Sie ist ein Mistvieh, das wusste ich schon in der Fabrik. Aber eines, das ich sehr gern habe. Unsere Geschichte beginnt auf einem Kreuzfahrtschiff, auf dem ich vor neun Jahren mit dem English Chamber Orchestra gespielt habe. Beim Abendessen lernte ich ein Ehepaar aus der Finanzwelt kennen. Sie Engländerin, er Amerikaner, mit ausgeprägter philanthropischer Ader. Die beiden haben eine Stiftung, die junge Musiker fördert – das wusste ich aber alles nicht, für mich waren sie Judy und Bill. Wir redeten und redeten. Ich kann gut mit Zahlen umgehen, habe sogar kurz überlegt, Betriebswirtschaft zu studieren, irgendwann fragte Bill: »Was braucht man so alles als junger Pianist?« Ich sagte ungefähr: große Neugierde, ein gutes Umfeld und natürlich ein tolles Instrument. Ich dachte mir nichts dabei.
»So eines wie das da auf der Bühne?«, fragte Bill. Dort stand ein großer Konzertflügel, ich sagte: »Im Prinzip ja«, dann plauderten wir über verschiedene Modelle und ihre Eigenheiten. Zwei Tage später, wir saßen wieder beim Abendessen, sagten die beiden: »Igor, wir werden dir einen Konzertflügel kaufen.« Ich dachte, ich höre nicht recht. Aber eine Woche später bekam ich tatsächlich eine E-Mail ihrer Stiftung: »Wenn Sie Zeit haben, fahren Sie doch nach Hamburg zu Steinway und suchen sich ein Instrument aus.«
Bei Steinway betritt man eine Fabrikhalle, darin stehen acht Flügel zur Auswahl. Viele Pianisten brauchen Stunden, bis sie sich für ein Instrument entschieden haben, ich schlug beim ersten Flügel einen Akkord an und wusste: Nein. Deckel zu, weiter. Und beim fünften oder sechsten war sofort klar: Das ist sie. Dann habe ich ein bisschen gespielt, ich merkte: In den höheren Lagen wird es schnell schwierig, in den tiefen ist es auch nicht leicht, aber – was für ein Ton! Unglaublich weich und warm, gleichzeitig sehr klar und stählern. Sicher, jeder Flügel ist auf seine Art einmalig – aber mir ist kein anderer mit einem so vielschichtigen und faszinierenden Charakter begegnet.
Jedenfalls: Nun steht sie bei mir. An manchen Tagen verbringe ich acht Stunden bei ihr, manchmal nur zehn Minuten. Und natürlich führen wir keine Beziehung, aber – wir sind Partner.
Sie macht es mir alles andere als leicht. Sie ziert sich. Man muss wirklich arbeiten, sie ist kein Flügel, der sagt, mach mal, so weit du kommst, ich kümmere mich um den Rest. Wenn ich ein Werk von Beethoven, Bach oder wem auch immer spiele, verursache ich Schwingungen in der Luft, ich forme den Klang, indem ich auf bestimmte Art Klaviertasten drücke. Es gibt Tausende Faktoren, die den Klang beeinflussen, ein Großteil ist kontrollierbar, etwa die Mechanik im Flügel und die Materialien. Aber bei Weitem nicht alles. Und da gibt es eben Instrumente, die es dem Pianisten leicht machen – und es gibt meines.
Sie hat Launen, genau wie ich. Wenn ich sie an einem schlechten Tag nicht gut behandle, behandelt sie mich auch nicht gut – dann kommt nichts raus, es entsteht kein Klang und keine Freude. Dann sind da nur Töne, aber keine Musik.
Und in einem verrückten Anflug hatte ich beim Spielen das Gefühl: Dieser Charakter ist die reine Freiheit. Sie macht, was sie will, das ist mir nicht unähnlich. Irgendwie erinnerte sie mich an die Lulu aus der Oper von Alban Berg. Und weil mir die Idee gefiel, habe ich meinen besten Freund angerufen: Übrigens, sie heißt jetzt Lulu. Dass sie weiblich ist, habe ich keine Sekunde hinterfragt – anders könnte ich mir das nicht vorstellen.
Damit das klar ist: Ich rede nicht mit ihr. Ich gehe morgens nicht hin und grüße sie, und natürlich schimpfe ich sie auch nicht aus. Aber ich weiß, das Fräulein braucht Aufmerksamkeit. Für andere mag das bescheuert klingen, für mich nicht: Dieses Instrument ist ein Lebewesen. Mit 14 habe ich in der Klavierstunde mal einen Akkord in das Instrument meines Lehrers richtig reingedroschen, einfach zum Spaß. Mein Lehrer ist sofort auf seinem Bürohocker zu mir gerollt, er war wahnsinnig sauer und sagte: Das machst du nie wieder, du möchtest auch nicht, dass dich jemand schlägt!
Im Dezember habe ich die Goldberg-Variationen in New York gespielt, in einer Performance mit Marina Abramovic. Sie sagte: Igor, wenn du spielst, entwächst du dem Flügel, ihr seid ein Körper. Sie hatte recht. Der Flügel ist meine Partnerin. Der Holzkorpus reagiert auf mich. Der Flügel ist meine Stimme, mein Vehikel.
Den Kontakt zu anderen Menschen kann sie nicht ersetzen. Ich kann allein sein, auch allein zu Hause, aber leicht ist es nicht. Ich brauche andere Menschen um mich herum, auch weil sie mich am meisten inspirieren. Wenn ich spiele, sehe ich Menschen, und zwar sehr deutlich. Menschen, die ich liebe oder begehre, andere, die ich nicht liebe. Verlassene, Verlassende, Freunde, Lebende, nicht mehr Lebende, Vermisste, nicht Vermisste. Manche tauchen einfach auf, an andere versuche ich gezielt zu denken.
Kapitäne geben ihren Schiffen oft weibliche Vornamen. Dabei mag Sehnsucht eine Rolle spielen, kann sein, dass der Name ihnen hilft, der Maschine unter ihren Füßen zu vertrauen. Aber der Vergleich hinkt, ich reise ja nicht mit meinem Flügel. Ich habe auch keine Ansprüche, wie ich bei einem Konzert welchen Flügel auf welche Art gestimmt haben will. Ich kann auf jedem Instrument und in jedem Raum ein Konzert spielen. Deshalb bin ich auch entspannt, wenn es mit Lulu zu Hause mal nicht funktioniert. Dann gehe ich eben raus, trinke einen Kaffee und lese Zeitung – und komme später zurück.
Dass ich meinem Instrument einen Namen gegeben habe, ist also kein Ausdruck von Kontrollwunsch oder Einsamkeit – es ist eine Verbeugung. Ich sehe eher Parallelen zu Gitarristen als zu Schiffskapitänen. Man muss sich nur ansehen, wie Jimi Hendrix mit seiner Gitarre umging. Das war nicht Gitarre hier und Hendrix da, das war ein Organ. Ein Miteinander, er konnte sie schwängern, wenn er wollte.
Der Name ist ein Mittel, um Augenhöhe herzustellen. Und er ist eine Spielerei, vielleicht ändert er sich auch mal wieder. Dass es aber ein Weibchen ist und lebt – das wird sich nicht ändern.
Illustration: Frank Höhne