Folge 2: Die Wirtschaftskrise und ich

Wenn das internationale Finanzsystem wirklich zusammenbricht, wäre unser Autor verloren. Denn er hat nichts Richtiges gelernt.

Seit Wochen lese ich die Meldungen vom Zusammenbruch des Finanzsystems und merke nichts davon. Alles um mich herum funktioniert: meine EC-Karte, mein Computer, noch nicht einmal meinen Job habe ich verloren.
Es muss daran liegen, dass im Moment sehr viele Menschen damit beschäftigt sind, das Finanzsystem zu retten: 1 Billion Dollar soll die amerikanische Regierung schon dafür ausgegeben haben. Dagegen ist der Irak-Krieg ein wahres Schnäppchen (616 Milliarden Dollar).
Gestern nacht konnte ich lange nicht einschlafen. Ich habe mir vorgestellt, dass die 1 Billion Dollar nicht reichen. Dass es mehr bräuchte, vielleicht 5 oder 10 Billionen Dollar, dass so viel Geld aber niemand hat, zumindest nicht flüssig, noch nicht mal Frau Schäffler und Frau Ohoven zusammen.

Was wäre also, wenn das internationale Finanzsystem wirklich zusammenbricht? Wenn das Geld nichts mehr wert ist? Wenn nichts mehr funktioniert und wir alle unsere Jobs verlieren, erst die Banker, dann die Versicherer und Manager, und irgendwann die Google-Mitarbeiter, die Werber, die Journalisten?
Was, wenn ICH meinen Job verliere - weil keiner mehr Glossen oder Kommentare lesen will, wenn er Hunger hat. Ich wäre verloren. Ehrlich. Ich kann nichts, nichts Wirkliches, nichts Echtes. Nicht kochen, nicht Haare schneiden, nicht Brot backen. Ich kann keinen Stuhl schreinern, keine Hose nähen, keine Wunde verarzten. Ich kann nur schreiben und mir ein paar Gedanken machen. Vielleicht noch telefonieren und im Internet surfen. Ich hätte nichts Substanzielles anzubieten, ich wäre wertlos, ich wäre verloren.

Bei meinen Freunden sähe es nicht anders aus:
Einer ist Maler. Mittelerfolgreich. Öl auf Leinwand. Vielleicht könnte er, wenn es hart auf hart kommt, das eine oder andere Bild eintauschen. Gegen ein paar Äpfel oder Eier.
Ein anderer ist Schriftsteller. Er ist erfolgreich, weil er Dekadenz und Verfall so gut beschreiben kann. Aber wenn die Welt verfällt, wollen die Menschen entweder gar nichts lesen oder Erbauliches. In einer Welt ohne gesundes Finanzsystem wäre er sicher kein erfolgreicher Schriftsteller mehr.
Eine andere hat ein paar Millionen auf dem Konto. Dass sie ein Problem hat, versteht sich von selbst. Oder meine Ex-Freundin. Modedesignerin. Wer braucht Mode in einer Welt ohne Geld? Eine andere hat eine Internet-Firma in New York. Ausgerechnet New York - die Stadt bricht doch als erste zusammen.
Alle meine Freunde sind kreativ, können programmieren, delegieren, organisieren. Alle haben mit Dingen zu tun, die kein Mensch zum Leben braucht: mit Wörtern und Farben, mit Ideen, Diagrammen, Programmiersprachen und Werbebannern.
Eine alte Schulfreundin von mir hatte keine Lust auf die Universität. Sie hat eine Schreinerlehre gemacht und ist im Bayerischen Wald geblieben. Damals habe ich mich gefragt, warum sie so etwas macht. Warum Schreiner werden, wenn man ein Abitur hat? Seitdem der Finanzmarkt zusammenbricht, verstehe ich sie.

Meistgelesen diese Woche:

Ich würde dann wohl auch nach Hause ziehen. Zurück zu meinen Eltern. Mit zwei Koffern würde ich vor der Tür stehen und sagen: „Mama, Papa, seid nicht böse, ich habs probiert." Ich würde wieder in meinem Kinderbett schlafen, um mich herum die Dschungelbuchtapete, und gegen den Hunger würde ich die Tomaten und Karotten essen, die meine Mutter im Garten heranzieht.