Liebe zukünftige Lieblingsfrau,
gestern Abend stand der Verkäufer der Obdachlosenzeitung wieder vor dem Supermarkt, nach Wochen, in denen er verschwunden war, ohne dass jemand wusste, ob er noch lebt. Er steht dort jeden Tag, verkauft das Blatt und passt auf die winzigen Kinderfahrräder auf, wenn Eltern ihn darum bitten, weil man sich fast hinknien müsste, um die Dinger mit ihren gerade mal tellergroßen Rädern anzuschließen. Inzwischen ist selbst das Rad meiner Kleinen so groß, dass ich es auch fahren könnte, ohne mir mit den Knien unter das Kinn zu schlagen, aber er steht da immer noch. Nur die Kinder sind heute andere, und ich bin älter, genau wie er.
Es hätte einen kleinen Trauerzug gegeben, nehme ich an, wenn ein Tod in der Zeitung gestanden hätte. Wir sind alle gut darin, Dinge zu sagen und zu zeigen, wenn es zu spät ist. Wir brauchen den Schmerz an einer bestimmten Stelle, um zu bemerken, dass es sie gibt, so wie wir manche Muskeln nur spüren, wenn sie brennen, weil wir sie überansprucht haben.
Irgendwann kommt der Tag, da werde ich dich vermissen für Dinge, von denen ich heute noch nicht weiß, dass es sie gibt. Ich weiß nicht, wo du sein wirst und wie lange, aber es wird sich anfühlen wie eine Ewigkeit. Weil etwas fehlt, ohne das zu sein für mich ist, als würde ich mein Leben verschwenden, so als wäre ich in Venedig und dürfte nicht vor die Tür: Es tut nur weh, wenn man ahnt, was alles da draußen ist.
Und ich glaube, das ist das Leben: vor die Tür gehen. Und überrascht werden. Immer wieder. Denn etwas zu kennen heißt in Wahrheit nur, eine Vorstellung davon zu haben, wie komplex es ist. Wer das Gefühl hat, er hätte irgendetwas verstanden, der hat einfach noch nicht genug gesehen.
Wahrscheinlich is es am Ende das, was ich vermissen werde: Das Gefühl, das nur du mir gibst, weil es Fernweh und Heimweh zugleich stillt, weil du unergründliches Abenteuer bist und gleichzeitig das vertrauteste Gefühl von Heimat. Viel zu vielschichtig, um jemals ganz gekannt zu werden, und dabei genau der Platz in der Welt, an dem ich sein will.
Es ist merkwürdig, wie sehr mich dieser leere Platz des Mannes getroffen hat, der immer da steht, an einem Tischchen vor dem Edeka, und wie ich mich gefreut habe, als er wieder da war. Alles stumm, natürlich, ich lächle ihn an und kaufe eine Zeitung oder gebe ihm Kleingeld, aber er weiß nicht, dass er Teil meiner Welt ist, und natürlich muss er das nicht wissen. Es wäre ein merkwürdiger, wahrscheinlich für alle leicht beklemmender Moment, wenn ich mich hinstellen würde und sagen »Gut, dass du wieder da bist. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht« – obwohl es, wenn ich es so aufschreibe, klingt wie etwas, das man unbedingt tun sollte. Es sagen, bevor es zu spät ist. Und es spüren, bevor ich nicht anders kann, weil schmerzt.
Deshalb schreibe ich dir das. Damit du es weißt, und damit ich es im Bewusstsein habe. Ich erlebe zu viele großartige Paare, die sich verlieren darin, dass jeder denkt, wenn der andere doch nur dieses oder jenes ein bisschen anders, ein bisschen besser, ein bisschen mehr so machen würde wie ich und nicht immer nur so wie er oder sie, dann wäre alles perfekt. So als wäre eine Stadt erst Heimat, wenn jedes Haus in jeder Gasse perfekt wäre, und als würde man nicht an jeder Ecke Großartiges entdecken, sobald man aufhört, auf die schlecht verputzten Ecken zu starren. Ich schreibe dir das, um dir zu sagen, dass du Venedig bist, aufregend und komplex und betörend schön, und damit du mir, wenn ich es einmal vergesse und stattdessen an dir herummäkle, sagen kannst: »Ich bin übrigens Venedig, und nach Venedig kommt man zum Staunen, nicht zum Renovieren«. Ich habe Fernweh und Heimweh nach dir.
Gehen wir zusammen vor die Tür?
Michalis Pantelouris liest am 25. Juni 2017 in der Loretta Bar in München aus seiner Kolumne. Einlass ab 18.30 Uhr, der Eintritt ist frei.
Foto: Stephanie Pfaender