Wenn sich auch ihre Herkunft im Dunkel der Geschichte verliert, so können die Bayern sich über ihre Eigenart doch aus frühen Quellen unterrichten, insbesondere aus Heiligenbeschreibungen wie der Vita Sancti Corbiniani oder der Vita vel passio Sancti Haimhrammi Martyris.
Für München spielt die anonym und fragmentarisch überlieferte Vita Valahfridi eine ähnliche Rolle. Sie schildert die Taten und Erlebnisse des frommen, seiner Querköpfigkeit wegen bei der Heiligsprechung jedoch übergangenen Wandermönchs Wilfried, und ein Passus daraus verdient es, in voller Länge zitiert zu werden. Es geht darin um die Leute, die in der Gegend des heutigen München saßen, und Wilfried sagt von ihnen: »Quodcumque istis paganis obtuleris spectaculum, seu pompam seu certamen equitum seu supplicium seu gregem histrionum aut ioculatorum, id tam moroso vultu spectabunt, quasi Medusam aliquam aspicere cogantur.« Frei übersetzt heißt das: »Was immer man diesen Bauernfünfern an Events bietet, sei es eine Prozession, ein Turnier, eine Hinrichtung oder die Vorstellung einer Gauklertruppe, sie machen ein Gesicht dazu, als sähen sie des Teufels Großmutter höchstpersönlich.« Es ist dies die erste Erwähnung des späterhin sprichwörtlichen Münchner Grants, eines Missmuts von ganz eigenem Zuschnitt. Den Urtext der Wilfried-Vita hütet das Münchner Stadtarchiv, und zwar in einem Faszikel, der im Hausjargon »Büchse der Pandora« genannt wird. Man kommt an das Dokument nur sehr schwer heran, und auch der oben zitierte Satz stünde nicht hier, hätte das Stadtarchiv nicht ein Leck (das verständlicherweise ungenannt bleiben will). Angeblich haben der Oberbürgermeister und das Fremdenverkehrsamt die Hand auf dem Dokument, um dem Münchner Grant, den es als solchen in der Hauptstadt des Easy Going nicht geben soll, jedenfalls mal die historische Tiefe vorzuenthalten. Dass diese Geheimhaltung in der Sache nichts gebracht hat, weiß die ganze Welt, und sie weiß es umso genauer, als sie den Grant ja nicht verurteilt, sondern im Grunde als ein Münchner Alleinstellungsmerkmal schätzt, vergleichbar der Weißwurst oder der Feinstaubbelastung am Altstadtring. Euer Grant, sagen die Touristen oft zu den Einheimischen, ist wie der Wiener Schmäh oder der Londoner Nebel, also passt ein bisschen darauf auf. Um nicht zu verraten, wie gern sie das hören, schauen die Münchner bei solchen Komplimenten »moroso vultu«, also saugrantig.
Woher dieser ihr Grant kommt und wie er in seinem Innersten beschaffen ist, darüber haben sich schon viele den Kopf zerbrochen. Indem sie einen genuin Münchner Grant postulieren, unterstellen sie, dass er anders ist als der Grant an sich, ein im Übrigen weltweit verbreitetes Laster, dessen masochistischer Grundcharakter unübersehbar ist: Man verspürt Unlust an der Welt und ihren Sachen, doch die Welt denkt nicht daran, sich da ernstlich hineinziehen zu lassen, was wiederum die Unlust unseres Patienten ins Monströse steigert. Der Grantler seinerseits kennt diesen Mechanismus von Kind auf, doch statt sich ihm durch Neugier auf die Schönheiten des Lebens zu entziehen, lässt er sich nur noch tiefer in den Strudel des Missmuts sinken: Wär doch gelacht, wenn’s nicht wehtät!
Der Münchner Grant scheint sich vom globalen weniger in der Substanz zu unterscheiden als vielmehr dadurch, dass ihn seine hiesigen Adepten mit mehr Gründlichkeit als anderswo ausüben, dass sie ihn gewissermaßen systematisch bewirtschaften. Nicht dass sie einen Terminkalender des Grants führten, das wohl nicht. Aber sie haben die wichtigsten Missmutsanlässe durchaus gespeichert, ja man wird nicht fehlgehen, wenn man ihnen eine Art Instinkt dafür zutraut. Nehmen wir die Vögel des Himmels. Sie säen nicht und ernten nicht, und dennoch sammeln sie sich pünktlich im Frühherbst auf den Dachantennen. So auch der Münchner: Noch steht es nicht in der Zeitung, dass die Blade Night durch sein Wohnviertel führt oder am Odeonsplatz ein Open-Air-Konzert sein wird, da bläht sich ihm schon der Hals, und nichts wäre schlimmer für ihn, als wenn er erkrankte und so um die Freude gebracht würde, sich grün und blau zu ärgern. Er stellt sich seinem Grant, nimmt ihn an, denn nur mit ihm ist er, wie das heute heißt, ganz bei sich.
Dieser positiven Einstellung ist es zu danken, dass stets eine ausreichende Menge grantiger Münchner auf Achse ist. Erinnern wir uns, was der Mönch Wilfried als erstes Beispiel für münchnerische Grant-Entfaltung nennt? Zu seiner Zeit war es die Prozession, und sie ist es bis heute geblieben. Alljährlich treffen sich die Münchner Stadtpfarreien an Fronleichnam zur großen Sakramentsprozession in der Innenstadt. Eine Pracht ist das und ein Gepränge, dass man, wäre das Bonmot nicht schon vergeben, »München leuchtet!« ausrufen möchte. Und die Münchner? Bitteren Herzens stehen sie am Straßenrand und raunzen einander zu, dass es die Trachtenjugend an Haltung fehlen lasse, dass der Kardinal ziemlich schwitze, dass die Touristen kein Recht hätten, derart laut mitzusingen, und dass man sich überhaupt besser in den Schatten gestellt hätte.
Turniere und Hinrichtungen gibt es heute nicht mehr, aber selbst als es sie noch gab, fanden die Münchner daran etwas auszusetzen. Herzog Albrecht IV. zum Beispiel hatte einen Bruder, der ein großer und überaus beliebter Raufbold war. Er hieß Christoph der Starke, doch wann immer er einen seiner Turniergegner aus dem Sattel stach, verzogen die Münchner das Gesicht und sagten, mit dem Kinn auf den Unterlegenen deutend: »De Rüstung is aa hi. Schad drum.« Es war dies eine Zeit, in der man den Leuten auch die eine oder andere Hinrichtung bot, doch während dergleichen in den restlichen europäischen Metropolen genossen und kundig beurteilt wurde, dachten die Münchner an die Knödel, die zu Hause schon auf dem Herd standen und unweigerlich verkochen würden, wenn der Henker – »Wo hadn der sei Gschäft glernt?« – nicht bald zu einem Ende käme.
Neuerdings hört man manchmal, der Münchner Grant sei in den Nachkriegswirren verloren gegangen. Er werde, heißt es, unter dem Einsatz freiwilliger Grantler vom Fremdenverkehrsamt künstlich hergestellt, so wie ja auch die dem Grant in mythischer Hinsicht ebenbürtige Gemütlichkeit von einer entsprechend ausgebildeten Leichtlohntruppe vorgeführt werde. Die Vermutung hat einiges für sich, und besonders beim Oktoberfest, dem modernen Pendant zu Wilfrieds Gauklertruppe, gewinnt man verstärkt den Eindruck, als würfe die Stadt ganze Kontingente von Grantlern und Gemütlichen auf die Wiesn, um nur ja die Gäste aus aller Welt nicht zu enttäuschen. Möglicherweise erwächst diese Sicht der Dinge aber aus einem sehr typischen und hoffentlich bodenständigen Grant.
Illustration: Dirk Schmidt