Damit konnte keiner rechnen. Als Oasis in den 90er Jahren die unumstrittenen Könige des englischen Pop waren, hielt man die Gallagher-Brüder vor allem für vorlaute Rüpel. Typen, die zwar gut auf dicke Hose machen konnten, die man aber darüber hinaus lieber nicht zu ausführlich zu Wort kommen lassen sollte, weil: Drogensprüche, Angebereien, Wortgerülpse.
Und jetzt? Sprung in die Gegenwart: Oasis sind seit neun Jahren Geschichte, die Brüder aufs Messer zerstritten, ihre Hits unsterblich, und Noel Gallagher ist, keiner weiß, wie es dazu kam, auf einmal ein Elder Statesman. Er wird nicht nur gefeiert für seine Hits (und good lord, hat der Mann Hits geschrieben!), er wird als kulturelle Instanz verehrt, ganz England befragt ihn zu den brennenden Fragen der Zeit, lässt ihn in Zeitungen, im Fernsehen, in eigenen Radiosendungen das Geschehen der Gegenwart einordnen. Am liebsten natürlich das Pop-Geschehen. Und dabei zeigt er erstaunliches Bewusstsein für die Weltpolitik.
Wenn man ihm im Büro seiner Londoner Plattenfirma gegenübersitzt, genügt es, die Charts zu erwähnen, und die Schimpfmaschine fährt hoch. »Warum singt Adele ständig diese Balladen?«, schimpft Gallagher im SZ-Magazin-Interview, »da draußen brennt die Welt, Terroristen nieten Menschen um, halb Syrien ist auf der Flucht nach Europa, das reinste Armageddon, und was macht Adele? Singt Hello, buhuu, mein Freund hat mich verlassen, schnüff.«
Gallagher weiß genau, welchen gesellschaftlichen Stellenwert Popmusik hat, welche politische Wirkung sie entfalten kann, wenn Zeit und Klang zusammenfinden. Er glaubt fest daran, dass Popstars das Geschehen ihrer Zeit in Songs gießen müssen. Er selbst aber, mit fast 50, sieht im Moment die nächste Generation in der Verantwortung. »Soll ich mich mit fast fünfzig hinstellen und denen irgendwas predigen? Die lachen mich doch aus.«
Macht der Mann es sich leicht? Im Gegenteil. Er könnte einmal im Monat zur Bank gehen, die Oasis-Millionen zählen und ansonsten Bier trinkend die Spiele von Manchester City verfolgen. Aber er schreibt unermüdlich Songs, geht auf Tournee, spielt in jedem Winkel der Welt, vor nach wie vor riesigem Publikum. Und klingt, 20 Jahre nach der größten Oasis-Zeit, zwischendurch auch verblüffend bescheiden: »Ich habe ›Don't Look Back in Anger‹ vor zwanzig Jahren nachts auf einem Pariser Hotelbett geschrieben. Hätte ich Ihnen das Lied damals vorgespielt, hätten Sie gesagt, ›och ja, schön‹ Heute sagen Sie ›Riesenhit‹. Was macht den Unterschied aus? Die Leute. Die Fans. Die Käufer. Die Konzerte. Da sehen Sie es: Die Hörer sind der wichtigste Teil des Songs.«
Aber das sind nur Momente, zum Glück. Wenn man Noel Gallagher eine Sekunde Zeit gibt, holt er wieder Schwung – und teilt aus. Dann geht es um die SMS-Nachrichten seines Bruders Liam. Um seine eigene, alles entscheidende Charakterschwäche. Um das Geheimnis von David Bowie. Um das grundsätzliche Problem der musizierenden Mittelklasse. Und wenn man Gallagher eine Weile zuhört, hat man nicht nur viel gelernt – man möchte auch dringend mit ihm in den nächsten Pub gehen, um ihn einfach bei zwei bis zehn Pints weiterreden zu lassen. Ihn, den überraschendsten Elder Statesman des britischen Pop.
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Foto: Mauricio Santana / Getty Images