»Die wirkliche Politik ist klein, grau, hässlich und schweißtreibend«

Ein Gespräch über den Beruf des Politikers zwischen Wolfgang Thierse, der im September nach 24 Jahren den Bundestag verlässt, und Christian Nürnberger, der zum ersten Mal dort einziehen möchte.

SZ-Magazin: Herr Thierse, Herr Nürnberger, sind Sie sich eigentlich schon mal begegnet?
Wolfgang Thierse: Nein, aber ich habe schon einiges von Christian Nürnberger gelesen.
Christian Nürnberger: Ich habe dich immer gern reden hören im Bundestag.

Das »Du« geht also schon mal ganz locker über die Lippen, wenn sich zwei Parteigenossen kennenlernen.
Thierse: Das ist einfach Praxis in der SPD. In der CDU gibt’s drei, vier Kollegen, die ich duze, bei den Grünen vielleicht zehn.
Nürnberger: Ich habe dem Gerhard Schröder mal geschrieben: »Ich bin nur noch in der SPD, damit ich dich duzen kann.«

Wie lange sind Sie eigentlich schon Parteimitglied, Herr Nürnberger?
Nürnberger:
Seit 42 Jahren.
Thierse: Das schaffe ich nicht mehr. Ich bin im Januar 1990 eingetreten.

Die Kritik Ihrer Essays, die auch im SZ-Magazin erscheinen, zielt ja oft aufs Grundsätzliche. Ist die SPD der richtige Ort, um grundsätzliche politische Überzeugungen durchzusetzen?

Nürnberger: Eher nicht. Aber ich kenne keinen besseren. Ich bin ja einer dieser Wutbürger, die sich über alles Mögliche ärgern. Als ich dann vor zwei Jahren diese silberne Ehrennadel für die vierzigjährige Parteizugehörigkeit bekommen habe, haben sie mir in meiner fränkischen Heimat tief in die Augen geguckt und mich gefragt, ob ich für den Bundestag kandidieren möchte.

Und Sie haben Ja gesagt.
Nürnberger:
Die Kinder sind aus dem Haus. Der Hund ist tot. Also habe ich es probiert.
Thierse: Diese Frage, wie man seine Überzeugungen verwirklichen soll – da gibt’s ja gar nicht so viele Möglichkeiten. Entweder im privaten Raum, als Vegetarier zum Beispiel, ich meine das jetzt gar nicht spöttisch … Oder, wenn man mehr erreichen will, in der Politik. Man muss sich dann also in umständliche Prozesse und Regelwerke hineinbegeben. Ich habe dafür auf mich bezogen eine Formel gefunden: vom problematisierenden Beobachter zum problematischen Akteur.

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Bisschen traurig.
Thierse: Nein, das ist eine ganz nüchterne Einsicht. Das hat auch mit Erfahrungen der Niederlage zu tun. Die wirkliche Politik ist klein, grau, hässlich und schweißtreibend.

Herr Nürnberger, löst die Vorstellung, im September vielleicht Teil dieses grauen und hässlichen Riesenbetriebs zu werden, bei Ihnen Nervosität aus? Dass man sich als Neuling unter 620 Abgeordneten dort gleich zurechtfindet?
Nürnberger: So weit denke ich noch gar nicht, einerseits. Zunächst geht’s nur darum, den Wahlkreis zu gewinnen. Andererseits denke ich viel weiter: 22 Jahre lang habe ich an jedem Tag für meine Kinder eingekauft und gekocht. Jetzt will ich 22 Jahre lang für eine gute Zukunft meiner Kinder und deren Generation kämpfen, egal wie.
Thierse: Es ist auch gar nicht so schwierig, sich im Plenum zurechtzufinden. In der Fraktion sitzen die Vertreter eines Bundeslandes immer zusammen. Nur die vorderen Plätze sind fest vergeben, für die Fraktionsführung und Redner der aktuellen Debatte. Die anderen haben freie Platzwahl. Das ist anders als in fast allen anderen Parlamenten, wo es feste Plätze gibt wegen der elektronischen Abstimmung. Aber wir stimmen mit der Hand ab oder indem wir zur Urne gehen.

Herr Thierse, haben Sie mal erlebt, dass ein Novize zu Beginn Pannen produziert hat im Bundestag?
Thierse: Ja, das gibt’s immer wieder. Das gehört ja auch zum Spiel, dass man ihn mal durch die falsche Tür schickt …
Ach so, Sie haben also Initiationsrituale wie beim Militär oder an Universitäten?
Thierse:
Nein, nein, der Empfang der Neuen ist grundsätzlich ausgesprochen freundlich. Man braucht dann aber schon ungefähr ein Jahr, ehe man als Abgeordneter alles mitbekommen hat.
Nürnberger:
Ich habe mir zunächst nur ein konkretes Ziel gesetzt, das ich gern erreichen würde im Bundestag, eine kleine Korrektur der Agenda 2010. Wenn heute ein 14-jähriger Junge Zeitungen austrägt, und seine Mutter ist Hartz-IV-Empfängerin, dann wird der Mutter das Geld abgezogen, das der Junge verdient. Das halte ich für skandalös.

Herr Nürnberger, Sie sind schon mitten im Wahlkampf.
Nürnberger: Na ja, das letzte halbe Jahr habe ich erst einmal damit verbracht, die Genossen in meinem Wahlkreis zu motivieren. Denn die müssen für mich in den Städten ja den Stand aufbauen, Flyer verteilen und Plakate kleben.

Und wie genau motiviert man die Genossen?
Nürnberger:
Man geht auf Jahreshauptversammlungen und in die Ortsvereine, um sich vorzustellen. Und dann erzählt man, warum man kandidiert und wer man ist.

Und wie viele Mitarbeiter haben Sie jetzt in Ihrem Wahlkampfteam?
Nürnberger:
Rund 25 Leute. Die müssen sich um alles kümmern: Fototermine, Plakate, Organisation von Veranstaltungen, Pressearbeit, tausend Kleinigkeiten. In ihrer Freizeit, unentgeltlich.

Haben Sie Mitspracherecht, wenn es darum geht, wie die Plakate aussehen?

Nürnberger:
Ich habe keinen Einfluss drauf. Das entscheidet eine Agentur.
Thierse: Das wird immer zentral in Berlin gemacht. Ich erinnere mich an die Plakate von 1998, ich fand die so beschissen. Mein Kopf war angeschnitten, und dann der rote Hintergrund, ich war ja damals noch etwas rotblonder – furchtbar.

Aber da muss man doch gegensteuern können als betroffener Politiker.
Thierse:
Nein, denn die Gestaltung aller Wahlplakate ist einheitlich. Und das ist richtig, dass man sofort sieht: SPD. Es hat immer Genossen gegeben, die sagen: Nein, ich mache mein eigenes Ding. Aber die müssen die Plakate dann auch selber bezahlen.

Was bringt denn eigentlich diese Art von Wahlkampf, Plakate an jedem Baum, der Kandidat kugelschreiberverteilend unter dem Schirm in der Fußgängerzone?
Nürnberger:
Früher habe ich auch gedacht: Muss das wirklich sein? Diese Plakate? Kann so ein Stand eine Wählerentscheidung beeinflussen?

Und jetzt stellen Sie sich selber hin.
Nürnberger:
Wenn ich keine Präsenz zeige, und die CSU hat alles zugekleistert, dann heißt es: Die Schwächlinge kann man doch nicht wählen!

Und wie ist es, in der Fußgängerzone zu stehen?
Nürnberger:
Ich sehe das als Chance für mich, weil ich ansonsten ganz schwer an die Leute herankomme. Erstens weil der normale Wähler kaum interessiert ist, und zweitens weil so viele auch keine Zeitung mehr lesen.

Wie fühlt man sich dabei, fremde Menschen anzusprechen?
Nürnberger:
Es ist schon eine gewisse Beklommenheit da, weil ich es noch nie gemacht habe. Ich muss ja auch Hausbesuche machen.

Sie klingeln im Wahlkampf an Wohnungstüren?
Nürnberger: Ja, wie die Zeugen Jehovas.
Thierse: Das ist wichtig. Dass die Leute sagen: Donnerwetter, der ist tatsächlich hier, der sitzt nicht nur auf seinem Sessel. Es gibt übrigens ein paar elementare Regeln, wenn man in die Häuser geht: immer oben anfangen, zum Beispiel. Das ist weniger anstrengend.

Wie viel Prozent müsste die SPD in Bayern holen im September, damit Sie über Ihren Listenplatz in den Bundestag kommen?
Nürnberger: 33 Prozent.

Utopisch also.
Nürnberger:
Ja, es geht nur übers Direktmandat.

Und wie sind die Chancen da?
Nürnberger:
Die sind klein, aber nicht bei null.

»Das ist genau der Punkt. Man wünscht sich immer, dass die Politiker deutlich reden. Aber wehe, sie tun es.«

WOLFGANG THIERSE
... ist Bewohner des Prenzlauer Bergs. In der DDR war er Schriftsetzer, später studierte er und war wegen seiner Haltung zur Biermann-Ausbürgerung ausgebremster Kulturwissenschaftler. 1990 wurde er Vorsitzender der Ost-SPD. Seit der Vereinigung ist er Bundestagsabgeordneter. Von 1998 bis 2005 war er der Präsident des Deutschen Bundestages. Er ist einer der erfolgreichsten ostdeutschen Politiker.

Das heißt, dieser Straßen- und Häuserwahlkampf ist genau das, was für ein Direktmandat getan werden muss. Haben Sie eigentlich schon Ihre ersten Wahlkampfreden gehalten vor großem Publikum?
Nürnberger:
Ja.

Unterscheidet sich die Überzeugungslust als Redner von der, die Sie als schreibender Journalist antreibt?
Nürnberger:
Es ist schon was anderes, sofort die unmittelbare Reaktion des Publikums zu sehen. Die klatschen plötzlich, und manchmal schreien sie sogar laut auf. Und dann merke ich: Ah, jetzt musst du vom Gas gehen! Weil: Demagoge will ich nicht sein.

Aber Sie genießen das schon, wenn Sie so einen Saal in der Hand haben?
Nürnberger: Es macht Vergnügen, diese Wirkung zu erzielen. Was ich aber noch lernen muss, ist das freie Sprechen. Ich schreibe immer alles fein ziseliert auf und möchte es dann auch so rüberbringen, wie ich es mir formuliert habe. Also lese ich immer ab.

Hat man Ihnen schon einen Coach angeboten für Reden und öffentliche Auftritte?
Nürnberger:
Ja, aber ich habe bisher darauf verzichtet.

Sie haben ja auch einen Profi zu Hause – Ihre Ehefrau, die ZDF-Nachrichten-Moderatorin Petra Gerster.
Nürnberger: Die kritisiert mich auch dauernd und sagt mir, was ich alles falsch mache.
Was denn zum Beispiel?
Nürnberger:
Dass ich nuschle und zu schnell rede.

Wie muss man sich das denn im Hause Gerster/Nürnberger vorstellen? Schauen Sie sich zusammen Heute-Sendungen Ihrer Frau an, als Übungseinheit?
Nürnberger: Nein, aber wir haben uns zwei- oder dreimal eine Talkshow angeguckt, in der ich zu Gast war. Da kritisiert sie mich gnadenlos und regt sich besonders auf, wenn ich mich unterbrechen lasse.
Thierse:
Außerdem ist ihre Situation nicht vergleichbar mit deiner.
Nürnberger:
Stimmt.
Thierse: Sie sitzt da, keiner kann ihr widersprechen, keiner redet rein.
Nürnberger:
Also, ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich so, wie ich bin, ganz gut ankomme bei den Leuten. Deshalb sehe ich keinen Bedarf, groß etwas zu ändern.

Und wie gehen Sie bei Ihren Auftritten mit Wiederholungen um, mit Redundanzen? In Ihrem bisherigen Beruf sind die ja verpönt. Als Politiker müssen Sie es mögen, ständig dasselbe zu sagen.
Nürnberger:
Mit Wiederholungen bin ich sparsam, da muss ich nur an mein Team denken, die das alles schon hundertmal gehört haben.
Thierse:
Na, das ist aber eine komische Einstellung. Du redest doch nicht für deine Mitarbeiter. Die müssen sich gefälligst Hornhaut übers Ohr ziehen. Du hast doch jedes Mal ein anderes Publikum.
Nürnberger: An der Hornhautbildung arbeite ich bereits.
Thierse: Wenn eine bestimmte Art von Argumentation oder eine bestimmte Formulierung sehr gut ankommt, dann musst du die doch wieder einbauen beim nächsten Mal. Dadurch werden deine Reden immer besser.
Nürnberger:
Pointen, die gut ankommen, wiederhole ich schon ziemlich penetrant. Aber es bleibt das Mitleid mit meinem Team.

Ist das ein Erkennungsmerkmal des etablierten Politikers – dass er die Wiederholung nicht scheut?
Thierse: Ich erinnere mich genau, wie ich meine Reden immer weiterentwickelt habe aus den Erfahrungen, wie die Zuhörer reagieren. Ich hatte übrigens das Glück, zu Beginn meines politischen Lebens Leuten wie Hans-Jochen Vogel oder Willy Brandt zuhören zu können. Bei meinem allerersten Wahlkampfauftritt in Berlin war auch Vogel dabei. Ich notierte mir wie immer die Fragen der Leute, dazu Stichworte für die Antwort. Vogel aber notierte sich nur die Namen der Fragesteller. Und dann redete er sie mit Namen an.

Und seitdem machen Sie es genauso?
Thierse:
Ja. Wenig später bei einer großen Kundgebung stand ich neben Willy Brandt, und mir schlotterten die Knie. Dann hörte ich ihm zu und merkte, wie langsam der zu den Menschen redete. Mit Pausen. Ich haspelte immer los, wollte möglichst viel
möglichst schnell loswerden. Brandt war ganz langsam. Da habe ich eine Menge gelernt in diesem ersten Jahr.

Bei Ihnen, Herr Thierse, merkt man, dass Reden ein Teil der politischen Arbeit ist, der Ihnen richtig Spaß macht – die Idee, in fünf Minuten in den Gehirnen und Bäuchen etwas zu ändern. Wenn Sie im September mit fast 70 Jahren den Bundestag verlassen, wird der tägliche Rahmen für diese Überzeugungslust wegfallen.
Thierse: Ja, und jetzt fragen mich natürlich alle, was ich dann tun werde.
Und?
Thierse: Dazu sage ich erst etwas, wenn es so weit ist. Ich kann mich jedenfalls gut daran erinnern, dass ich mich vor der Politik nicht gelangweilt habe, und habe deswegen Hoffnung, mich auch nach der Politik nicht langweilen zu müssen.

War die merkwürdige »Schwaben-Affäre« Ende vergangenen Jahres vielleicht ein Experiment von Ihnen, ein letztes Mal zu testen, ob die Medien noch tun, was Sie wollen?
Thierse:
Nein. Ich bin nicht Angela Merkel. Selbst nach 24 Jahren in der Politik sage ich nicht etwas, nur um eine mediale Rakete zu zünden. In einem ziemlich ernsthaften Interview wurde mir damals die Frage nach den Veränderungen am Prenzlauer Berg gestellt. Ich habe erklärt, dass ich mich über die vielen jungen Leute mit Kindern freue, und erkennbar ironisch gesagt: Es geht mir nur zu weit, wenn von mir verlangt wird, nicht mehr »Schrippe« zu sagen, sondern »Weckle«.

Dann brach ein medialer Sturm aus.
Thierse:
Mit über 3000 Mails. Ein Teil der Schwaben war damit beschäftigt, alle Vorurteile gegen sich zu bestätigen: Wie ich mich erdreisten könne, etwas gegen die Schwaben zu sagen, wo sie doch Berlin finanzieren. Das eigentlich Betrübliche an diesem nebensächlichen Erlebnis war aber: Eine ironische Nebenbemerkung erzeugt ein Echo, wie ich es in einem Vierteljahrhundert fleißiger Arbeit als Politiker nicht erlebt habe. Da könnte man verzweifeln.

Kann man daraus auch etwas lernen?
Thierse: Nein, denn daraus lernen hieße, so wie Angela Merkel zu reden. Nämlich möglichst nichtssagend – unangreifbar. Das kann ich nicht, weil ich das für tieftraurig halte.
Nürnberger:
Ich habe leider auch schon gemerkt, dass ich in der Politik nicht mehr so frei von der Leber weg reden kann wie bisher. Auf meiner Facebook-Seite habe ich neulich ein Foto von Kühen gepostet und »Mein Wahlkreis« druntergeschrieben. Da war ganz schön was los.

Jetzt sind Sie noch gar nicht richtig angekommen in der Politik und müssen schon vorsichtig sein?
Nürnberger: Ich habe auch zuerst gesagt: Wenn das so losgeht, können wir gleich wieder aufhören! Die Genossen haben mich aber überzeugt, dass es besser ist, das Bild rauszunehmen.
Thierse: Das ist genau der Punkt. Man wünscht sich immer, dass die Politiker deutlich reden. Aber wehe, sie tun es. Dann werden sie von denselben Leuten niedergemacht, die das eben noch gefordert haben.

Wortpolizei und Fraktionszwang: Kann man als wahrheitsliebender Mensch seine Leidenschaften und Überzeugungen überhaupt behalten in der Parteipolitik?
Thierse:
Halt! Man muss sich einen fundamentalen Unterschied klarmachen: In der
Politik geht es nicht um Wahrheit; es geht um bessere oder schlechtere Lösungen. Politik ist die Sphäre des Relativen. Man sollte diese Art von demokratischer Auseinandersetzung nicht denunzieren. Wer das tut, ist latent in der Gefahr, lieber den einen starken Mann haben zu wollen, der im Besitz der Wahrheit ist.

»Als ich 1989 in die Politik geriet, wollte ich einfach nicht so aussehen wie diese ganzen Funktionärs-Arschlöcher der SED.«

CHRISTIAN NÜRNBERGER
... ist Hausmann. Nach Lehre, Bund, Studium und Henri-Nannen-Journalistenschule war er Redakteur bei der Frankfurter Rundschau, bei Capital und highTech. Als seine Frau, die Fernsehjournalistin Petra Gerster, das erste Kind bekam, kündigte er, kümmerte sich um Haushalt, Tochter, Sohn, Hund und Katzen und wurde »nebenbei« ein sehr erfolgreicher Autor und Publizist.

Herr Nürnberger, können Sie auch so eine Leidenschaft für das Relative entwickeln wie Wolfgang Thierse?
Nürnberger: Eine Leidenschaft zum Relativen will ich nicht entwickeln, aber Akzeptanz dafür habe ich schon.

Also werden Sie künftig auch aus parteitaktischen Gründen gegen Ihre Überzeugungen stimmen?
Nürnberger: Das wird mir sehr schwer fallen. Parteitaktik ist sowieso etwas, das habe ich gefressen.
Thierse: Du musst aber bei jeder deiner Sachentscheidungen mitbedenken, ob sie die von dir unterstützte Regierung gefährdet oder nicht. Das ist ein Teil der Gewissensfrage, nicht nur, ob du deutsche Soldaten ins Ausland schickst oder für die Frauenquote bist. Und das ist manchmal nicht ganz deckungsgleich.

Jetzt weiß Christian Nürnberger also schon mal, was da mit dem Fraktionszwang auf ihn zukäme.
Thierse:
»Fraktionszwang« ist doch so eine Art negativer Mythos. Die Bürger wollen einfach, dass Parteien erkennbar sind. Dass die CDU- oder die SPD-Fraktion nicht fünf verschiedene Meinungen vertritt, sondern eine. Und wenn man davon abweicht, muss man die eigene Meinung begründen und sich der Debatte in der Fraktion stellen. Wer die Reinheit seiner Anschauung für das Allerhöchste hält, soll Gedichte oder Essays schreiben, aber nicht in die Politik gehen.
Nürnberger: Nein, das sehe ich ganz gelassen. Einfach deshalb, weil ich mit meinen 62 Jahren eh nichts mehr werden muss und kann in der Politik.
Thierse: Es gibt wirklich einen Vorteil, wenn man älter ist und in den Bundestag kommt. Man ruht mehr in sich als jüngere Kollegen. Ich war 46, als ich in die Politik geriet, und konnte mich also gar nicht mehr bis zur Unkenntlichkeit meiner selbst verändern. Weshalb ich auch der altmodischen Ansicht bin: Bevor jemand Politik zu seiner Profession macht, soll er eine gewisse Menge beruflicher und sozialer Erfahrung gesammelt haben. Deswegen ist auch der Vorwurf, es seien zu wenig junge Leute im Parlament, unsinnig.

Hat es auch mit Alter und Erfahrung zu tun, Herr Thierse, dass Sie die Medien so konsequent aus Ihrem Privatleben herausgehalten haben?
Thierse:
Man muss eine einfache Entscheidung treffen: keine Home-Storys. Niemanden in seine Wohnung lassen. Es gibt nur ein einziges Foto von meiner Frau und mir zu Hause, aus dem Jahr 1990, als ich noch ganz ahnungslos war, ein befreundeter Fotograf hat uns da aufgenommen. Seitdem nie wieder.

Wenn man aber eine prominente Ehefrau hat wie Sie, Herr Nürnberger, und auch schon mit einer Zeitung darüber gesprochen hat, wie Sie beide sich über eine Kontaktanzeige kennengelernt haben – braucht man dann ein anderes Konzept für den Umgang mit Öffentlichkeit?
Nürnberger:
Ich habe da keine große Scheu. Wir haben das von Anfang an offensiv gehandhabt, aus dieser alten Position heraus: Das Private ist politisch. Deshalb lassen wir die Öffentlichkeit immer ein Stück an unserem Privatleben teilhaben, nämlich dort, wo es uns politisch wichtig ist.

Gehen da bei Ihnen rote Lampen an, Herr Thierse?
Thierse:
Nein. Ich habe es aber immer ein bisschen unangenehm gefunden, wenn Politiker ihr Privatleben instrumentalisieren. Das kann ja nach hinten losgehen. Das dramatischste Beispiel in der letzten Zeit ist Christian Wulff.

Klingeln Sie, Herr Nürnberger, jetzt bei den Menschen in den Wohnungen und sagen: »Ich bin Christian Nürnberger, der Mann von Petra Gerster.«
Nürnberger: Nein, nur meine Reden vor den Genossen beginne ich manchmal so: »Ihr kennt meine Frau schon besser als mich, und um das zu ändern, kandidiere ich.«
Thierse: Das ist ein schöner selbstironischer Einstieg.

Als wir Christian Nürnberger gefragt haben, ob er sich mit Wolfgang Thierse über den Beruf des Politikers unterhalten würde, war sein erster Kommentar: »Da kommen ja zwei Zausel zusammen!« Was bedeutet es, nicht der ästhetischen Stromlinie des Politikers zu entsprechen?
Nürnberger:
Ich mache da keine Zugeständnisse. Seit Guttenberg erst recht nicht. Mich machen Typen total misstrauisch, die so gelackt und gegelt daherkommen. Guttenberg hat dieses Misstrauen bestätigt und mich auch darin bestärkt, an meinem Äußeren nichts zu ändern.

Es gibt ein Zitat von Peter Struck über Wolfgang Thierse kurz nach der Bundestagswahl 1998: »Als Präsident, der da oben sitzt, kann man nicht wie ein Schluffi aussehen.« Kommt man da ins Grübeln? Wären Sie im Lauf
Ihrer Karriere vielleicht in noch bedeutendere Ämter eingerückt, Herr Thierse, wenn Sie sich anders präsentiert hätten?
Thierse: Als ich 1989 in die Politik geriet, wollte ich einfach nicht so aussehen wie diese ganzen Funktionärs-Arschlöcher der SED – und mich dann nicht mehr ändern. Nürnberger: Wir haben schon viele korrekt aussehende Typen aufsteigen sehen wie die Adler, und dann sind sie als Suppenhuhn auf dem Tisch von Angela Merkel aufgeschlagen: Merz, Wulff, Röttgen, von Boetticher. Oder nehmen Sie Dobrindt mit seinem runderneuerten Kopf, dem trotzdem noch nie ein einziger origineller Gedanke entfahren ist. Oder die Boygroup der FDP: Lindner, Bahr, Rösler. Bestens gestylt liegen sie stabil unter fünf Prozent.
Thierse: Ich wurde einmal zum schlechtest angezogenen Politiker gewählt. Wissen Sie, wer der am besten Angezogene war? Guido Westerwelle. Da hab ich gedacht: Ich fühle mich verstanden.

Fotos: Jonas Holthaus