirdische Labyrinth der Stadt) – und »Gunther« für sie nach deutschem Schäferhund klang.
Es gibt die Gruppe »Mouse House«, ausschließlich Frauen, die nach neuen Verbindungsgängen suchen und die Infrastruktur verbessern. Es gibt »La Mexicaine de Perforation«, die Gruppe, die sich um kulturelle Aktivitäten kümmert: Opern- und Theateraufführungen im Panthéon, heimliche nächtliche Filmfestivals, Kunst- und Fotoausstellungen in unterirdischen Galerien, die natürlich normalerweise keine Galerien sind, Konzerte für bis zu 4000 Leute. Einmal hinterließen sie auf dem Schreibtisch eines Pariser Museumsdirektors einen Brief, in dem sie ihm alle Sicherheitsmängel in seinem Gebäude auflisteten und höflich baten, unbedingt nachzurüsten – Beweis für all die eklatanten Mängel war die Tatsache, dass sie den Brief nachts auf seinem Schreibtisch deponieren konnten. Der Direktor wollte sie anzeigen, die Polizei riet davon ab, ermahnte aber die ihnen bekannten Mitglieder von UX, es nicht zu übertreiben.
Dass der Gruppenname der »Mexikanerinnen« ähnlich wie der von »Untergunther« bekannt wurde, verdankt sich einem Betriebsunfall in der langjährigen Geschichte von UX: Nachdem sie 2003 in der Cinémathèque française eine hervorragende nächtliche Filmreihe gezeigt hatten, ohne erwischt zu werden, beschlossen sie 2004, ein eigenes Kino in den Katakomben der Stadt einzurichten, 18 Meter unter dem Palais de Chaillot, wo sie dann Werke von Francis Ford Coppola und David Lynch, Alex Proyas Dark City und Walter Rutmanns Berlin, Symphonie einer Großstadt zeigten, lauter Filme, die einen besonderen Blick auf den städtischen Raum werfen. Die Polizisten, die den Tipp bekommen hatten, mal da unten nachzusehen, waren dann doch erstaunt, das Kino verfügte über eine gut ausgestattete Bar nebst Küche, es gab Telefonanschlüsse, insgesamt waren rund 400 Quadratmeter geschmackvoll und absolut zweckgemäß hergerichtet. Als die Polizei drei Tage später in Mannschaftsstärke anrückte, um zu räumen, war alles abgebaut. Da hing nur noch ein Plakat als Gruß – »Ne cherchez pas!«: Sucht nicht.
Keine Frage: All die Aktionen sind frech bis unverschämt. Andererseits – die Wagner-Uhr im Panthéon wurde Anfang der Sechzigerjahre mutwillig zerstört, allem Anschein nach von einem eigenen Angestellten, der es leid war, permanent in die hohe Kuppel steigen zu müssen, um sie aufzuziehen. Wenn dann etwa fünfzig Jahre später ein paar Leute auf eigene Kosten (das Ganze hat »Untergunther« rund 4000 Euro gekostet, Arbeitszeit nicht eingerechnet) diese Uhr vor dem unwiderruflichen Ruin retten (das Uhrwerk war mittlerweile völlig rostzerfressen), ist es schwierig, dagegen anzuargumentieren.
Illustration: Artus De Lavilléon
Wenn man erst mal weiß, dass es diese Gruppe gibt, geht man mit anderem Blick durch die Straßen von Paris. Die inoffizielle nächtliche Filmreihe in der Cinémathèque française wurde seinerzeit genauso beworben wie das »Urbex Movies«-Festival im Jahr darauf, im selbst erbauten Untergrundkino, mit selbst gemalten Plakaten und kleinen Wegweisern, die an unauffälligen Stellen in der Stadt wie eine Art Schnitzeljagd funktionierten. Deshalb wird man nach der Lektüre von Kunstmanns Buch zum Pfadfinder: Der kryptische Aufkleber auf diesem Trafohäuschen hinter der Sorbonne, die komische Fahne über dem Turm an der Seine – sind das neue Signale von »Untergunther«? Und ist hier direkt unter meinen Füßen ein Teil des Unternets?
Viel wichtiger aber: Wenn man im Panthéon steht und weiß, wie die große Wagner-Uhr von 1850 letztendlich gerettet werden konnte, kommt man schon ins Grübeln. Wem gehört eigentlich die Stadt? Und inwieweit ist man mitverantwortlich für das, was eine Stadt und ihre Geschichte einem bieten? Wann ist es legitim, sich derart durch öffentlichen Raum zu bewegen, und ab wann ist es einfach nur Einbruch? Kunstmann sagt, ihr gemeinsames Engagement für das kulturelle Erbe sei ein natürlicher Impuls, der ursprünglich uns allen zu eigen sei, schließlich gehöre das kulturelle Erbe ja auch uns allen. »Unnatürlich ist im Grunde die wachsende Apathie der meisten Leute diesem Erbe gegenüber. Der Verzicht darauf zu bewahren, was uns in kultureller Hinsicht ausmacht, rührt von dem Gefühl der Unabwendbarkeit her, das einen beschleicht, wenn man es verschwinden sieht.«
Das größte Wunder ist eigentlich, dass diese ganze Geschichte in ihrer professionellen Eleganz, ihrem Witz, ihrer Schönheit noch nicht verfilmt wurde. Was ist ein fiktives Ocean’s Eleven gegen eine Gruppe von Spezialisten, die seit fast dreißig Jahren das Erbe dieser Stadt mitverwalten, die sich quer durch deren Museen, Kirchen, Kinos bewegen können und nie erwischt wurden? Und denen es, im Unterschied zu den Hauptfiguren der meisten Gangsterfilme, ja nie darum geht, etwas für den eigenen Profit zu rauben, sondern im Gegenteil darum, ihrer Stadt auf eigene Kosten etwas zurückzuerstatten?
Lazar Kunstmann lehnte ein Treffen für diesen Artikel ab: Wozu noch mal die ollen Kamellen aufwärmen, außerdem sei er momentan wieder sehr beschäftigt. Es blieb also bei zwei Telefonaten und einigen Mails. Auf die Frage, ob sie weiter aktiv seien, schließlich sei in den vergangenen Jahren keine weitere Aktion bekannt geworden, sagt er erstaunt: »Na, aber natürlich.« Es gebe unendlich viel zu tun und zu retten.
Schöne Vorstellung, was wohl nach dem Tod der Mitglieder oder vielleicht auch nach ihrer gemeinsamen Selbstpensionierung als UX’ler noch alles an Aktionen und Renovierungsarbeiten zutage kommt. Sie scheinen sich jedenfalls immer noch ohne Probleme durch Paris bewegen zu können. Oder hat sich in Sachen Sicherheit mittlerweile etwas geändert? »Nein«, sagt Kunstmann, »es ist nicht wirklich schwieriger geworden.« Und an ihrer Arbeit? »Auch da – keine Details. Alles, was ich sagen kann: Die Kooperationen mit Städten im Ausland haben stark zugenommen.«
Also schauen Sie am besten nachher auf dem Weg zum Einkaufen nach geheimnisvollen Zeichen. Vielleicht findet ja direkt unter Ihrem Supermarkt seit Wochen eine großartige Filmreihe statt.