Ich wäre gestern Abend fast zu meinen Nachbarn gegangen, um mich über ihr Lachen zu beschweren, das von einer Etage tiefer nach oben drang. Darf man laut Spaß haben – an einem Tag, an dem ein 17-Jähriger neun Jugendliche, drei Lehrer und drei Passanten erschießt? Aber was hätte ich sagen sollen: Lachen Sie heute bitte nicht?
Und was wäre gewesen, wenn 15 Menschen bei einem Busunglück umgekommen wären? Oder wenn irgendwo ein toter Säugling in einem Müllcontainer gefunden würde? Was ist mit den Verschütteten unter den Ruinen des Stadtarchivs in Köln? Hätten mich die Nachbarn da auch genervt? Aber es geht nicht nur um mich – es geht um die Frage nach einer gesellschaftlichen Norm bzw. darum, dass sie eben fehlt: Wie soll sich ein Land verhalten nach so einer schrecklichen Tat? Gibt es irgendeine Regel, der man folgen könnte? Einen Maßstab der Pietät mit Allgemeingültigkeit?
Schon wenige Stunden nach dem schockierenden Ereignis verlieren die Bilder an Wirklichkeit: Die Überinformation durch Zeitung, Radio, Internet lässt die Toten zu Zahlen werden und enthebt sich in der Addition unserer Vorstellungskraft. Die wenigen verfügbaren Fakten klingen plötzlich wie historische Daten.
Doch je unfassbarer das Geschehen scheint, umso mehr stellt sich die Frage: Darf laute Musik in Kneipen und Clubs gespielt werden? Sollen die Menschen besser daheim bleiben anstatt Freunde zu besuchen oder essen zu gehen? Müsste man in solchen Fällen kollektive Trauer verordnen? Und wenn ja: Für welche Fälle würde das gelten? Und wann nicht?
Für alles gibt es Regeln, Handlungsanweisungen für jedes Ereignis. Und doch stehen wir jetzt da und wissen es: nicht.
Der Starkbieranstich auf dem Münchner Nockherberg ist wegen des Amoklaufs von Winnenden heute abgesagt worden. Hätte man auch darüber nachdenken können, den Karneval ausfallen zu lassen, als kurz zuvor je zwei Familienväter in Schleswig-Holstein ihre Frauen und Kinder umgebracht haben? Aber wäre das richtig gewesen? Und hätte es irgendetwas geändert? Es gibt für so etwas keine Maßstäbe. Es kann sie nicht geben.
Es mag naiv sein, hier über ein Regelwerk nachzudenken. Aber vielleicht wäre so etwas in Momenten wie diesen das Einzige, was den Menschen als Gemeinschaft – und als Einzelnen – helfen könnte: etwas zum Festhalten, eine gemeinsame Haltung, die Verbindung schafft und bewirkt, dass Ereignisse gemeinschaftlich verarbeitet werden können. Denn so, wie es ist, bleibt jeder mit seinem Schock oder seiner Trauer allein. Immer.