Carl Gottlieb Hering war ein genialer Künstler. Seinen Hit »Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp« konnte ich als Kind nicht oft genug hören, gerne mochte ich auch »Morgen Kinder wird’s was geben« (meist gab es wirklich bald was). Vor Herings Messsage aber habe ich die Ohren verschlossen: »C-A-F-F-E-E«, beginnt sein dritter großer Hit noch harmlos, die Buchstaben geben die zu singenden Noten an. Doch dann wird es ernst: »Trink nicht so viel Kaffee! Nichts für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank.«
Seit zirka 15 Jahren setze ich mir jeden Morgen trotzdem eine Kanne Espresso auf. Sechs Tassen passen da hinein, mittags wiederhole ich das Ritual und nachmittags noch einmal. Ein normaler Moritz-Tag wird also zu 18 Tassen serviert. Die sind zwar noch weit entfernt von den 200, bei denen das Koffein anfangen könnte, eine tödliche Wirkung zu entfalten. Wirklich gesund dürfte mein Konsum aber nicht sein: Koffein zählt zu den psychotropen Substanzen und hat großes Abhängigkeitspotential.
Doch während man in Deutschland andere Gifte verbietet, ihre Verkäufer jagt und den Konsumenten ein schlechtes Gewissen einredet, ist die Kaffeesucht sozial akzeptiert. 162 Liter braune Brühe schüttete der durchschnittliche Deutsche im vergangenen Jahr in sich hinein, damit war Kaffe zum wiederholten Male das beliebteste Getränk der Republik. Selbst nach einem WM-Sommer, in dem es einiges zu begießen gab, lag Bier mit nur 107 Litern weit abgeschlagen hinten. Und auch Pegida konnte der Beliebtheit des Kaffee nichts anhaben, und das, obwohl Herings Hit vom C-A-F-F-E-E so endet: »Sei doch kein Muselman, der ihn nicht lassen kann!« (Offenbar empfinden die Demonstranten die Islamisierung des Heißgetränks nicht als allzu bedrohlich, sie zählen schließlich mehrheitlich zu einem Völkchen, das sich manchmal als »Kaffee-Sachsen« bezeichnet.)
Und obwohl ich selbst überhaupt keine Angst vor der Müselmanisierüng der Bündesrepüblik habe, dachte ich mir: Ich probiere mal einen Tag ohne. Hering zu Ehren keinen Kaffee morgens, kein Kännchen mittags, keine sechs Tässchen Nachmittags. Meine Suchtgeschichte weist einen kontinuierlichen Abusus seit 1998 auf, aber das muss doch zu schaffen sein.
Der Ostersamstag, den ich für meinen Versuch ausgesucht hatte, passte gut: Einerseits kein Bürotag, anstatt Kunden anzuschnauzen würde ich meine Entzugserscheinungen zuhause aussitzen. Und die zu erwartende schlechte Laune hatte so noch so etwas wie einen übersinnlichen Unterbau, denn Ostersamstag war gerade noch Fastenzeit.
Vor etwas mehr als drei Monaten habe ich mir einen Säugling zugelegt, der Turkey traf mich deshalb hart. Schon in den frühen Morgenstunden des Ostersamstags – mein Baby war hell-, ich gar nicht wach – traten die ersten Entzugserscheinungen auf. Laut dem offiziellen Krankheiten-Katalog der WHO hätten zwei Symptome gereicht, um ein Entzugssyndrom zu diagnostizieren, ich stellte gleich fünf an mir fest: Ich war, wenig überraschend, von Lethargie und Müdigkeit befallen (1). An ein Aufstehen war kaum zu denken, ich wälzte mich, denn ich wollte nur pennen, ratzen, mützeln – Hypersomnie nennt man dieses vermehrte Schlafbedürfnis (2). Meist wachte ich aber sofort wieder auf, weil mich das Baby weckte (kein Symptom) oder weil mich verwirrende, bizarre Träume plagten (3). Beim Spielen mit dem Baby war ich ungeschickt, fahrig und bald lustlos, Anzeichen für eine psychomotorische Verlangsamung (4). Vor allem aber plagte mich ein unbändiges Verlangen nach stimulierenden Substanzen (5). Nach einem Espresso, einem Mokka, einer Tasse dieser Säure, die aus der Filtermaschine meiner Mutter herausläuft. Zur Not hätte ich auch eine Schüssel Instantpulver gekaut.
Als ich es dann kurz nach Mittag doch schaffte, mich aus dem Bett zu schälen, klebte das Kissen an meiner Backe wie ein Kaltwachs-Streifen. Hinauszugehen und Semmeln zu holen war mir viel zu anstrengend, also gab es aufgetaute, labberige Toastscheiben. Und dazu: eine Tasse Fencheltee. Gelb wie Baby-Lullu und genau so anregend.
Nach dem Frühstück durchlebte ich auf der Couch die Symptome in wechselnder Stärke und Reihenfolge, dazu kam leichtes Kopfweh. Während der Bundesliga-Konferenz von »Heute im Stadion« döste ich, wenn einer der Reporter aufgeregt »Tooooor« schrie, hob ich nicht einmal ein Augenlid. Dann ging ich einkaufen, abends sollten Gäste kommen. Die frische Luft munterte mich ein wenig auf, als ich aber an der wunderbar duftenden Tchibo-Filiale vorbei gehen musste, fühlte ich mich wie ein Hund vor einer Metzgerei. Nur dass die Leine, an der ich zerrte, imaginär war und ich sie zudem noch selbst in der Hand hielt.
Symptom sechs stellte sich ein, als das Fischcurry gekocht war und die Gäste um den Esstisch Platz genommen hatten: Appetitsteigerung, und zwar eine gewaltige. Als guter Gastgeber bot ich erst dem Besuch einen Nachschlag an, leider griffen alle zu. Während sie aßen, schlich ich mich in die Küche, und fraß Belag ohne Brot aus dem offenen Kühlschrank. Dann setzte ich mich wieder an den Esstisch, guckte meinen Freunden beim Trinken, Parlieren und Lachen zu. Selbst nachdem ich meinen Gästen Espresso gekocht und dabei intensiv am Kännchen geschnüffelt hatte, war ich zu müde, um mich zu beteiligen. Mit verschränkten Armen wartete ich apathisch, bis der Besuch alles ausgetrunken hatte, sang in meinem Kopf den Kanon »C-A-F-F-E-E« vor mich hin. Als meine Freunde um ein Uhr nachts gingen, konnte ich das schon dreistimmig.
Foto: Caro / Jandke