Meter für Meter

Unser Kollege war bis zuletzt gegen den Transrapid. Deshalb haben wir ihn gebeten, einfach mal wieder mit der S-Bahn vom Flughafen ins Zentrum zu fahren.

16:23 Uhr ◊ Wer auch immer den S-Bahnhof Flughafen München gestaltet hat, war der Meinung, dass das Leben eine Qual ist und in keiner Weise lebenswert. Ein klammer Wind weht durch den Tunnel, die spärlich auf dem Bahnsteig verteilten Bänke drücken ihr Lochmuster in die Gesäße der Reisenden, allein das Plakat des »Hard Rock Café Munich« erhellt die Düsternis. Die S8 braucht 38 Minuten bis zum Marienplatz, die S1 zehn Minuten länger, aber es ist egal, welche man nimmt: Auf beiden Strecken ist jegliche Freude, die die Ankunft im Großraum München vielleicht ausgelöst haben mag, schnell verflogen.

16:42 Uhr ◊ Nach ewigem Rumstehen fährt die S8 endlich los. 16:43 Uhr ◊ Aber nach nur einer Minute hält der Zug schon wieder am Besucherpark. Statt einer Grünanlage: Hangars, Verwaltungsgebäude, eine röhrenförmige Fußgängerbrücke.

16:49 Uhr ◊ Durch ausgedehnte Felder erreichen wir nun Hallbergmoos – nicht viel mehr als ein großer Parkplatz. Niemand steigt ein, niemand aus.

16:50 Uhr ◊
Der Zug fährt weiter durch Äcker, Wiesen und Haine, quert den Pförreraugraben und den Schwaigbach. Die Landschaft ist wie ausgestorben, Menschen oder Tiere gibt’s hier nicht.

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16:56 Uhr ◊ Der Transrapid wäre jetzt schon am Ziel. Wir sind im Bahnhof Ismaning, wo die Wanddekoration an Propagandamalerei in der DDR erinnert: tüchtige Landwirte, ein halbierter Kohlkopf, ein Traktor im Ernteeinsatz.

17:00 Uhr ◊ Unterföhring bleibt unsichtbar. Ein vor zwei Jahren fertiggestellter Tunnel (Kosten: 83,2 Millionen Euro) unterquert den gesamten Ort, der Bahnhof hat die Atmosphäre eines stillgelegten Krankenhauses.


17:02 Uhr ◊
Als man gerade zu fürchten beginnt, dass der Zugführer die S-Bahn irrtümlich ins bayerische Hinterland steuert, taucht das Weichbild Münchens am Horizont auf – in Form der drei Schornsteine des Heizkraftwerks Nord. Kurz darauf schweift der Blick über jene Tore, durch die mehrere hunderttausend Ton-nen Restmüll pro Jahr in die Brennöfen des Kraftwerks geliefert werden. War die Fahrt bisher von bleierner Provinzialität geprägt, so ziehen jetzt Anzeichen von Verelendung und urbanem Verfall vor den Fenstern vorbei.

17:03 Uhr ◊ Ab Johanneskirchen fährt der Zug an umgekippten Bauwagen vorbei, an finsteren Wohnblöcken, einem Baustoffhandel, einem Wertstoffhof, einem rostigen Güterwaggon mit dilettantischen Graffiti, Plakatwänden, Lärmschutzzäunen. Neben den Gleisen wächst das Unkraut meterhoch.

17:05 Uhr ◊
Auf dem Bahnhof Englschalking bricht Löwenzahn durch den Asphalt des Bahnsteigs. Der Müll liegt neben dem Abfallkorb. Bald eine halbe Stunde unterwegs und noch nichts gesehen, das die Bezeichnung »schön« verdient hätte.

17:08 Uhr ◊ Rechts erscheint das neue Hochhaus der Süddeutschen Zeitung.

17:14 Uhr ◊
Hinter dem Ostbahnhof verschwindet der Zug endlich unter der Erde. Die Fahrt war eine Qual, gab aber immerhin zu reichlich Beschwerden Anlass. Vielleicht ist es gerade deshalb gut, dass der Transrapid nicht gebaut wurde: Solange S1 und S8 über die Dörfer gondeln, wird das Granteln kaum aussterben.

Illustration: Dirk Schmidt