Eike Mogendorf

fuhr morgens zur Love-Parade – und kam nicht mehr zurück.

Eine Neubausiedlung bei Osnabrück, Niedersachsen, zwei Zugstunden von Duisburg entfernt. In den Einfahrten parken Kombis, in den Fenstern brennt warmes Licht. Eine Doppelhaushälfte, rot verklinkert. In der Küche: Fliesenboden, Notizzettel an der Wand, ein Holztisch. Links sitzt Klaus-Peter Mogendorf, der Vater, 54, rechts Stefanie Mogendorf, die Mutter, 51. Auf den Stuhl neben ihr hat sich seit dem 24. Juli niemand mehr gesetzt. Es war Eikes Platz, der jüngere der zwei Söhne. Er starb während der Love-Parade an inneren Verletzungen. Er war einer von 21 Toten.

Die Mutter: Ich war gerade beim Bügeln, da kam Eike die Treppe heruntergerannt: »Mama, ich muss sofort los, ich hab verschlafen.« Die Jungs hatten wohl erst am Abend zuvor ausgemacht, dass sie an diesem Samstag zur Love-Parade fahren wollen, mit dem Zug. Sorgen habe ich mir da keine gemacht, Eike war ja schon 21. Im Gegenteil: Ich habe mich gefreut. Früher war Eike eher ein Stubenhocker. Er ist spät in die Pubertät gekommen und hat viel Computer gespielt. Erst mit 18, 19 ist er aufgeblüht. Als er dann das Haus verließ, hatte er nur ein T-Shirt an und einen kleinen Rucksack dabei. Wie zu einem Ausflug.

 Der Vater:
Die Mutter meiner Frau wohnt bei uns, sie hat an dem Nachmittag ferngesehen. Gegen sechs, wir wollten in die Stadt auf das Johannisstraßenfest, kam sie uns hinterhergelaufen und sagte: »Eike ist doch nach Duisburg gefahren, da hat es Tote gegeben.« Wir haben ihm sofort eine SMS geschickt, aber es kam nichts zurück. Wir dachten: Da ist es laut, er hört uns nicht. Natürlich sind wir zu Hause geblieben. Um acht rief dann ein Freund an, mit dem er nach Duisburg gefahren war, er meinte: »Eike ist vermisst.« Eine Stunde später rief er wieder an: Eike sei von Sanitätern mitgenommen worden, bewusstlos. Den ganzen Abend haben wir sein Handy und die Notrufnummern mit zwei Telefonen bearbeitet.

Die Mutter: Mein Mann hatte mal einen schweren Autounfall. Seitdem weiß ich: Wenn die Polizei anruft, lebt er noch, wenn sie vor der Tür steht, ist er tot. Nachts um eins klingelte es an der Tür.

Der Vater: Die nächsten Tage haben wir fast nur auf der Terrasse gesessen, drinnen konnten wir es nicht aushalten. Oft waren die Nachbarn da, haben zugehört und für uns gekocht, obwohl wir keinen Bissen runterbekommen haben. Am Dienstag hat ein Bestattungsunternehmen Eike nach Osnabrück geholt. Sie haben uns sein Portemonnaie und sein Handy vorbeigebracht. Er hatte 24 Anrufe in Abwesenheit.

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Die Mutter: Ich konnte relativ früh wieder in sein Zimmer gehen, nach ein paar Tagen schon, im Gegensatz zu meinem Mann. Den Großteil von Eikes Kleidung habe ich in ein soziales Kaufhaus gebracht, Fotos, Bücher, seine Uni-Ordner und die Abi-Zeitung in Kartons verpackt. Ich musste das alles erst mal aus den Augen haben. Ich koche seitdem sogar anders: keinen Kartoffelbrei mehr, den hat Eike am liebsten gegessen, mit einer dicken Lage Ketchup drauf. Er war im zweiten Semester hier an der Uni, hat Politik und Geschichte studiert. Später wollte er Journalist werden. Das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, hatte ich Gott sei Dank nie. Wenn wir ihm mehr verboten hätten, dann hätte ich das vielleicht gehabt.

Der Vater: Der schlimmste Teil des Tages ist abends, wenn ich von der Arbeit nach Hause fahre, diese 20 Minuten allein im Auto. Oft halte ich dann noch einmal am Friedhof an. Für mich ist es jetzt wichtig, dass das Unglück aufgeklärt wird. Dass ein Schuldiger, nein, ein Verantwortlicher gefunden wird. Dass jemand die Verantwortung übernimmt. Ich habe mir die Dokumente durchgelesen: das Sicherheitskonzept, die Protokolle. Ich bin Bauingenieur und verstehe so etwas. Man hat die Kinder in den Tod getrieben, wie eine Herde. Die Seelsorger, die mit uns gesprochen haben, haben das immer mit dem Tsunami verglichen, aber das war ein Naturereignis. Die Katastrophe in Duisburg war das nicht.

Die Mutter:
Vom Veranstalter und der Stadt Duisburg haben wir nichts gehört, keine Entschuldigung, kein »Tut uns leid«. Das Einzige, was wir bekommen haben, war eine Rechnung vom Krankenhaus über die Praxisgebühr von zehn Euro. Für die Behandlung unseres Sohnes, von 18.10 Uhr bis 18.23 Uhr. Das Geld habe ich überwiesen und in den Betreff geschrieben: »Für meinen toten Sohn«.

Der Vater:
Was jetzt auf uns zukommt, ist Weihnachten, das macht mir richtig Angst. Heiligabend war immer unser Familientag. Da haben wir zusammen schön Fondue gegessen, danach Karten gespielt und Bierchen getrunken, manchmal bis fünf Uhr morgens. Es war der einzige Tag des Jahres, den wir von Anfang bis Ende zusammen verbracht haben. Dieses Jahr werden wir wohl nach Duisburg fahren und eine Kerze im Tunnel aufstellen.

Foto: Privat