»Nur tote Fische schwimmen immer mit dem Strom«

Peter Gauweiler und Oskar Lafontaine kommen aus völlig unterschiedlichen politischen Lagern. Trotzdem sind sie Freunde geworden - oder gerade deswegen. Ein Gespräch über die Lust an der Auflehnung und den Abschied von der großen Bühne.

Das Interview findet auf Peter Gauweilers Empfehlung im Restaurant der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft statt, gegenüber dem Reichstagsgebäude in Berlin. Hier darf nur reservieren, wer im Bundestag sitzt. Also hat Lafontaines Ehefrau Sahra Wagenknecht den Tisch für die beiden Ehemaligen organisiert. Zum Essen gibt es einen guten Weißen, den Gauweiler von Lafontaine auswählen lässt.

SZ-Magazin: Hätten Sie beide sich vor dreißig Jahren vorstellen können, dass Sie jetzt hier so freundschaftlich zusammensitzen?
Oskar Lafontaine: Vor dreißig Jahren kannte ich Peter Gauweiler eher aus der Zeitung. Damals galt er als ein strammer Rechter. Heute ist er ein aufgeklärter Konservativer.
Peter Gauweiler: Du kanntest mich 1985 als Kreisverwaltungsreferenten von München. Zu meinen Aufgaben gehörte zu dieser Zeit auch der umstrittene Schutzraumbau für den sogenannten Verteidigungsfall, es ging also um Bunker. Zwei Leute im deutschen Sprachraum, die im Gegensatz zu mir nicht als Reaktionäre identifizierbar waren, sprachen sich dafür aus: Der eine hieß Carl Friedrich von Weizsäcker, der andere Oskar Lafontaine, seinerzeit erfolgreicher junger Oberbürgermeister von Saarbrücken und gleichzeitig Vorsitzender des Bundesverbands für den Selbstschutz. Das war meine erste positive Wahrnehmung von Oskar Lafontaine: dass da einer ist, der über das Politisch-Schablonenhafte hinausgeht. Viele Jahre später, 1999 – ich hatte schon den dritten oder vierten politischen Sturz hinter mir und du gerade den ersten – habe ich in einem Text deinen damals heftig kritisierten Rücktritt als völlig richtig und in der Form großartig verteidigt, im guten Sinne des Wortes war er Götz-von-Berlichingenhaft. Ich nehme an, dass das bei dir im damaligen Trubel untergegangen ist.

Lafontaine: Daran erinnere ich mich sehr gut! Hat mir natürlich imponiert, dass du dich öffentlich so geäußert hast. Dazu gehörte Mut, denn die meisten fielen über mich her. Aber auch schon vorher warst du mir aufgefallen, weil du den Mumm hast, dich gegen die Mehrheitsmeinung zu stellen. Eigenständige Positionen zu vertreten ist ja nicht so einfach. Man muss ab und zu auch der eigenen Gruppe widersprechen. Dann gibt es Gegendruck. Das hält nicht jeder aus. Darüber hinaus gab es Berührungspunkte. Für dich wie für mich ist die Bundeswehr eine Verteidigungsarmee und keine Interventionsarmee. Die Ablehnung von Interventionskriegen verbindet uns.
Gauweiler: Ende der Neunzigerjahre führten Klaus Bölling und ich für die Welt am Sonntag einmal im Monat lange Gespräche mit jeweils einem prominenten Zeitgenossen. Natürlich versuchten wir, den nach seinem Rückzug in tiefes Schweigen verfallenen Lafontaine als Gesprächspartner zu gewinnen. Bölling und ich haben mit dir in Saarbrücken dann ein großes Interview geführt.
Lafontaine: Ich erinnere mich. Es war mein erstes Interview nach meinem Rücktritt vom Amt des Parteivorsitzenden der SPD und vom Amt des Bundesfinanzministers.

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Später hatten Sie beide eine gemeinsame Kolumne in der Bild. Was war der Schlüsselmoment, wo aus Sympathie mehr wurde, Vertrauen, Nähe?
Gauweiler: Fünf Jahre jeden Montag gemeinsam in der Bild nebeneinander, die wöchentlichen Vorgespräche über das richtige Thema – das hat uns einander wohl nähergebracht.
Lafontaine: Und es hat uns großen Spaß gemacht, ausgerechnet in der Bild gegen Krieg und Sozialabbau zu polemisieren. Deshalb war die Zeitung auch froh, als sie uns wieder loswurde.

Würden Sie sich heute als Freunde bezeichnen?
Lafontaine: Ja. Sollte ich mal die Gelegenheit haben, Peter Gauweiler helfen zu können, würde ich das tun. Und ich unterstelle mal, er würde mir auch helfen, wenn ich es nötig hätte und er könnte. Das ist ja immer ein Kriterium der Freundschaft: dass sie nicht nur Kalkül oder Zweckbündnis ist. Es war einfach Sympathie, die sich in der Person und in der Sache, im Denken begründete.
Gauweiler: Und noch etwas. In der Politik gibt es ja dieses ständige Suchen: Wo muss man draufdrücken, dass der andere »Au!« schreit? Bei uns war das von Anfang an anders. Wie Schachspielen zum Vergnügen und nicht als Turnier. Das macht natürlich mehr Freude als die ewige Angst vor einem falschen Wort oder der andauernde Wille zum Missverständnis.
Lafontaine: Was an so einer Freundschaft spannend ist: Man kann Argumente austauschen, obwohl man aus verschiedenen Traditionen kommt. Ein Beispiel: Gerade wird über die Grenzfrage gestritten, ein hochaktuelles Thema mit der ständigen Ausweitung der europäischen Gemeinschaft, mit dem Schengen-Abkommen und den Flüchtlingen. Bei einem unserer ersten längeren Gespräche hat Peter gesagt: Vergiss nie, die Grenzen haben auch eine Schutzfunktion! Da habe ich angefangen, darüber nachzudenken: Wie kommt er darauf? Was will er damit sagen? Ein solcher Dialog ist fruchtbarer als die in vorgezeichneten Bahnen verlaufenden innerparteilichen Debatten.

Ist das der Grund, warum man in der gegnerischen Partei womöglich leichter Freunde findet als in der eigenen?
Lafontaine: Ja, das ist ein wichtiger Grund. Es gibt keine direkte Konkurrenz um Ämter und Mandate. Da ist eine größere Unbefangenheit, weniger Verkrampftheit.

Hat Ihre Freundschaft auch nichtpolitische Themen?
Gauweiler: Meine Frau und ich waren bei ihm im Saarland zu einem runden Geburtstag eingeladen, was sehr schön war. Da haben wir gute Gespräche geführt. Oskar ist ein guter Gastgeber.
Lafontaine: Ich kenne Peters Familie. Er schickt mir immer schöne Bilder von seiner Familie, mit guten Wünschen zum Weihnachtsfest und zum neuen Jahr. Bei jedem Jahreswechsel warte ich auf die neue Ausgabe. Ich erzähle ihm gern von meinen Söhnen. Sahra kennst du auch gut, Peter. Ihr habt euch schon vorher verstanden. Da wusstest du noch gar nicht …

… dass Sie mit Sahra Wagenknecht zusammenkommen würden.
Gauweiler: Ich habe vor zwei Jahren, als ich gerade stellvertretender Parteivorsitzender geworden war, in einem Briefwechsel mit Christian Ude für den Münchner Merkur geschrieben: »Musste bei der gestrigen Rede von Sahra Wagenknecht zur Banken-Union den Plenarsaal vorzeitig verlassen, weil ich sonst zu viel geklatscht hätte.«
Lafontaine: Das gefällt mir.

Gibt es in Ihrer Freundschaft nicht auch Reibungspunkte? Sie kommen doch von zwei völlig verschiedenen Planeten.
Lafontaine: Kann ich nicht sagen, dass mich an ihm was nervt. Ich würde es sagen, wenn es so wäre. Den Strauß sehe ich nicht ganz so glorreich wie er, aber das ist es dann auch.
Gauweiler: Immerhin hast du dich mit Strauß getroffen. Er hat ja auch gut über dich gesprochen.
Lafontaine: Als ich ihn in der Ministerpräsidentenrunde kennenlernte, habe ich ihm Kohl-Witze erzählt. Das muss das Eis gebrochen haben. Aber zurück zum Thema: Wenn man befreundet ist, will man nicht unnötig in Konflikt geraten. Wenn mich wirklich was nerven würde, dann wäre die Freundschaft gar nicht zustande gekommen. Sag du mal, Peter. Nervt dich was an mir?
Gauweiler: Je älter ich werde, umso eher bewerte ich Äußerungen nach der Person als nach dem Inhalt. Weil es Leute gibt, die mit der Wahrheit lügen, aber eben auch den umgekehrten Fall: Wo das Wort wegen der Person, von der es kommt, Gewicht hat, auch wenn man ganz anderer Ansicht ist. Sollte also Oskar ganz was Schlimmes sagen, wird es meine Aufgabe sein, das zu verteidigen.
Lafontaine: Man ist ja immer auf der Suche nach einem gedanklichen Widerlager. Peter, du hast mir mal ein Buch von Ernst Nolte geschickt, du erinnerst dich, Historikerstreit, Nolte ist nicht gerade mein Lieblingshistoriker …
Gauweiler: Historische Existenz!
Lafontaine: Genau, und ich dachte mir: Gut, den lese ich jetzt, denn man muss seine Gedanken und Positionen ja immer wieder prüfen. Was ist denn jetzt eigentlich links? Für mich hieß das immer: Im Zweifel kämpfst du für das einfache Volk. In den vergangenen Jahren, mit der zunehmenden Zentralisierung der Macht und dem Vordringen des Neoliberalismus, wurde immer klarer, dass die Eigentumsfrage der archimedische Punkt der Diskussion ist, weil er für mich mit der Machtfrage zu tun hat. Seit ich Peter kenne, zitiere ich nicht mehr die linken Klassiker, sondern auch mal Goethe, wenn ich über die Ideologie der Herrschenden spreche, oder ich zitiere den deutschen Ökonomen und Ordoliberalen Walter Eucken, wenn ich mit Konservativen diskutiere. Eucken war ein Visionär: Er wollte wirtschaftliche Macht nicht kontrollieren, sondern verhindern. Er wusste, eine zu große wirtschaftliche Macht macht Demokratie unmöglich.

Zitieren Sie auch Peter Gauweiler?
Lafontaine: Den zitiere ich gerne, wenn ich mit CDUlern, SPDlern oder Grünen diskutiere. Ich frage sie: Gibt es euch nicht zu denken, dass ein Mann wie er, unter Berufung auf das Grundgesetz und seinen christlichen Glauben, Interventionskriege ablehnt?
Gauweiler: Die Frage ist doch: Verhindern all diese westlichen Militäreinsätze den Dritten Weltkrieg oder machen sie ihn wahrscheinlicher? Diese Frage zu stellen, heißt, sie zu beantworten. Wir müssen das unverzüglich beenden. Lafontaine Ein Argument, das ich von Peter übernommen habe und seitdem gern verwende.

Aber es muss doch Themen geben, wo Sie beide nicht einer Meinung sind?
Gauweiler: Wir haben alle immer unumstößlich und zu hundert Prozent recht, ich natürlich auch. Aber ab und zu flüstert einem ein Engel zu: Hallo, du hast höchstens zu 51 Prozent recht. Also bitte auch die restlichen 49 Prozent durchdenken. Diesen Impuls hat Oskar bei mir gefördert.
Lafontaine: Die Erbschaftssteuer ist ein gutes Beispiel. Es hieß ja immer: Wenn die Unternehmen plötzlich so viel Erbschaftssteuer zahlen, kommen sie in Liquiditätsprobleme. Das hat mich auf den Gedanken gebracht, die anfallende Erbschaftssteuer in Belegschaftsanteile umzuwandeln. Für mich gehört die Zukunft den Belegschaftsunternehmen. Ich habe das kürzlich einem Unternehmer vorgetragen – der war dann völlig verwirrt, als ich ihm sagte, die vier Milliarden, die seine Firma wert ist, habe nicht er, sondern seine Belegschaft erarbeitet. Sie habe daher auch einen Anspruch auf eine Beteiligung am Unternehmen.

Was ist da Ihr Standpunkt, Herr Gauweiler?
Gauweiler: Wenn eine solche Belegschaftsbeteiligung darin besteht, dass die erste Fabrikhalle dem Unternehmer gehört, die zweite Halle der Belegschaft, würde ich als Interessenvertreter der Mitarbeiter sagen: Wir wollen diese Scheißhalle überhaupt nicht, wir wollen lieber ein besseres Gehalt. Jeder soll bei dem bleiben, was er kann.
Lafontaine: Die Belegschaftsbeteiligung würde zu einer Dezentralisierung der Macht führen. Schlecht wäre natürlich, wenn die Belegschaftsmehrheit zu wenig investiert und nur sagt: Geld her, ausschütten! Dann sage ich: Das Risiko muss man, wie bei jedem Einzelunternehmer, in Kauf nehmen. Geht das Unternehmen dann pleite, hat die Belegschaft den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu verantworten, nicht ein Einzelner, der das Unternehmen geerbt hat, aber schlicht nicht fähig ist, es zu führen.

Sie waren beide in Ihren jeweiligen Parteien oft umstritten. Ihre Kritiker bemängelten fehlende Loyalität. Macht so ein Hang zum Querschießen auf Dauer einsam?
Gauweiler: Viele Politiker empfinden es als weniger schlimm, im Irrtum zu sein als isoliert. Also verstummen sie, was die eleganteste Form ist, sich rauszuhalten. Wenn man, wie ich, das nicht aushält, muss man die Konsequenz tragen, politisch auch mal allein zu sein. Dann fühlt man sich wie im Lied der Franken: »So muss ich seitwärts durch den Wald / Als räudig Schäflein traben.«

Hat Ihnen das Gemeinschaftsgefühl nie gefehlt?
Gauweiler: Doch, natürlich. Bei mir war in der Politik von Anfang an immer etwas Außenseiterisches dabei. Schon in der Studentenbewegung. 1968 war ich im Konvent der Universität München. Fünfzig der 55 Mitglieder waren klassische 68er: SDS, Spartakus, Rote Zellen. Wir fünf vom Ring Christlich-Demokratischer Studenten waren die Oberspießer, und von denen war ich der Vorsitzende. Abends traf man sich im »Alten Simpl» oder in der »Schwa- binger 7«, das war neutrales Gebiet.
Lafontaine: Als ich 1990 wollte, dass ein anderer mir die Kanzlerkandidatur abnimmt, weil ich gerade ein Attentat überlebt hatte, war keiner dazu bereit. Da hat mir die Unterstützung der Gemeinschaft besonders gefehlt. Ähnlich 1998. Nach meinem Rücktritt war ich ziemlich allein. Man darf nicht vergessen: Der Deserteur klagt die an, die bei der Truppe geblieben sind. Es kostet viel Kraft, so etwas durchzustehen. Viele vormalige Freunde wandten sich damals von mir ab. Kierkegaard sagt: Die Menschen fürchten sich am meisten davor, mit ihrer Meinung allein zu sein. Peter hat, was das betrifft, einen gewissen Grad an Souveränität erreicht. Die hat er sich im Laufe seines Lebens erarbeitet. Nur tote Fische schwimmen immer mit dem Strom.

Kann Eigenständigkeit auch zum Selbstzweck werden?
Gauweiler: Klar, Attitüde – man ist immer in Gefahr. Trotzdem lasse ich da nicht locker: Wie viel Demokratie verträgt die Demokratie? Im Bundestag geben sie dir als Abgeordneter eine kleine Zuständigkeitsschublade, wo du dich austoben darfst. Den Rest machen die Erwachsenen. Aber so ist es im Grundgesetz mit dem Parlament und den Parlamentariern nicht vorgesehen! Wir haben heute quer durch die Bevölkerung eine Informationsdichte, die so breit ist wie nie. Wird gefragt: »Soll Deutschland Soldaten nach Mali schicken oder nicht?«, kann sich jeder eine Meinung dazu bilden. Aber ausgerechnet der gewählte Volksvertreter soll Fraktionsstimmvieh bleiben. Das ist doch Realsatire!
Lafontaine: Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln: Der olle Goethe hat das schon vor Marx und Engels erkannt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und dagegen, in welcher Form auch immer, sich aufzulehnen, ist für mich eine der schwierigsten Übungen eines Politikers überhaupt – unabhängig davon, was dabei herauskommt.
Gauweiler: Natürlich darf das kein Selbstzweck sein und aus risikoloser Selbstgefälligkeit bestehen. Von hundert Einzelthemen können Sie sich mit Verstand und sinnlicher Freude in fünf vertiefen. Bei den restlichen 95 muss man in einer Parlamentsfraktion auch sagen können: Wer das bearbeitet hat, kennt sich aus. Das ist der Sinn von Fraktionen. Da muss ich mitstimmen.


Machen wir einen Fehler, wenn wir uns Parteien als eine Gerade vorstellen mit links außen und rechts außen? Trifft es ein Kreis besser, wo sich die Extreme wieder treffen?

Gauweiler: Ich habe mich lange gegen die Zuschreibung rechts gewehrt. Irgendwann war es mir egal. Möglicherweise stimmts.
Lafontaine: Du würdest dich doch selbst als Konservativen definieren, Peter, oder nicht? Gauweiler: Ja, auch. Die Frage ist nur: Was ist der Kern des Linksseins beim Menschen, was ist der Kern des Rechtsseins? In einem Fall Klassenlosigkeit, Einebnung von Unterschieden, Gleichheit. Im anderen Fall Ordnung, Distanz, Differenz. Damit bin ich ganz gut zurechtgekommen. Bei Sebastian Haffner habe ich aber eine noch bessere Unterscheidung gelesen: Der Unterschied zwischen rechts und links ist wie zwischen rechter und linker Hand. Die Stärke der rechten Hand liegt in der praktischen Tätigkeit, die linke hat die Aufgabe zum Gegensteuern. Zur höheren Stufe eines Gemeinwesen gehört das Begreifen dieser Wechselbeziehung. So kann man geistige Bürgerkriege verhindern, wie sie um uns herum gerade toben. Gesellschaften funktionieren, wenn Links-Rechts-Gespräche möglich bleiben, ohne dass einer ängstlich über die Schulter schauen muss.
Lafontaine: Links zu sein bedeutet für mich, die Idee der Freiheit radikal zu Ende zu denken. Ohne eine Dezentralisierung der Macht gibt es keine demokratische Gesellschaft und damit nicht die Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Leben in Freiheit.
Gauweiler: Wenn ich bei uns intern erklären soll, was ist der Lafontaine für einer, wo steht denn der, dann antworte ich: Oskar Lafontaine ist ein linker Gaullist.
Lafontaine: Ich bin tatsächlich in einem Punkt überzeugter Gaullist. Im Ukrainekonflikt beispielsweise bräuchten wir wieder einen Charles de Gaulle, der den USA sagt, für eure geopolitischen Ziele ist Europa nicht bereit, seine eigenen Interessen zu opfern – was derzeit geschieht. Und ich befürworte immer noch eine deutsch-französische Union, um das auseinanderfallende Europa von innen heraus neu zu begründen. Im Übrigen ging de Gaulle mit seiner Sozialpolitik, jetzt fällt mir das Wort nicht ein …
Gauweiler: Participation!
Lafontaine: … in die richtige Richtung. Participation heißt für mich zum Beispiel Belegschaftsbeteiligung in Unternehmen.
Gauweiler: Überhaupt Frankreich: Dort nimmt man das Links-Rechts-Schema weniger als Antinomie, sondern als Ergänzung wahr. Ich habe Charles de Gaulle übrigens erlebt, bei seinem Besuch im September 1962 in München. Mit einem Schulfreund habe ich im Hofgarten auf ihn gewartet. Da hat er uns Schülern am Grabmal des unbekannten Soldaten die Hand gegeben. Das war das erste Mal, dass ich in der Zeitung war.

Apropos Links-Rechts-Schema: Gibt es eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Partei Die Linke und der CSU? Die PDS hat am Anfang ja auch funktioniert wie die CSU in Bayern: als regionale Kümmererpartei.
Gauweiler: Ich erinnere mich, die PDS ist tatsächlich mal als DDR-CSU hingestellt worden. Sie nahm es als Kompliment und hat damit sogar ein bisschen geworben. Und Seehofer hat noch vor ein paar Jahren scherzhaft gedroht, er wolle mit mir und Oskar eine Partei gründen.
Lafontaine: Mein Plan war damals, nach dem Mauerfall, SPD und PDS im Osten zu fusionieren, natürlich nicht als Ost-CSU, sondern als Ost-SPD. Damit konnte ich mich leider in der Sozialdemokratie nicht durchsetzen. Die damalige Ost-SPD war eine Pfarrer- und Lehrerpartei. Die wollten lieber unter sich bleiben, ihre Mandate behalten und keine innerparteiliche Konkurrenz haben. Und nach der »Rote Socken«-Kampagne der Union gegen uns hat sich auch keiner mehr getraut. Die Idee war also tatsächlich, nach dem Beispiel der CSU eine Ost-SPD zu schaffen, die als Vertretung des Ostens agiert hätte. Heute soll sich dieses Denken ja auflösen, damals war es notwendig. Ich wollte die SPD auch so stark aufstellen wie die CDU/CSU, die dadurch Vorteile hat. Denken Sie nur an die Fernsehsendungen nach den Wahlen: Da saßen immer zwei von der CDU/CSU und ein SPD-Vertreter. Die Ost-SPD sollte das linke Gewissen der SPD werden.
Gauweiler: Meine Gedankenspiele nach dem Fall der Mauer waren nicht die Ausweitung der CSU nach Osten. Ich wollte eine eigenständige CSU im Freistaat Sachsen, eine in Thüringen und, man wagt es kaum zu sagen, im neuen Bundesland Brandenburg-Preußen. Als Alternative zu CDU und SPD mit ihrem auf den Gesamtstaat bezogenen Machtanspruch. So eine Ost-CSU hätte diese vermeintlich unerschütterliche 1871er-Staatlichkeit um eines höheren Zieles willen auch mal in Frage stellen können.

Mit der Bitte um ehrliche Antwort: Bereuen Sie beide jeden Tag Ihren Rückzug von der politischen Hauptbühne?
Gauweiler: Im Gegenteil. Die Hauptbühne war ein Marionettentheater. Politik bleibt ein wichtiger Teil meiner Welten. Aber eben selbstbestimmt und ohne Bevormundung.

Mit dem Nachteil, dass Sie nichts mehr zu sagen haben.
Lafontaine: (mit gespielter Empörung) Diese Unterstellung weise ich mit Nachdruck zurück. Immerhin bin ich noch Vorsitzender einer großen Landtagsfraktion der Linken!
Gauweiler: Zugegeben: Die einzige Macht, die wir haben, ist die Macht über die Sprache. Die Armen im Bundestag haben nicht mal diese, ihnen wird der Mund ja ständig verboten. Eine Episode vom vergangenen Jahr bleibt mir unvergessen: Nachdem ich in Passau am Aschermittwoch die Sanktionen gegen Russland kritisiert hatte, fand ich mich Tage später im Bundestag von der Rednerliste zum gleichen Thema gestrichen. Obwohl mich der zuständige außenpolitische Arbeitskreis der Fraktion schon nominiert hatte. Frau Hasselfeldt, die auch reden wollte, brauche leider auch noch meine Redezeit, hieß es. Eigentlich hätte ich damals schon sagen müssen: Auf Wiedersehen!
Lafontaine: Mit der sogenannten großen Politik aufzuhören ist natürlich eine einschneidende Veränderung. Als Bürgermeister konnte ich entscheiden, wo der Kindergarten oder der Sportplatz hinkommen. Später als Finanzminister musste ich nur husten, und schon ging der Zinssatz rauf oder runter. Diese Möglichkeiten sind nicht mehr da. Man muss sich damit abfinden, dass man das große Rad nicht mehr dreht. Andererseits sind wir ja noch dabei und mischen ein wenig mit.
Gauweiler: Jeder Mensch ist politisch, bis er stirbt.
Lafontaine: Ich werde so lange politisch agieren, wie ich das kann und wie ich im Kopf klar bin. Die politische Arbeit beantwortet eine Grundfrage des Lebens: Mache ich nur etwas für mich und die Meinen? Oder mache ich auch was für die Allgemeinheit? Ich wollte immer beides. Natürlich muss man sich, wenn man öffentliche Ämter hat, immer fragen: Meinst du es ehrlich, oder ist es nur Karrierestreben und Eitelkeit?

Können Sie Eitelkeit bei sich selbst ausschließen?
Gauweiler: Eitelkeit? Ist mir völlig fremd.
Lafontaine: Im Ernst: Jeder Mensch ist eitel. Das habe ich von einem meiner Lieblingsschriftsteller gelernt, William Somerset Maugham: Die Eitelkeit kommt in vielen Formen daher, selbst in der Demut des Heiligen. Sich selbst mit seinen menschlichen Schwächen zu konfrontieren, ist notwendig.

Wann haben Sie das zuletzt bei sich getan?
Lafontaine: Ob Sie es glauben oder nicht, nach meinen wirklichen Motiven frage ich mich jeden Tag, auch wenn ich auf viele nicht so wirke, als sei ich von Selbstzweifeln geplagt. Wir laufen ja alle mit einer Maske herum.

Herr Lafontaine, Sie wurden in den Medien als »Narzisst und Goldmund« oder »Schwatzkanzler« tituliert, Sie, Herr Gauweiler, als »Bierzelt-Hegel« oder »Protestmaskottchen«. Kratzt das am Lack, oder nimmt man so was sportlich?
Lafontaine: Bierzelt-Hegel ist doch toll! Was mich betrifft: Den Vorwurf des Narzissmus wird man vielen Politikern immer wieder machen. Der Mensch will nun mal gefallen. Er muss nicht unbedingt zum Wasser gehen, um sich zu betrachten.
Gauweiler: Ich hatte da unterschiedliche Reflexe. Mal ganz gelassen, mal kam ich mir vor wie der Professor Unrat, dem jeder ein Ei auf dem Kopf zerschlagen darf, und er soll dazu noch Kikeriki sagen.
Lafontaine: Kikeriki würden wir beide doch nicht rufen, Peter. Dafür sind wir zu bockig.

Herr Gauweiler, es heißt, Ihre Freigeistigkeit habe sich erst nach einem traumatischen Krankheitserlebnis 1994 herausgebildet.
Gauweiler: Ich weiß schon. Ich hatte damals erst die Oberbürgermeister-Wahl in München verloren, dann kam die Endphase der Kanzleiaffäre, und ich habe getan, als machte mir das alles gar nichts aus. Tatsächlich bin ich Scheibe für Scheibe demontiert worden. Am Abend eines schrecklichen Tages habe ich eine Rede gehalten in Stuttgart, und da wurde ich bewusstlos, bin einfach umgekippt. Intensivstation. Mit 45 Jahren. So kann’s gehen. Erst hieß es Herzinfarkt, dann, nach einiger Zeit, Entwarnung. Lafontaine Das höre ich jetzt zum ersten Mal.

Was hat das in Ihnen ausgelöst?
Gauweiler: Eine Wende. Man denkt als Jungpolitiker, man bräuchte so ein Karriereleben um jeden Preis. In all den Kämpfen hatte ich mich wie der heilige Sebastian gefühlt, durchbohrt von Pfeilen. Ein paar Tage nach Stuttgart habe ich den ganzen Ballast abgeworfen und bin gegangen. Wie es sich für einen echten Populisten gehört, nach einer Großkundgebung, wo ich alles Nötige gesagt habe. Ab dem Zeitpunkt ging’s mir gut. Aussprechen heilt.
Lafontaine: Dass solche Krankheitserlebnisse zu einer starken Selbstreflexion führen, kann wohl jeder nachvollziehen. Ich hatte ja auch solche Erlebnisse in meinem Leben.
Gauweiler: Mehr noch als ich. Oskar hat erlebt, wie sein Körper ausgeblutet ist.

Das Attentat 1990, die Messerstecherin.
Lafontaine: Ja, das war ein Schlüsselerlebnis. Ich versuche seitdem, so zu leben, als könnte es morgen vorbei sein.
Gauweiler: Heute weiß ich: Auch Schwäche kann Stärke sein.
Lafontaine: Das Psychosomatische spielt immer eine Rolle, gerade wenn man unter Druck steht, so wie Peter damals. Man muss eben immer wieder aufstehen.

Helmut Schmidt ist auch nur in seiner Kanzlerzeit häufig bewusstlos geworden. Vergangene Woche ist er gestorben – mit ganzen 96 Jahren.
Lafontaine: Obwohl ich mit Helmut Schmidt – Kernenergie, atomare Aufrüstung – heftige Auseinandersetzungen hatte, habe ich ihn stets geschätzt. Unser Verhältnis war aber immer distanziert, und seit meiner Trennung von der SPD war ich für ihn nur noch der, der das Rudel verlassen hat. Mein politischer Ziehvater hieß Willy Brandt: »Krieg ist die Ultima Irratio.« Gauweiler: Die Geschichte von Oskar und der SPD hat etwas von der Fabel vom Hund und vom Wolf. Der in der Küche domestizierte Hund hört den Wolf heulen, der draußen in der Freiheit auf der Jagd ist. Das Haustier wird ganz still, weil in ihm eine Erinnerung wach wird, was es verloren hat.

Plötzlich – ausgerechnet zu diesem Satz – betritt Sigmar Gabriel den Raum und setzt sich wortlos allein an einen Tisch. Gauweiler steht auf und geht zum Tisch, um Gabriel zu begrüßen. Gabriel frotzelt: »Macht ihr ne neue Partei auf?« Jetzt fasst sich auch Lafontaine ein Herz und geht zu Gabriel. Gauweiler kommt zurück: »Ich hab ihnen gesagt, sie sollen sich mal aussprechen.« Die beiden sprechen nun tatsächlich für ein paar Minuten, zum ersten Mal seit Lafontaines SPD-Austritt. Restaurantgäste zücken ihre Handys, um Fotos zu schießen.


Lafontaine
: (zurückkommend, ironisch) Ein historischer Moment.

Und, alles wieder gut?
Lafontaine: Er war sehr freundlich. Als er hereinkam, hatte ich den Eindruck, er strengt sich an, mich nicht zu sehen. Wenn Gerhard Schröder sich so verhielte, könnte ich das verstehen. Schließlich hat die Gründung der Linkspartei seine Kanzlerschaft beendet.
Gauweiler: Das mit dem Gerhard machen wir dann beim nächsten Mal.

Fotos: Urban Zintel