Bei meinem ersten Besuch habe ich mir den Arm gebrochen. Ich fuhr mit dem Rad den Berg hinunter, guckte gleichzeitig auf das tolle Panorama und machte ein Salto. Weil der Fahrradverleih bald schloss, stieg ich wieder auf, auch wenn ich eine Hand vor Schmerzen nicht mehr an den Lenker bekam. Erst, als ich das Rad zurückgegeben und wieder im Hotel angekommen war, verstand ich, warum mich alle so komisch angeguckt hatten: Nicht nur mein Arm war kaputt, sondern auch ein bisschen mein Kopf: getrocknetes Blut klebte mir im Gesicht. Gefragt, ob alles ok wäre, hat mich niemand.
Bei meinem zweiten Aufenthalt rannte ich eine Woche über die hohen Berge, die ich beim ersten Mal bestaunt hatte. Wieder im Tal ging ich in die nächstbeste Bar, um endlich ein kaltes Bier zu trinken. Als sich meine Augen im Vorraum noch an das Schummerlicht gewöhnten, packte ein ziemlich starker und ziemlich tätowierter Arm die Schlaufe meines Rucksacks und beförderte mich nach draußen. Das Wort »Tabledance« entdeckte ich erst jetzt auf dem Schild.
Bei meinem dritten Aufenthalt war ich wieder Bergsteigen und hatte kein Geld für die Zugfahrkarte Richtung Heimat. Also trampte ich und strandete irgendwo, als es dunkel wurde. Ich schlief in meinem Zelt, bis mich die Polizei weckte. Meinen Ausweis kontrollierte und mich aufforderte, mitzukommen. Sie fuhren mich bis zur deutschen Grenze, die gleich in der Nähe war - das freute mich, so kam ich ein paar Kilometer weiter. Was mich weniger freute: Dort schmissen mich die Beamten aus dem Wagen und sagten, ich solle ja nicht noch einmal auf die Idee kommen, in ihrem schönen Land »herumzuzigeunern«.
Die Schweiz und ich, wir hatten keinen guten Start. Deshalb habe ich einst beschlossen, sie doof zu finden: Diesen lächerlich aufgeräumten Staat, dessen Bewohner ihre verklemmte Korrektheit hinter beknackten Kehllauten verstecken. In dem scheinbar alles so perfekt funktioniert wie ein Uhrwerk, aber für Menschlichkeit anscheinend kein Platz ist. Die Schweiz, so war ich überzeugt, ist eine groteske Potenz der unsympathischen Seiten Deutschlands.
Dass diese Meinung keine differenzierte war, wusste ich selbst. Trotzdem dachte ich mir jedes Mal grimmig: »Volltrottel!«, wenn ich einen Text für einen Schweizer Auftraggeber schrieb und alle scharfen S durch Doppel-S zu ersetzen hatte. Wenn ich »Velo« statt »Rad« schreiben musste, wobei hier auch schon wieder die Anführungszeichen falsch gewesen wären, denn bei denen heißt (heisst?) es «Velo» statt «Rad». Die im Vergleich zu meinen deutschen Auftraggebern deutlich besseren Honorare habe ich hingegen gerne genommen. Erst das Fressen, dann die Moral, diese Einstellung ist ja auch den Schweizern nicht fremd.
Wie so vieles hat sich aber mit der Zeit auch dieser Hass abgeschliffen. Dazu trugen recht nette Skiwochenenden und Recherchereisen bei, klischee-, aber auch schmackhafte Käsefondues auf sehr netten Almhütten und einige Kübli Bier mit noch netteren Eidgenossen. Außerdem eine aufregende Autofahrt mit einem Schweizer durch Taliban-Gebiet, bei der wir beide als lustig Afghanen verkleidet waren. So etwas schweißt zusammen.
Ich lernte also, dass man seine Zeit in der Schweiz und unter Schweizern auch sehr angenehm verbringen kann. Dass dort alles so sauber, funktionierend und durchdacht ist, fand ich nicht mehr kalt und unmenschlich, sondern fabelhaft. Und die Sonderbarkeiten, auf die ich früher schimpfte, plötzlich ziemlich putzig. Als ich deshalb kürzlich las, dass die Schweiz laut dem »World Happiness Report 2015« ganz offiziell das glücklichste Land der Erde sein soll - in die Wertung gingen Umfragen zur Selbstwahrnehmung und Daten aus dem Sozialsystem und Arbeitsmarkt ein - fand ich das ziemlich nachvollziehbar.
Mit einer kleinen Einschränkung: Bei meinem letzten Schweiz-Besuch im Januar habe ich auf einer Skihütte Nudeln mit Trüffeln bestellt. Die Portion war überschaubar, die Trüffelstückchen erst recht, die Nudeln zu weich. Als die Rechnung kam, bemerkte ich, dass der Teller nicht 8,90 Franken kostete, wie angenommen - sondern 89 Franken, was seit der Anpassung des Wechselkurses fast das selbe in Euro ausmacht. So richtig glücklich, glaube ich, wird man in der Schweiz wohl nur mit Schweizer Einkommen.
Foto: Plainpicture/Robert Harding