Folge 40: Die Chaos-Theorie

Die Sendung "Comedystreet" auf ProSieben (Dienstag 23:15 Uhr) ist die Punk-Version von "Die versteckte Kamera". Simon Gosejohanns völlig schmerzfreie Attacken auf Passanten zeigen, wie überfordert, verzagt und humorlos der Durchschnittsbürger durchs Leben geht.

Unter den vielen mittelmäßig lustigen Sendungen im deutschen Fernsehen gehört Comedystreet zu den lustigsten. Warum? Sie bringt mich zum Lachen UND zum Nachdenken. Über das Leben, vor allem aber über mein Volk, meine Mitbürger, die Deutschen. Ich bin sicher, der Produzent hat das nicht im Geringsten beabsichtigt – die Sendung läuft auf ProSieben – aber es ist nun mal so.

Worum geht es? Die Sendung dreht sich von der ersten bis zur letzten Minute um einen durchgeknallten Typen namens Simon Gosejohann. Der erregt auf alle möglichen Art und Weisen öffentliches Ärgernis, in irgendeinem Busch sitzt ein Kamerateam und filmt die Reaktionen der umstehenden Menschen. Das Ganze funktioniert wie „Die versteckte Kamera“, nur ohne Frank Elstner und in lustig.

Ein paar Beispiele (und dazu gleich ein Film): Simon Gosejohann trägt eine weiße Radlerhose, unter der sich ein zirka 40 Zentimeter langes halb erigiertes Glied abzeichnet, das er genüsslich kratzt, während er Touristen auf dem Marktplatz anspricht. Simon Gosejohann stürmt im Anzug auf ein Rentnerpärchen zu und unterstellt ihm, „Ich hasse euch alle, ihr Wichser!“ ans örtliche Arbeitsamt geschmiert zu haben.


Simon Gosejohann setzt sich im Strahlenschutzanzug auf eine Parkbank, in der Hand einen Silberkoffer mit Radioaktivzeichen, aus dem er mit viel
Fingerspitzengefühl ein Wurstbrot herausfingert.

Simon Gosejohann stürmt in Polizeiuniform auf zwei deutsche Hausfrauen zu, zitternd vor Angst, sich hektisch umsehend und gestehend, sich nicht nur verlaufen, sondern auch Angst zu haben, weil die Gegend einen üblen, ja gefährlichen Eindruck auf ihn mache.

Das alles ist komisch, weil der Hauptdarsteller keine Schmerzgrenze kennt. Erschreckend dagegen sind die Reaktionen der Menschen. Die meisten reagieren nämlich gar nicht. Sie drehen den Kopf weg, sie schauen starr geradeaus, manche tuscheln, manche verstummen. Alle wirken sie überfordert und hilflos, verzagt und humorlos. Nie lacht sich einer schlapp, nie empört sich jemand, schreitet ein, wird stutzig, setzt dem absurden Geschehen irgendetwas Entschiedenes entgegen.

Das alles sind Menschen, die mein Leben mitprägen, die meine Regierung
wählen, die die Atmosphäre, in der ich lebe, beeinflussen. Es ist traurig zu
sehen, was für ein verzagtes, leidenschaftsloses, ängstliches Volk wir
Deutschen zu sein scheinen, ganz nach innen gekehrt, manipulierbar fast, als könnte man alles mit uns anstellen, als würden wir alles hinnehmen und runterschlucken.

Die Fragen, die sich mir jedes Mal wieder stellen, sind: Hinterfragen wir zu
wenig? Wehren wir uns zu wenig? Sind wir zu unkritisch? Zu unsicher? Wollen wir unser Leben mitgestalten oder nur dumpf wegschauen, wenn direkt vor unseren Augen Ungeheuerliches passiert? Denn das sind ja nur in dieser Sendung große Geschlechtsteile und ängstliche Polizisten, im Leben aber oft ungerechte, empörende und traurige Dinge.

Fotos: Guido Ohlenbostel/ProSieben