Das Buch ist »die Axt für das gefrorene Meer in uns«. Hat Franz Kafka geschrieben. Vor hundert Jahren ist er gestorben, deshalb ist seit einiger Zeit alles voll mit Erinnerungsartikeln. Aber laufen die Menschen jetzt mit Kafka-T-Shirts rum? Nö. Warum eigentlich nicht? Warum hat sich das Fan-Shirt im Bereich der Literatur nie durchgesetzt? Alles andere, womit Menschen sich im weitesten Sinne identifizieren, ist shirtreif. Taylor-Swift-Pullis, klar. Star-Wars-Shirts, überall. Bands, Filme, Sportvereine sowieso. Auch Städte, Regionen, Urlaubsziele. Und politische Ansichten, inzwischen sogar von Modefirmen (»Dior – We should all be feminists«).
Jeder Bereich des Lebens, über den sich irgendjemand definiert, ist ungefähr eine Minute nach der Erfindung des T-Shirts zum Aufdruck geworden. Ich bin alt und hartgesotten? Schau mal, mein Motörhead-Shirt. Ich bin jung und frei? Hier, Lizzo auf der Brust. Das richtige Musik-Shirt im richtigen Moment kann Freundschaften begründen. Hey, du magst dieselbe Band wie ich? Lass uns gemeinsam in den Sonnenuntergang spazieren!
Genauso können T-Shirts unüberbrückbare Gräben anzeigen. Als Kendall Jenner, die zweitjüngste Schwester aus dem Kardashian-Clan, vor ein paar Jahren beharrlich mit einem Slayer-Shirt rumlief, reagierte Gary Holt, der Slayer-Gitarrist, ungnädig – er trug bei Konzerten fortan ein T-Shirt mit der Aufschrift »Kill The Kardashians«.
T-Shirts zeigen Flagge. Aber: Eine ganze Generation hat sich über den Fänger im Roggen definiert. Hat den jemals jemand als T-Shirt getragen? George Orwells 1984 hat für viele Menschen die Grundängste der Gegenwart auf den Punkt gebracht. Aber sieht man jemals jemanden mit einem 1984-Shirt? Das richtige Buch im richtigen Moment kann für ein Lebensgefühl so prägend sein wie eine Platte oder ein Film. Zum Hemd reicht es trotzdem nie.
Na gut, es gibt praktische Erwägungen. Bei Popstars kann man ein Gesicht aufs Shirt drucken, und jeder weiß Bescheid. Bei Bands sind es bekannte Schriftzüge. Aber in der Literatur ist das Besondere und besonders Schöne ja, dass so vieles der eigenen Vorstellung überlassen bleibt. Wie der junge Werther aussehen mag? Wie viele Palmen es auf Robinson Crusoes Insel gab? In welcher finsteren Gegend das Kalkwerk steht? Das meiste findet nur in unseren Köpfen statt – oder in Verfilmungen (die sehr oft auch besser eine bloße Idee geblieben wären).
Vielleicht nur ein Traum, aber hübsch wäre das schon, eine Welt, in der Menschen ihre Lieblingsbücher auf der Brust tragen. Man träfe sich Montagfrüh im Büro an der Kaffeemaschine, und der erste Small-Talk-Satz wäre nicht: »Ah, am Samstag auf dem Depeche-Mode-Konzert gewesen?«, sondern: »Hey, wieder das ganze Wochenende am Ulysses rumgeknabbert?«