Nach dem zwanzigsten, vielleicht dreißigsten Zeugen, da fiel es Boye plötzlich auf. Die Menschen in Darfur wollen keine Pausen. Wenn sie einmal angefangen haben zu sprechen, werden sie durchreden bis zum Ende, unaufhaltsam ihre Geschichte erzählen, von den Angriffen, wie sie in den Moscheen zusammengepfercht waren, von den Vergewaltigungen, dem brennenden Dorf, den Lagern.
»Ich habe das noch nicht erlebt«, sagt Boye. »Bei keiner meiner Vernehmungen. Dass jemand nicht mehr aufhören will, über das Unvorstellbare zu sprechen.« Nicht von den Zeugen im Kongo kenne er das, nicht aus Uganda. Er hat dort auch ermittelt. Dort verlangen die Zeugen immer Unterbrechungen.
Die aus Darfur nicht. Aber wenn sie, oft nach acht Stunden Gespräch, zu einem Zeitpunkt, da sich Boyes Augen langsam röten, der Übersetzer sich immer häufiger verhaspelt – wenn sie dann zum Ende kommen, dann weinen sie doch.
»Aber aus Erleichterung«, sagt Boye. Das ist ja das Komische. Aber vielleicht glauben sie ja auch, dass Boye, dieser Mann aus dem fernen Land, den sie nicht kennen, dem sie aber alles anvertraut haben, der Video-kameras, Laptops und Übersetzer dabeihat – dass also dieser Mann die Mörder ihrer Frau findet. Oder den Vergewaltiger der Tochter.
Schließlich hat dieser Mann ihnen erklärt, er arbeite für ein Weltgericht, das Internationaler Strafgerichtshof heißt, kurz ICC – ein Gericht, das zwar von Den Haag aus operiert und 5000 Kilometer entfernt liegt von ihrer Heimat, dem Sudan, aber für die ganze Welt zuständig ist und im Auftrag der Vereinten Nationen die Mörder von Darfur anklagen will. Für manche ist Boye ihre letzte Hoffnung. Für viele ein Held.
Boye heißt eigentlich Akingbolahan Adeniran, aber das können sich noch nicht mal seine afrikanischen Kollegen merken. Er kommt aus Lagos in Nigeria, er hat dort für eine Anwaltskanzlei gearbeitet, doch aus seinem Englisch rollt ein amerikanischer Akzent, der kommt aus Harvard, wo er studiert hat, bevor er zum ICC ging. Nun ist er Assistant Investigator, Ermittler im Auftrag des ersten regulären Weltgerichts in der Geschichte der Menschheit, das Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen ahnden soll.
Niemand weiß, ob die Anklage, an der Boye und weitere 170 Mitarbeiter der Verfolgungsbehörde so fieberhaft arbeiten, je zustande kommt. Aber falls – ja, falls alles glattläuft, werden hier in Den Haag jene sudanesischen Regierungsmitglieder, Militärs, Rebellen und Freischärler vor Gericht stehen, die verantwortlich sind für einen der grausamsten Ausrottungskriege der Nachkriegszeit, ein Ruanda in Zeitlupe, wie Menschenrechtsorganisationen sagen, die größte humanitäre Katastrophe der Welt.
Zwei Millionen Menschen sind inzwischen auf der Flucht, leben in Auffanglagern in den drei Darfurprovinzen und im Tschad. Täglich verhungern viele, verdursten, erliegen der Cholera oder der Malaria.
Wie viele umgebracht wurden? Keiner weiß das genau, auch Boye nicht. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 190 000 und 400 000. Das ist eine gigantische, eine hoffnungslose Zahl. Sie steht immer – der Vergleich ist so zynisch wie anschaulich – gegen 2749 Tote aus dem World Trade Center, gegen momentan zirka tausend im Libanon. Es ist eine Zahl, die wir, die Weltgemeinschaft, in Zusammenhang mit Mord nie wieder hören wollten. Das hatten wir uns eigentlich geschworen, damals 1994, als wir im Nachhinein so erschüttert waren über die Fotos von den Leichen, die im Viktoria-see schwammen wie träges Treibholz. Das war Ruanda. Eine Million Tote. Nie wieder dürfe das passieren, sagten wir.
Aber nun? Die Afrikanische Union hat eine Truppe in den Sudan geschickt, aber sie ist nicht stark genug; die UN will Blauhelme aussenden, aber der Sudan lässt sie nicht rein; die USA spricht von Völkermord, tut aber nichts; die Hilfsorganisationen versuchen zwei Millionen Menschen zu ernähren, werden aber ständig überfallen; die EU pumpt Geld in militärische und humanitäre Unterstützung, erreicht aber nichts. Es ist wie immer.
Doch dann kam die Hoffnung. Am 31. März vergangenen Jahres, per Resolution 1593, überwies der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dem Internationalen Strafgerichtshof den Fall Sudan: Zum ersten Mal würde ein Krieg noch vor seinem Ende von einem regulären internationalen Gericht untersucht. Und vielleicht irgendwann gestoppt, seine Verantwortlichen weggesperrt: Die Zellen im Den Haager Vorort Scheveningen stehen schon bereit. Das ist die Dimension, in der Boye, Mitte dreißig, seine Arbeit verrichtet.
Am Tag zuvor ist Boye nach Den Haag zurückgekommen von Zeugenvernehmungen aus einem Land, das er nicht nennen darf – laufende Ermittlungen, sagt er, keine Einzelheiten über die Vernehmungsorte, schon gar nicht die Identität der Zeugen, nichts von den 2000 niedergebrannten Dörfern, den Hunderten von Vergewaltigungen, die Boye und sein Team schon untersucht haben.
»We will kill all black«, sollen die Angreifer immer wieder gesagt haben, vermutlich arabische Reitermilizen im Auftrag der Regierung, inzwischen berüchtigt als Janjawid oder »Devils on Horses«. So zumindest hat es Boyes Chef im Juni vor dem Sicherheitsrat in New York geschildert, der Chefankläger: Luis Moreno-Ocampo ist ein gut ausgeschlafener Argentinier mit den Augenbrauen von Theo Waigel, einem unaufhörlichen Augenzwinkern, stets aufgerollten Hemdsärmeln und einem offenen Knopf unter der Krawatte. Man merkt sie ihm wenig an, die Last der Verantwortung. Auch nicht die Spuren der lauter werdenden Kritik an seiner Arbeit. Die hört man sogar im Gericht, selbst von Richtern.
Die Ermittlungen dauern zu lange, heißt es. Nicht einen einzigen Haftbefehl hat er bisher ausgestellt. Er fährt einen Kuschelkurs gegenüber der Regierung des Sudans, die die Arbeit seiner Ermittler blockiert. Jeder weiß doch, dass die meisten Massaker an den Menschen in Darfur im Auftrag der Regierung geschahen.
»Ja, weiß man das?«, sagt Moreno-Ocampo. Seine Augenbrauen zucken vor Angriffslust. In diesem Moment, sagt er, vernehmen seine Leute in Sudans Hauptstadt Khartoum Mitglieder der Regierung, der Verteidigungsminister sei gerade dran: »Die tun genau, was wir fordern.«
Das stimmt nicht. Moreno-Ocampo weiß das. Der Sudan lässt seine Ermittler nicht rein. Der Sudan sagt, er habe seine eigenen Gerichte – und schuf schnell einen Haufen Sondertribunale. Vor dem Sicherheitsrat sagte Moreno-Ocampo neulich, es gebe bisher keinerlei Anzeichen, dass diese Tribunale tatsächlich Verbrechen untersuchten.
Moreno-Ocampos Büro liegt im 14. Stock des Gerichts, ein Turmkomplex, der so aussieht, wie man sich die europäische Raumstation ISS vorstellt: In den beiden weißen Türmen mit den verspiegelten Fenstern arbeiten fast 700 Leute aus 76 Ländern, beschützt von Elektrozaun und Rammböcken. Asymmetrisch und kantig, sind die Türme hoch oben durch eine Brücke verbunden. Hier in der Höhe, hinter Moreno-Ocampos Schreibtisch, liegt immer noch – wie bei einem früheren Besuch zwei Monate zuvor – das Buch Einstein on Peace. Auf einer weißen Tafel im Besprechungsraum ist ein unvollendetes Diagramm zu sehen über die sich fast täglich ändernden Verstrickungen verschiedener Rebellengruppen in Darfur. Doch der Zeichner scheint mittendrin aufgegeben zu haben. Moreno-Ocampo sagt: »Klar steht in den Zeitungen, die sudanesische Regierung war’s. Haben wir rechtliche Beweise dafür? Nein. Haben mich diese Unterstellungen dann zu interessieren? Nein. Ich bin Strafverfolger. Kein Politiker.«
Die Politiker findet man in Brüssel, sie heißen Roger Moore und Joaquim Salgueiro, sie arbeiten für die Europäische Kommission, die Exekutive der EU. Die beiden haben Titel, dass sie kaum auf eine Visitenkarte passen, so viele Länder und Regionen stehen da drauf. Beide sind heute aus dem Urlaub wiedergekommen. Erster Arbeitstag, gleich Sudan.
Warum können wir den Konflikt nicht stoppen, Mr. Moore? Mr. Moore schaut zu Senhor Salgueiro. Salgueiro, ein handfester Portugiese, ist oft in den Sudan gereist, er ist ein Kenner, er war dabei bei dem Abschluss des letzten Friedensvertrags vom vergangenen Mai. »Es hängt alles an der transition«, sagt Salgueiro. Er meint die Umwandlung der überforderten Soldaten der Afrikanischen Union in eine schlagkräftige, zahlenmäßig doppelt so starke UN-Truppe.
Das ist die einzige Lösung, die der Welt im Moment einfällt, eine militärische. Er habe sie ja gerade alle hier gehabt, bei der großen Darfur-Konferenz, auch Vertreter der Regierung aus Khartoum, sagt Salgueiro, aber die Typen haben wieder Nein gesagt zu der UN-Truppe, also blieb den Delegationen nur, wieder die Finanzhilfe für Darfur aufzustocken, mehr als eine Milliarde Euro hat allein die EU bisher nach Darfur geschickt.
Eine andere Lösung, politisch? Der Portugiese ächzt. Da müsse man ganz unten anfangen, sagt Salgueiro. Araber und Afrikaner, Regierung und Rebellen, alles schön und gut – aber nicht das eigentliche Problem. Tatsächlich gehe es um Ressourcen. Es gibt immer weniger Wasser in Darfur. Seit zwanzig Jahren kriecht die Sahara immer weiter in den Süden, treibt die Nomaden vor sich her nach Darfur. Dort geraten sie in Verteilungskämpfe mit den dort Sesshaften. Zu allem Überfluss findet man jetzt immer mehr Öl. China, öldurstig, wird daher scharfes Vorgehen gegen die Regierung in Khartoum immer verhindern.
»Natürlich können wir eine UN-Truppe schicken«, sagt Salgueiro. »Ist das Beste, was wir im Moment machen können. Aber Wasser kann die nicht herzaubern.«
Dass die sudanesische Regierung die Truppe nicht zulassen will, hat auch mit dem Gericht in Den Haag zu tun. Hätte er eine Blauhelmtruppe, könnte Luis Moreno-Ocampo Haftbefehle ausstellen und vollstrecken lassen. So funktionierte es in Jugoslawien, wo Nato-Verbände die Angeklagten des Ad-Hoc-Tribunals jagten.
Aber Haftbefehle, die nicht vollstreckt werden können? Die würden seine Verdächtigen warnen, sagt Luis Moreno-Ocampo.
Einen einzigen Gefangenen hat er immerhin schon, Thomas Lubanga, Rebellenführer aus dem Kongo. Den hat er im ICC-Gefängnis in Scheveningen festgesetzt, bald be-ginnt die Anklage, die Ekkehard Withopf, deutscher Strafverfolger am ICC, gerade vorbereitet. Ein Mitarbeiter des Gerichts erzählt, Lubanga habe sich zunächst über Isolationshaft beschwert, er war ja der einzige Gefangene des jungen Gerichts. Doch dann bat ein Sondertribunal in Sierra Leone das ICC um Unterstützung und schickte einen weiteren Gefangenen: Charles Taylor, ehemaliger Diktator aus Liberia. Die beiden sollen sich nun angefreundet haben, erzählt man sich am Gericht.
Nur im Fall Sudan, keine Haftbefehle. Die Ungeduld gegenüber Ocampos Strategie gründet sich vor allem auf ein Dokument, das in der Szene Cassese-Report heißt, benannt nach dem Italiener Antonio Cassese, Vater des Sondertribunals für Jugoslawien, Berater des ICC. In seinem Report sind viele der Verbrechen schon nachzulesen, die Ocampo noch beweisen muss. Der UN-Sicherheitsrat hatte ihn in Auftrag gegeben und bekam 180 Seiten Grauen. Daraufhin wurde der Fall nach Den Haag überwiesen.
Eine Zeugin berichtet darin, wie eines Tages um sechs Uhr morgens 3000 berittene Janjawid ihr Dorf stürmten, auf Pferden und auf Kamelen, fünfzig Landcruiser waren auch dabei. »Zehn Janjawid kamen in unser Haus. Sie nahmen mich und meine sechs Schwestern mit, 15, 16, 17, 19, 20 und 24 Jahre alt. Die Männer sagten: ›Wieso wohnt ihr hier? Ihr seid Sklaven.‹ Während sie in unserem Haus waren, erschossen sie meine beiden Brüder. {…} Sie brachten uns nach Wadi Tina, dort sah ich mindestens 95 Frauen. Alle waren nackt. Gleich nach der Ankunft zwangen die Männer uns, uns auch auszuziehen. Um acht Uhr morgens am zweiten Tag wurde ich zum ersten Mal vergewaltigt.« Nach einer Woche und 14 weiteren Vergewaltigungen wurde die Zeugin freigelassen, ihre Schwestern hat sie nie wiedergesehen.
Gloria Atiba Davies kennt diese Geschichten. »Und auch schlimmere.« Davies, Anfang fünfzig, ist eine Kollegin von Boye im Darfur-Ermittlungsteam, Chefin der Gender and Children Unit, zuständig für Verbrechen an Frauen und Kindern. Auch sie ist gerade zurückgekommen nach Den Haag von einer zweiwöchigen Mission.
»Menschen wie Davies sind hier die wahren Helden«, sagt Hans-Peter Kaul, einziger deutscher Richter am Gerichtshof und einer seiner Gründerväter. Mehr als vierzig Missionen in 13 Länder haben Davies und die anderen des Darfur-Teams dieses Jahr schon durchgeführt und dabei Tausende von Morden an Zivilisten dokumentiert. Die Arbeit ist anstrengend, körperlich wie seelisch. 45 Grad sind es oft in den Zelten, in denen die Vernehmungen stattfinden, die Hygiene ist schlecht, die Umgebung gefährlich. Die Ermittler haben keinerlei Schutz vor Racheakten der Kriegsherren, die sie verfolgen, sie haben keine Uniformen, keine Waffen, bloß ihre Laptops, ihre Kameras und Dolmetscher und manchmal wie im Tschad ein kleines Field Office.
»Jeder andere Staatsanwalt drückt auf einen Knopf, dann rückt die Polizei aus. Wenn ich hier auf einen Knopf drücke, passiert gar nichts«, sagt der Chefankläger Moreno-Ocampo. Er hämmert auf einer Taste seines Telefons herum. »Sehen Sie?«Gloria Davies zuckt die Achseln. Sie kommt aus Sierra Leone, sie war Staatsanwältin dort, verfolgte den Anführer einer Militärjunta. Als dieser 1997 an die Macht gelangte, ließ er Davies’ Haus abbrennen. Sie musste fliehen, nur mit einen Koffer, das war ihr einziges Gepäck. Seitdem war sie nicht mehr zu Hause. Ja, sagt Davies, sie kann die Menschen in Darfur verstehen, ihre Wut, ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Deswegen ist sie bis ans andere Ende der Welt gegangen, zum ICC.
Haben afrikanische Ermittler wie Boye und sie es leichter? Boye schüttelt den Kopf. »Gerade wir Afrikaner werden von den Zeugen ihrerseits manchmal stundenlang gecheckt, bevor sie bereit sind, mit uns zu sprechen. Sie haben Angst, dass wir vielleicht zu ihren Feinden gehören.«
In den Ermittlungsteams arbeiten deswegen Skandinavier, Deutsche, Italiener, Iren, Koreaner, Afrikaner – immer zu zweit, der eine fragt, der andere gibt die Informationen in einen Laptop ein, macht dort mithilfe eines eigens entwickelten Programms Crosschecks, versucht Angaben zu verifizieren. Die Zeugen, oft traumatisiert, nehmen anders wahr. Sie erzählen auch anders. Sie haben eine andere Wahrheit.
»Sie machen das nicht mit Absicht«, sagt Boye, »von Behauptungen, die wir vielleicht als irrational bezeichnen würden, lassen sie sich überzeugen, dass der Stammesobere des Nachbardorfes etwa schuld ist. Auch wenn sich das faktisch widerlegen lässt.«
Und alles wird auf Video aufgezeichnet, für die Prozesse, falls es sie mal geben wird. 110 sogenannte Batches an Beweisen haben sich in seiner Kammer schon angesammelt, sagt Mark Dillon, Chef der Evidence Unit, der Beweisabteilung. Ein Batch enthält tausend Dokumente. Macht also 110 000 verschiedene Dokumente, allein für Darfur. Dillon speist sie ins Computersystem, kategorisiert sie, damit die Ermittler jederzeit auf sie zugreifen können, versiegelt die Originalbeweise und verstaut sie in einem Tresorraum: »Klimatisch kontrolliert, keine Sonneneinstrahlung, mehrere Sicherheitssysteme«, sagt Dillon, ein Ire, Ende dreißig, Typ Technologiefreak. Beweis-Management nennt er das. Früher hat er für die Tabakindustrie Beweise verwaltet, bei deren großen Prozessen in den Neunzigern. Heute verdient er einen Bruchteil seines früheren Gehalts, aber er ist, wenn man so will, auf die gute Seite gewechselt. Er bewacht, systematisiert, legt Verbindungen offen, er formt Fakten zu Instrumenten der Anklage. »Aber in Wirklichkeit«, sagt er, »sind es Geschichten, Schicksale von Tausenden von Menschen.«
Diese Menschen, in Den Haag durchnummerierte Zeugen, heißen in Genf IDPs, Internally Displaced Persons: Menschen, die intern, im eigenen Land, auf der Flucht sind. »IDPs haben viele Probleme«, erzählt Naomi Kawahara, Beauftragte für Darfur im Hauptquartier des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen, dem UNHCR. Draußen auf der anderen Seite der monströsen Glasfassade demonstrieren 17 Iraker auf Französisch, ein paar Meter weiter die Libanesen. Man hat das Gefühl, unter ein Brennglas aller humanitärer Krisen geraten zu sein – ein paar Schritte nach links, und man ist im Irak-Konflikt, ein paar Schritte nach rechts, im Libanon, man geht rein, erster Stock Kongo, im fünften dann Darfur.
Man müsse sich das vorstellen, sagt Kawahara, eine Japanerin. Zwei Millionen Menschen in Zeltlagern, in sengender Hitze. Waschen kann man sich nur mit dem, was die UN-Mitarbeiter »donkey water« nennen, Wasser, das auf Eseln gebracht wird. Trotzdem wolle kein IDP raus aus den Lagern: Kaum verlässt man sie, schon wird man überfallen. Sie selbst, sagt Kawahara, bewege sich dort überhaupt nur noch im Helikopter. Manche IDPs versuchten tagsüber zurück in ihre Dörfer zu wandern, ihre kargen Felder zu bestellen, doch alle kommen nachts zurück, denn mittlerweile kämpfe jeder gegen jeden.
Wie einfach war das Leben zu Beginn des Konflikts in Darfur. Klassisch, Regierung gegen Rebellen. Aber jetzt? Araber gegen Afrikaner. Rebellen gegen Rebellen. Nomaden gegen Sesshafte. Pro-Friedensvertragler gegen Contra-Friedensvertragler.
Das sei die neuste Unterteilung. Im Mai verhandelten Regierung und Rebellen unter Anleitung der UN und der EU über einen Friedensvertrag in Abuja, Nigeria. Die Rebellenführer wohnten in einem Luxushotel und entsprechend lang dauerten die Verhandlungen, einen Monat. Es sah nach Frieden aus. Doch dann unterschrieb nur ein Rebellenführer. Als hätte man keine anderen Sorgen, sagt Kawahara, gebe es nun auch noch Demonstrationen in den Lagern, für den Friedensvertrag, gegen den Friedensvertrag, für eine UN-Truppe, gegen eine UN-Truppe. Die Nachricht von diesem Gericht in Den Haag habe sich in den Lagern auch schon rumgesprochen. Die IDPs sind sehr informiert, sie beschäftigen sich ja mit nichts anderem, sagt Kawahara. Angeblich, sagt sie, rufen sie im Streit schon: »Du kommst nach Den Haag!« Aber das habe sie nur gehört.
In Den Haag jedenfalls steht der Gerichtssaal bereit, Raum K 127, das ehemalige Parkdeck, gleich hinter der Kantine, wo der ungenießbare Kaffee aus dem Automaten 20 Cent kostet. Es ist später Abend, der Chefankläger Luis Moreno-Ocampo ist noch in seinem Büro hoch oben. Er bleibt immer bis zehn, manchmal elf. Er hat seine Schuhe ausgezogen. Gleich gehe er nach Hause, in seine Villa an einer Gracht. Er rufe noch seine Frau in Buenos Aires an, dann gehe er schlafen. »Und wissen Sie, woran ich morgen früh als Erstes denke?« Er geht zum Fenster, als könne er von hier oben bis nach Khartoum sehen. Doch da unten fließt nur die Autobahn. »An zwei Millionen Menschen in Flüchtlings-lagern! Wir müssen es schaffen.«
Und dann erzählt Moreno-Ocampo jene Geschichte, die er immer erzählt, davon, wie er die Militärjunta Argentiniens gejagt hat, als junger Staatsanwalt, als er sich seinen Ruf erwarb, furchtlos zu sein, ein Draufgänger, der niemals verliert. 10 000 Fälle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat er damals untersucht, heraus kamen neun Anklagen gegen hochrangige Offiziere, ein Erfolg, eine Pionierleistung.
»Als ich dann ans Gericht nach Den Haag gehen wollte, sagten meine Freunde: ›Luis, du wirst niemals einen Fall haben.‹ Nun, jetzt habe ich einen, und was für einen!« Neun Angeklagte auch hier. Das ist sein Traum. »Schaffen wir«, sagt er und tritt in den Fahrstuhl.