Warum Modesünden nicht nur peinlich, sondern notwendig sind

Bauchfreie Oberteile, Arschgeweih und Schmetterlinge auf dem Gürtel – die Mode der 2000er kehrt zurück. Ein Plädoyer für modische Ausreißer in der Jugend.

Foto: Matrin Parr

Sie waren lila-blau, hatten weiß-braune Stickereien auf dem Schaft und sehr schräg geschnittene Absätze. Cowboystiefel, wie sie im Buche stehen, aber nie bei uns im Windfang stehen würden. Meine Mutter fand Westernstiefel ordinär und schlecht für die Füße, mein Taschengeld brachte mich mit 15 nicht ansatzweise in die Nähe des Kaufpreises. Wir kamen also nie ­zusammen, und bis heute bereue ich bitterlich, nicht wenigs­tens einmal wadentief in diesem Neunzigerjahre-Trend gesteckt zu haben. Mein Gang wäre über Nacht ein anderer gewesen, ich hätte mir stolze Blasen wie all die anderen Mädchen gelaufen. Jetzt ist da nur Phantomschmerz. Ebenfalls versagt blieben mir fingerlose Spitzenhandschuhe und eine saure Dauerwelle. Immerhin den mit Haarlack fixierten, seitlichen Fächerpony und übers Knie reichende Radlerhosen wie bei Milli Vanilli kann ich belegen.

Auf all diesen Listen mit soundsovielen Dingen, die man angeblich getan haben sollte, bevor man tot umfällt, ist meistens von Delfinschwimmen die Rede, Marathon laufen, im Baumhaus schlafen, Flaschenpost verschicken. Sicher alles unvergessliche Erlebnisse. Aber mindestens genauso wichtig – und deutlich ­einfacher und billiger zu erfüllen – wäre: in jungen Jahren genug Modesünden mitnehmen. Denn keine modische Biografie ist komplett ohne ein paar peinliche Ausreißer, interessanter macht sie das sowieso. Oft heißt es, man solle so viel wie möglich herumgekommen sein, um irgendwann sesshaft zu werden. Das Gleiche gilt für die Suche nach dem eigenen Stil: Nur wer ordentlich herumprobiert, wird ihn irgendwann finden.

So wie nachts ins Freibad zu klettern oder auf dem Schulklo zu rauchen einem das befriedigende Gefühl verschaffte, ein bisschen wild und gefährlich zu sein, sollte man auch geschmacklich ein paarmal auf der schiefen Bahn gelandet sein. Sachen tragen, von denen man insgeheim schon vorher weiß, dass sie einen nicht gut, aber verrucht aussehen lassen. Sich hoffnungslos in Klamotten verlieben, die nach großem Aben­teuer aussehen, weil sie glitzern und glänzen, in Wahrheit aber kratzen und die Haare elektrisch aufladen. Am Wochenende das bunte Glitter-Make-up aus der berüchtigten Serie Euphoria aufmalen, als Zeichen, dass man natürlich auch guckt und über die Abgründe des amerikanischen Vorstadtlebens Bescheid weiß. Es geht um kurze, dafür leidenschaftliche Affären. Nur so lernt man nach und nach, welche Erfahrungen eher nicht wiederholt werden müssen, bisweilen mit freundlicher Unterstützung der irritierten Außenwelt. Aber wer nicht mindestens einmal das Kopfschütteln der Nachbarn hervorruft, hat nie was riskiert. Und zu oft auf seine Eltern gehört.

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Sowieso geben die menschlichen Abgründe schon immer die besseren Geschichten ab. Die Anekdoten, hoffentlich mitsamt Belegbildern, von gewagten Outfits und Verfehlungen bereiten den eigenen Kindern später die deutlich größere Freude als das Foto mit weißem Pulli und Jeans. So wie das alljährliche Schulporträt, bei dem man es für eine gute Idee hielt, die Haare im Stil von Cyndi Lauper zu toupieren. Auch Victoria Beckham und ihr ­Aussehen wären heute nur halb so interessant, wenn sie aus ihrer Vergangenheit nicht so viel auf dem modischen Kerbholz hätte: untertassengroße Sonnenbrillen, Jeans-Hotpants, ein lilafarbener Hochzeitsdress. Sternstunden der Geschmacksverirrung.

Wer immer nur modische Schonkost verabreicht bekommt, wird ­
irgendwann das Gefühl haben, etwas Entscheidendes verpasst zu haben

All die Kinder da draußen, die gerade in farblich entsättigten Kinderzimmern aufwachsen, kein buntes Plastikspielzeug in die Hände bekommen, nie Pullover mit diesen albernen Wendepailletten oder viel zu kurze Röcke tragen dürfen – sie passen perfekt ins Konzept des geordneten Geschmacksbürgertums. Aber wer immer nur modische Schonkost verabreicht bekommt, wird ­irgendwann das Gefühl haben, etwas Entscheidendes verpasst zu haben. Quasi den Oreo-McFlurry und die Schinken-Chips unter den Bekleidungsartikeln. Das zu erwartende Kompensations­verhalten dürfte dann eher nicht bei minima­listischen Marken wie COS oder Celine statt­finden. Wer dagegen bis Ende zwanzig genug über die Stränge geschlagen hat, wird vielleicht mit Mitte vierzig nicht noch mal freidrehen, sondern seinen Frieden in einer total nachhaltigen Standardgarderobe finden.

Vor allem Eltern von jungen Frauen müssen deshalb jetzt sehr stark sein: Die 2000er kehren gerade in die Mode zurück. Wer schon in
der ersten Runde dabei war, erinnert sich mit Schrecken: propellergroße Schmetterlinge auf Gürteln, getönte Brillengläser, Oberteile, deren Säume immer weiter nach oben wanderten, während die Hosen auf Talfahrt gingen. Am liebs­ten schubbelte der Bund auf den Becken­knochen herum und legte beim Hinsetzen hinten die Unterhose frei, bisweilen sogar noch ein sogenanntes Arschgeweih dazu. Gemeint ist eine längliche Tätowierung oberhalb des Steißbeins, kürzlich noch einmal eindrucksvoll in der Schlussszene des Films Don’t Look Up zu bewundern, wo die von Meryl Streep gespielte Präsidentin dieses Zeitzeichen am nackten Hintern trägt.

Von solch irreversiblen Schäden ist natürlich dringend abzuraten, aber den ganzen anderen Kram soll die junge Generation ruhig noch mal selbst ausloten: Wie weit unten kann eine »Low Rise«-Hose sitzen? Und ist diese Coolness die saftige Blasenentzündung danach wert? Fühle ich mich mit zwanzig Zentimetern Bauchfrei­zone nicht nur sexy, sondern – wie die Rapperin Shirin David meint – auch »em­powered«? Oder eigentlich doch wieder nur ­sexualisiert und blöd angegafft? Mode ist ja bisweilen eine Demonstration gelebter Geschichte. Interessanter ist, man war dabei, statt nur aus stil­sicherer Entfernung zugeguckt zu haben.