Die Lage ist ernst, die Stimmung finster, die Kleidung entsprechend, äh, locker? Vor allem Emmanuel Macron hat in den letzten Wochen ein paar erstaunliche Auftritte hingelegt. Da war dieses Bild mit Hoodie und Drei-Tage-Bart, das ein bisschen zu freiwillig Ähnlichkeiten mit einer »War Room«-Situation sugerrierte, in der sich Wolodimir Selenskij befand. Am Sonntag nun kursierte ein Foto vom amtierenden französischen Präsidenten im Internet, auf dem er breitbeinig (= total ausgelassen) auf einer caramelfarbenen Ledercoach sitzt, das weiße Hemd lässig bis zur Mitte aufgeknöpft, jede Menge dichtes Brusthaar offenbarend. Seitdem sind die Lager in Frankreich noch einmal mehr gespalten. Nicht nur in Marine Le Pen und Macron, sondern auch in »hot« und »ohgottohgott«, also pro und contra präsidialer Brustbehaarung.
Das Foto ist keineswegs ein Schnappschuss, den ein Mitarbeiter heimlich nach einem anstrengenden Wahlkampfauftritt gemacht hat, sondern eine Aufnahme seiner offiziellen Fotografin Soazig de la Moissonnière. Am Sonntag teilte sie dieses Bild mit einer Reihe anderer hautnah eingefangener Momente auf ihrem Instagram-Account. Bei Macron wird nichts dem Zufall überlassen, nicht mal offenbartes Brusthaar. Die Daily Mail machte sich kürzlich ohnehin schon über »Mimicron« lustig, weil seine Posen mehr und mehr Hollywood zu imitieren versuchen. Demnach könnte die Couch-Situation eine knallharte Anbiederung an den aktuellen Trend zum »He-Vage« sein, der männlichen Variante des »Cleavage«, sprich der freigelegten Männerbrust, wie sie Timothée Chalamet bei den Oscars, Lenny Kravitz bei den Grammys und Harry Styles bei Coachella präsentierten. Die haben zwar alle keine nennenswerte Brustbehaarung, aber man darf davon ausgehen, dass Macron seinen Pelz hier nicht als Nachteil, sondern vielmehr als Überlegenheit empfindet. Sein Maßstab dürfte eher Sean Connery statt Chalamet sein. Am Sonntag ist die Stichwahl gegen Marine Le Pen – dann wird man sehen,ob sich Macrons Einsatz, um bei den Wählerinnen und Wählern zu punkten, lohnt.
Anderes Land, andere Garderobe, ebenso große Aufregung: Die finnische Premierministerin Sanna Marin trug bei einer Pressekonferenz mit ihrer schwedischen Kollegin vergangene Woche eine schwarze Bikerjacke. Und weil Finnland ja offensichtlich in die Nato will, photoshoppte ein kombinierfreudiger Twitteruser gleich mal einen Patronengürtel dazu ins Bild. Schließlich stehen Lederjacken historisch für eine gewisse Nähe zum Militär und Heldentum, weshalb (männliche) Regierungschefs in der Vergangenheit regelmäßig darin zu sehen waren. George W. Bush und John F. Kennedy in Fliegerjacken, Kim Jong-Un in doppelreihigem Ledermantel, nicht zu vergessen Markus Söder mit Pilotenjacke beim Besuch des Airbus-Zentrums in Manching. Aber eine Politikerin in Lederkluft bei einem offiziellen Termin? Das ist neu.
Abgesehen vom persönlichen Geschmacksempfinden in Sachen Brustbehaarung und Bikerjacken: Müsste man angesichts der angespannten Weltlage nicht eher annehmen, dass der öffentliche Auftritt (und dazu gehört auch der Instagram-Account der Hof-Fotografin) gerade extra seriös und staatstragend daherkommt? Olaf Scholz trug kurz vor Kriegsbeginn noch grauen Wohlfühl-Pulli im Regierungsflieger. Aktuell wäre dieses Bild schwer vorstellbar. Boris Johnson mag gerne feiern gehen (auch mit wildem Haar), aber ohne Anzug lässt er sich für gewöhnlich nicht erwischen.
Dass Macron sich nun wortwörtlich weniger zugeknöpft zeigt, hat fast schon satirische Züge
Macron dagegen unterscheidet offensichtlich zwischen der außenpolitischen und der innenpolitischen Realität, und für letztere glaubt er vermutlich, dass eine nahbare beziehungsweise hautnahe Inszenierung hilfreich sein könnte. Die fehlende Nähe zu den »normalen« Wählern ist schließlich das, was ihm zunehmend zum Verhängnis geworden ist. Dass er sich nun ausgerechnet wortwörtlich weniger zugeknöpft zeigt, hat fast schon satirische Züge.
Marin dagegen inszeniert sich natürlich auch. Sie ist 36 und war bei ihrer Wahl 2019 die jüngste Regierungschefin der Welt. In dieser Generation passiert heute kaum mehr etwas ohne Fotosituation und Like-Potenzial im Hinterkopf. Auch ihre Intention ist Nahbarkeit, aber bei ihr ist es eine durchgehende und damit authentischere Inszenierung. Sie scheint sich vielmehr zu weigern, sich in der Politik förmlich und damit anders zu kleiden als sie es sonst tun würde, und trägt deshalb, wenn es der Rahmen nicht unbedingt anders erfordert, betont »casual«: schwarze Hose zum schwarzen Rolli, schwarze Jeans zu Blusen, oder eben auch mal eine Bikerjacke, die sie schon bei Verhandlungen im Ständehaus im September 2021 anhatte. Dass hier irgendwo Nato-Ambitionen mitschwingen, ist unwahrscheinlich bis absurd. Eine neue Generation von Politikern trägt privat andere Kleidung als die vor ihr und wenn der Zwanglosigkeits-Index so weiter geht, wird diese Generation auch im Amt nicht bis in alle Ewigkeiten Hosenanzug, Kostümchen und Budapester tragen. Alles andere wäre auf Dauer Staffage.
Typischer Instagram-Kommentar: »Haarige Angelegenheit«
Das sagt der Guardian: Voulez-vous voter pour moi ce soir?
Das sagt Annalena Baerbock: »Ich habe auch noch ein paar Lederjacken im Schrank!«