Sie taucht meistens unerwartet auf, wie eine lästige kleine Schwester. Gerade dann, wenn ich das Gefühl habe, läuft doch. Ich habe zugehört und Anekdoten erzählt, und plötzlich ist die Lücke da. Dann hat mein Gegenüber einen Namen erwähnt, den ich vielleicht mal gehört habe, aber nicht einordnen kann. Einen bekannten Namen wie, sagen wir, Kurt Cobain. In Sekundenbruchteilen muss ich abschätzen, wie groß dieser Name tatsächlich ist und wie unkompliziert mein Gesprächspartner: Standhaft lächeln oder einwerfen, dass ich nicht weiß, was es mit Kurt Cobain auf sich hat? Manche Gesprächspartner sagen einfach, wer Kurt Cobain war. Oft aber ist der Smalltalk hier zu Ende, und ich werde gefragt, wo ich verdammt noch mal die letzten zwanzig Jahre gewesen sei.
Ich habe eine Lücke, eine popkulturelle. Sie fällt mal mehr, mal weniger auf. Je nachdem, wie sehr sich mein Gegenüber mit einem wie Cobain identifiziert. Ich habe mich an die Blicke gewöhnt. An das Staunen, die Ablehnung, die Vermutungen, ich wolle provozieren. Ich bin ohne Fernsehen, ohne Comics und ohne Plastikspielzeug aufgewachsen, eine weitreichende Entscheidung meines Vaters. Er wollte ein rechtschaffener Öko-Papa sein und ich sein problemloses Mädchen. Also habe ich nicht geheult, als meine Barbie verschwand und nur mehr ihr Schuh zurückblieb zwischen meinen Holzbauklötzen. Es waren die Achtzigerjahre, mein Vater und ich waren sehr jung. Wie Aufwachsen geht, wussten wir beide nicht. Süßigkeiten gab’s also erst einmal nur auf den Kindergeburtstagen der Nachbarn. Die waren nicht öko, sondern israelisch, und konnten nicht verstehen, warum ich immer vorm Sandmännchen nach Hause musste. Alf, den Außerirdischen, kannte ich von den Sammelbildern aus Duplos, die ich geschnorrt hatte, und Benjamin Blümchen aus den Erzählungen meiner Freunde. Keine Kassetten, kein Kino, kaum Radio. Stattdessen Geigenunterricht. Ein Alltag fast wie bei den Amischen – von denen ich natürlich nichts wusste.
Die kollektive Identität aber kann ich nicht teilen, weil ich nie wirklich ein Kind meiner Zeit war
Andere aus meiner Generation können Serienfiguren wie alte Klassenkameraden aufzählen, Super Mario ist ihnen ein gemeinsamer Freund. Sie erinnern sich an das gleiche Haustier, ein Tamagotchi, und schämen sich für Haddaway und Dr. Alban, auch für »The Hoff«. Weil ich die Songs aus dem Autoradio kenne, Fenster runtergekurbelt und Lautstärke hochgedreht, schäme ich mich ein bisschen mit. Die kollektive Identität aber kann ich nicht teilen, weil ich nie wirklich ein Kind meiner Zeit war. Und so mangelt es mir an popkulturellen Koordinaten, um ein Remake zu erkennen oder interkulturelle Bezüge herzustellen. Dann passiert es, dass Frank Castorf Baal von Brecht als ein maßloses Kriegsspektakel in Asien inszeniert, über das ich mich freue wie ein Kind über eine Riesensauerei – aber die zitierten Szenen aus Apocalypse Now (»Ich liebe den Geruch von Napalm am Morgen«) kann ich auf Anhieb ebensowenig deuten wie den Armeehubschrauber auf der Bühne. Mein Theaterwissenschaftsstudium habe ich trotzdem ohne Härtefallantrag hinbekommen.
Nicht nur Song- und Filmzitate, auch Ironie fordert mich heraus. Sie funktioniert ja nur, wenn beide Seiten denselben Wissensstand teilen. Anspielungen und Pointen machen mich unruhig. Ich fühle mich wie auf Stelzen, wenn ich die einzige Zuhörerin bin und von mir Sieg oder Niederlage des Erzählers abhängen. Zu oft musste ich fragen: Ist der Witz hier zu Ende? Sicherheitshalber habe ich mir gemerkt, dass es en vogue ist, T-Shirts zu tragen, auf denen Jimi Hendrix zu sehen ist, und darüber steht »Bob Marley«. Und dass Kurt Cobain nicht der Vater von Pete Doherty ist, aber Suizid begangen hat, wovon Doherty bisher zum Glück nur träumt – jedenfalls soll er das Kate Moss erzählt haben, die ihn daraufhin rauswarf.
Ich habe aufgeholt, aber die Lücke, das habe ich begriffen, werde ich mein Leben lang behalten, sie ist Teil meiner Identität: Ich gehe überall und jederzeit davon aus, etwas übersehen oder nicht erkannt zu haben. Nicht das Recht auf ein Urteil zu besitzen, denn meine Beweisaufnahme kann niemals abgeschlossen sein. Das ist anstrengend, zwingt mich aber dazu, wachsam zu bleiben. Ich erlebe mehr Film-, Song- und Konzertpremieren bekannter Künstler als andere in meinem Alter und kann sie unbefangen erleben, denn wahrscheinlich war ich nie ihr Fan. So wie Campino zum Beispiel. Über kaum mehr rekonstruierbare Umstände bin ich ihm im vergangenen Jahr sogar persönlich begegnet, nach meinem ersten Rockkonzert, in seiner Garderobe. Er war mir sofort sympathisch. Was mich allerdings bis heute beschäftigt, sind die vielen Flaschen, die dort herumstanden. Angeblich sei das »selbstgepresstes Olivenöl«, hieß es, aber vielleicht war das auch ein Codewort aus Der Pate.