John F. Kennedy soll eine ganze Generation junger Amerikaner*innen und Europäer*innen geprägt haben, weil er Charme und Charisma hatte, keinen Hut trug und in vielem der erste war, wodurch eine allgemeine Aufbruchstimmung entstand: jüngster US-Präsident, erster Katholik und der erste, der sich und seine Familie fürs Fernsehen und die Illustrierten zu inszenieren wusste. In der Selbststilisierung der US-amerikanischen Baby-Boomer-Generation war es Präsident Kennedy, der ihnen die Hoffnung auf eine bessere Welt gab, auch wenn am Ende nur ihr etwas selbstgefälliger Top-Checker-Habitus und eine Vorliebe für Fleetwood Mac davon übrig blieben.
In Deutschland wurde eine ganze Nachkriegsgeneration durch die Auseinandersetzung mit dem Kanzler Konrad Adenauer geprägt. Seine provinzielle Rheinrepublik zwang die Menschen in dunkle Rollkragenpullover, Godard-Filme und Ingeborg-Bachmann-Lektüre und ebnete so den Weg für die Achtundsechziger. Willy Brandt war viel kürzer Kanzler und dennoch generationprägend: Wer unter ihm groß wurde, war fortan enttäuscht von allen, die nach Willy kamen, denn niemand konnte je wieder so ein visionärer Ehrenmann mit derart ikonischen Geheimratsecken und Ostverträgen sein. Die Menschen, die unter Brandt aufwuchsen, wurden daher zum großen Teil frustrierte Lehrer*innen an weiterführenden Schulen, die im Lehrerzimmer zu viel rauchten und auf Kursfahrten mit den Oberstüflern Rotwein tranken.
Heute aber wird Deutschland in Kultur, Medien und Politik von der Generation Kohl beherrscht, jenen Menschen, die in der Ära des »ewigen Kanzlers« erwachsen wurden. Der uns nachfolgenden Generation Merkel ist kaum zu vermitteln, was das bedeutet, aber ich möchte es versuchen – und den Angehörigen dieser Generation das Schicksal unserer Welt vertrauensvoll in die Abholstation liefern lassen, denn sie werden mehr damit anzufangen wissen als wir.
Die Kohl-Generation wuchs auf mit dem Gefühl: Die Dinge sind, wie sie sind, sie gefallen einem womöglich nicht, aber es gibt eine natürliche Ordnung, der man sich nicht widersetzen kann. Also, man kann es, aber es bringt nicht viel, bequemer ist es daher, auf dem Sofa sitzen zu bleiben und Miami Vice zu schauen, und als Höhepunkt der politischen Auseinandersetzung sonntags auch mal Lindenstraße. Kohl war immer Kanzler, er umgab uns wie das Wetter, der Sound seiner außerhalb der Pfalz kaum noch begreifbaren Rhetorik, sein Bimbes, sein Saumagen, seine Brillenfassung – das war die Ästhetik, die unser Gesichtsfeld füllte, so schmeckte die Luft, die wir atmeten. Und sie schmeckte nach den Niederlagen der schon in den Wahlkämpfen seltsam gedrückten Sozialdemokraten, Vogelraulafontainescharping. In der Fähigkeit, die Angriffe der Gegner mühelos abperlen zu lassen, zeigt sich vielleicht die einzige Parallele zu dem, was die Generation Merkel auch erlebt hat.
Bei Merkel aber war und ist das permanente Fertigwerden mit den Gegnern auch nach 18 Jahren CDU-Vorsitz und 13 Jahren als Kanzlerin noch verblüffend. Sie hat Kohl niedergerungen und Friedrich Merz am Ende sogar ein zweites Mal, und wen nicht alles zwischendurch. Wenn Merkel gewinnt, haben es zwar hinterher alle doch längst gewusst, aber vorher nicht: Seit ihrem ersten, superknappen Wahlsieg 2005 ist ihre Kanzlerinschaft aus der Sicht der Kohlgeneration eine Ummöglichkeit.
Die Generation Merkel ist in einem Zustand permanenter Überraschung groß geworden. Die Generation Kohl hingegen mit der Gewissheit: Es ist nie was los.
Wenn Kohl gewann, dann deshalb, weil das damals einfach so war: Ein Konservativer, gut vernetzter Machtpolitiker aus der Provinz mit lebenslanger Parteikarriere räumte alle Gegner aus dem Weg, so kannte man es aus Jahrzehnten Bundespolitik, Kohl perfektionierte es nur. Es wirkte auf uns, die wir unter ihm aufwuchsen, als natur-, wenn nicht gottgegeben, und diesen Gott stellten wir uns als ältere, nicht viel weltläufigere Variante von Helmut Kohl vor. Wer unter Kohl aufgewachsen ist, hat in den prägenden Jahren keine Überraschungen erlebt, alles schien festzustehen. Und wenn dann doch etwas wirklich Sensationelles passierte wie die deutsche Wiedervereinigung, dann steckte wiederum Helmut Kohl dahinter.
Die Generation Merkel aber ist in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es normal ist, wenn eine Wissenschaftlerin ohne politische Erfahrung und ohne Netzwerke innerhalb von elf Jahren eine große Partei übernehmen und noch mal fünf Jahre später Kanzlerin werden kann. Die Generation Merkel ist in einem Zustand permanenter Überraschung groß geworden: Merkels Sozialdemokratisierung der CDU, ihre impulsive Reaktion auf Fukushima, ihre menschliche Haltung im Jahr der europäischen Solidaritätskrise 2015 – man kann das als planlos, prinzipienlos oder asymmetrische Demobilisierung kritisieren, aber es war immer was los. Das prägt. Die Generation Kohl hingegen ist mit der Gewissheit aufgewachsen: Es ist nie was los.
Wer heute den angeblichen Mehltau der Merkel-Jahre beklagt, hat den Premium-Mehltau der Kohl-Ära nicht erlebt, verdrängt oder zu lange und zu tief eingeatmet. Wenn die Stimmen der Generation Kohl sich heute aus ihren Chefredaktionen und in ihren Talkshowsesseln kritisch über die Gegenwart äußern, wirkt es, als wären ihnen in Wahrheit die Überraschungen und die Bewegtheit der Merkel-Ära zu viel geworden, und als sehnten sie sich zurück nach der Stagnation der Kohl-Ära. Es ist die Generation Kohl, die so zur eigenen Beruhigung so viel wie möglich von dieser Stagnation herübergerettet hat in die Gegenwart. Der Dieselmotor, die deutsche Fernsehunterhaltung, Schlagerrock und Popschlager, kommerzialisierte Gemütlichkeit und der sanfte Zwang zur Selbstoptimierung: Das ist die Ästhetik und das sind die Überzeugungen, mit denen meine Generation die Gegenwart prägt.
Uns fällt nichts Besseres ein, weil wir es aus der Kohl-Ära nur so kennen: dass die Ansprüche niedrig sind und dass man nicht viel braucht, um durchzukommen, und dass es einem auch zusteht, vor allem, wenn man ein Mann ist und einen deutschen Nachnamen hat. Wir haben unter Kohl Bequemlichkeit gelernt. Wir haben zum Beispiel viel zu wenig gegen Rassismus und Sexismus getan, weil wir aus der Kohl-Ära gewohnt waren: Das ist nicht schön, aber das gehört irgendwie dazu, na ja, lasst uns mal ein paar Witze darüber machen, vielleicht wird das irgendwie besser davon. Ach so, nicht. Hm. Komm, wir gucken Tatort.
Ich glaube, dass die Merkel-Generation in einem anderen Bewusstsein aufgewachsen ist: dass die Zeiten sich heutzutage wöchentlich ändern, und dass man besser was tut, sonst wird es mit einem gemacht. Auch: Dass man sich selbst ändern und neu erfinden kann. Der Helmut Kohl von 2000 war in unserer Wahrnehmung sicher der gleiche Helmut Kohl, der 1973 den Parteivorsitz übernommen hatte. Niemand würde das über Angela Merkel sagen, denn zwischen der CDU-Vorsitzenden von 2000 und der, die voriges Wochenende ihre Amtszeit beendete, liegen Welten und Leben.
Angela Merkel hat als Kanzlerin durchaus auch viel Unheil angerichtet, aber vielleicht bleibt von ihr, dass sie eine Generation geprägt haben wird, die mit Überraschungen, Richtungsänderungen, Partnerwechsel und dem Bewusstsein, sich immer wieder neu erfinden zu können, aufgewachsen ist. Weshalb die Generation M auf Veränderungen und auf Stagnation hoffentlich einfallsreicher und effektiver reagieren kann als die gescheiterte Generation Kohl.