Liebe zukünftige Lieblingsfrau,
gestern kam das Paket mit einem Foto, das ich gekauft habe, eine Aufnahme von Stuart Franklin und vielleicht das Bild, das anzusehen mir mehr gegeben hat als jedes andere. Es zeigt von fern einen jungen Mann, der 1989 während der Proteste auf dem Pekinger »Platz des Himmlischen Friedens« eine Kolonne Panzer aufhält, indem er sich ihnen in den Weg stellt. Er ist berühmt geworden unter dem Namen »Tank Man«.
Jetzt hängt es über meinem Bett, und Tochter Nummer zwei und ich haben lange auf der Matratze gestanden und es angestarrt. Wir haben beide ein Wochenende in den Knochen, in denen die Welt um uns herum gebrannt hat und das dauernde gnadenlose Knattern der Hubschrauber alle Nerven so blank gerieben hat, dass es schwierig war, nicht aggressiv zu werden. Wir haben über Mut gesprochen und darüber, dass niemand weiß, wer Tank Man ist und wie es ihm ergangen ist. Darüber, was es heißt, das Richtige zu tun, selbst wenn das manchmal bedeutet, dass man allein steht gegen eine zermalmende Übermacht, und dass die Chancen schlecht stehen, irgendetwas zu verändern.
Ich saß an den Abenden der Feuer und der Steine in der Kneipe gegenüber, von der mir ein winziges Bisschen gehört. Wir hatten beschlossen, aufzumachen und nicht zu verrammeln, als Zeichen, dass wir uns nicht einnehmen lassen von fremder Gewalt oder eigener Furcht. Es war furchtbar zu sehen, dass der größte Teil der Horden in Schwarz aus Jungs bestand, mit dürren Beinchen und nur dem ersten Flaum eines Bartes. Erst unter der Maske konnten sie ihre schwächliche Version starker Männer aufführen, mit Rausch an der Stelle, wo Mut hingehört. Und es war gleichzeitig schön zu fühlen, wie wir da zusammen saßen, völlig ratlos, aber nicht alleine. An einem Abend saß eine Frau neben mir, die ich schon lange toll finde. Und wenn man nicht mehr weiß, was man noch denken soll über diese Welt, hilft der Blick und die Berührung von jemandem, dem es genauso geht. Das Gegenteil von einsam ist man nicht in der Masse, sondern zu zweit.
Tank Man hatte die Panzer aufgehalten, damals, für einen Moment in der Geschichte jedenfalls, hat mit den Soldaten diskutiert und erst aufgehört, als vier Männer aus der Masse der Protestierenden kamen und ihn wegbrachten. Es konnte nie geklärt werden, ob es besorgte Freunde waren oder Schergen der Geheimpolizei. »Haben sie ihn umgebracht, Papa?«, fragte Nummer zwei, und ich habe geantwortet: »Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass wir 30 Jahre später hier stehen und ihn ansehen und uns Mut von ihm leihen können, wenn wir welchen brauchen.« Denn das wollte ich: Dass meine Mädchen einen Ort haben, an den sie gehen und sich Mut leihen können, wenn das Leben mit Panzern auf sie zurollt.
Bist du mutig, zukünftige Lieblingsfrau? Ich weiß nicht, ob ich es bin, ich weiß nur, dass ich es sein will. Und muss. Wie wir alle. Mit dem Mut, zu vertrauen. Und gleichzeitig wünsche ich mir nichts mehr, als für dich der Ort zu sein, an den du gehen kannst, wenn all dein Mut aufgebraucht ist und du für einen Moment ohne ihn auskommen musst. Denn das ist das große Rätsel des Lebens, für das es keine Lösung gibt, sondern nur die Einsicht: dass es alle unsere Stärke braucht, schwach zu sein.
Ich weiß ja, dass es sich auch für dich so anfühlt, manchmal, als stündest du da mit nichts als viel zu schmalen Schultern, einem schmerzenden Rücken und einem pochenden Herz, während alles auf dich zurollt. Ich weiß das, weil ich es auch fühle. Auch, dass du manchmal nichts lieber willst als dich umdrehen und weglaufen, so schnell und so weit es geht, obwohl wir wissen, dass weglaufen uns nicht glücklich macht. Jeder weiß das, und niemand hat es besser gesagt als Jay Z: »Lauf nicht von deiner Angst weg, lauf auf sie zu«. Wir müssen alle unser eigener Tank Man sein. Jeder für sich allein.
Aber vielleicht kann ich für dich sein, was Nummer zwei und ich uns als Wunsch ausgemalt haben, nämlich der, der aus der Menge kommt und dich wegbringt, wenn du deinen Kampf gekämpft hast. Wir haben uns vorgestellt, dass es Freunde waren, die ihn mitgenommen haben und in einer Wohnung versteckt. Sie haben ein heimliches Festmahl abgehalten zu seinen Ehren, und ihn dann im Dunkel der Nacht weit weggefahren, aufs Land, wo er noch heute sitzt an einem Ort himmlischen Friedens, und nie wieder Angst hatte, weil er jetzt weiß, dass sein Mut größer ist als jede Gefahr, so groß, dass er abgeben kann, und sein Mut wird nur größer, wenn er ihn teilt.
Teilst du deinen mit mir?
Foto: Stephanie Pfaender