Die römischen Kaiser prägten das Bild selbst, das sich die Welt von ihnen machen sollte: Auf den Münzen, die sie schlagen ließen, sehen sie daher so aus, wie sie aussehen wollten – stark und machtvoll. Kaiser Augustus zum Beispiel schaute auf seinen frisch geprägten Denaren und Sesterzen noch im Alter von siebzig so aus wie mit dreißig.
Die Münzbilder waren Propaganda. Sie brachten die richtige Botschaft unters Volk: den ewig jungen Herrscher. Und rund um sein Porträt standen in knapper Abkürzung die Großtaten geschrieben, mit denen er für immer in Erinnerung bleiben wollte. Ein Wort war da fast immer dabei: Pater Patriae, Vater des Vaterlandes. So war das selbst dann, wenn der Kaiser nur ein ganz kleiner Kaiser war, einer, der nur ein paar Wochen lang regiert hat. Pater Patriae, Vater des Vaterlandes: Dies ist der Titel, die Aureole, die Legende, die, wenn es die alten Gebräuche noch gäbe, auf den Euro- und den Cent-Münzen mit einem Porträt von Helmut Kohl stehen müsste. Und auf der Rückseite würde ein Spruch prangen, der die deutsche Einheit und die Vereinigung Europas feiert und die großen Verträge, die Helmut Kohl dazu ausgehandelt hat – in Brüssel, Kopenhagen und Maastricht, in Schengen und Nizza. Im alten Rom hieß dieser feierliche Spruch auf den Münzen so: »FELICIUM TEMPORUM REPARATIO«. Es war der Lobpreis über die »Wiederherstellung glücklicher Zeiten«.
Es ist dies ein Lobpreis, der auch Helmut Kohl gebührt, ein Lobpreis, der die Verdienste würdigt, von denen er fürchtet, dass sie sich nicht fest genug eingeprägt haben könnten im Bewusstsein der Deutschen. Kohl fürchtet, dass seine großen Taten verschüttet worden sind von dem Spendenskandal, der nach seiner Amtszeit ans Licht kam.
Kohl hat zwar nicht, wie Monarchen, Münzen von sich prägen lassen. Aber er hat eine neue Währung erfunden: Der Euro, der europäische Dollar, ist vor allem sein Werk. Und doch, dies ist die Angst des alten Kohl, könnte es sein, dass Undank der Welt Lohn ist, dass man seinen Namen nicht mit der europäischen Währung, sondern mit dem »Bimbes« verbindet, also mit dem Geld aus seinen schwarzen Kassen, aus denen er den einen oder anderen Wahlkampf finanziert hat.
Drei Wünsche hat der Held in den alten Märchen und Sagen frei, drei Aufgaben hat er zu bestehen. Zwei der Wünsche, zwei der Aufgaben des Kanzlers Kohl sind Geschichte geworden: Er hat die Wiedervereinigung Deutschlands glücklich gesteuert und er hat die Zukunft Europas ziemlich fest gefügt. Der dritten Aufgabe aber gilt die vergebliche Anstrengung seines Alters: Er hat Memoiren geschrieben, um gegen die angebliche »gigantische Verleumdungskampagne und Geschichtsfälschung« anzuschreiben, um sein vermeintlich wackelndes Bild in der Geschichte wieder zu befestigen.
Obwohl er seine illegalen Spender nie aufdeckte, hat er in diesen Büchern so getan, als habe man ihm den Spendenskandal angetan, um ihn zu beschädigen; die Erinnerungen Kohls sind die Erinnerungen eines sehr selbstgerechten alten Mannes. Aber sein Schreiben und Trachten und Lamentieren ist hier ganz vergeblich – und zwar deswegen, weil die Fehler und die Vergehen, die Kohl vertuschen will, seine Verdienste ohnehin nicht mindern können. Das schafft er nicht einmal selbst. Es geht ja nicht um seine Heiligsprechung und um die Anerkennung eines »heroischen Tugendgrades«, sondern um seinen Rang in der Geschichte. Was ist, ist. Und was ist, bleibt.
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Helmut Kohls Rang wird auch nicht dadurch getrübt, dass ihm Kritik schon immer als Illoyalität galt. Wer ihm nicht folgte, war Gegner und ist es noch immer. Wolfgang Schäuble war das letzte große Opfer des konspirativen Genies Kohl. Er gehörte zu den vielen Weggefährten, die einst in Symbiose mit ihm gelebt und gearbeitet haben, aber dann von ihm abgestraft wurden. Heiner Geißler war der Erste, Schäuble der Letzte. Dazwischen kommen Biedenkopf und Stoltenberg, Albrecht und Blüm; und all diese Symbionten verbindet, dass aus dem Zusammenwirken zum gegenseitigen Nutzen Gegnerschaft wurde.
Helmut Kohl ist ein binärer Mensch: Es gibt Gut und Böse, Freund und Feind – und wer sich von ihm lossagt, war und ist ein »Verbrecher«. Aus dieser Simplizität bei seiner Sicht der Dinge hat Kohl aber auch viel Kraft gewonnen – sie trug zu seinem ungeheueren Selbstbewusstsein bei, das sich zumal in den 16 Monaten bewährte, in denen die deutsche Einheit gestaltet wurde. Auch in seiner großen Zeit fehlten Kohl fast alle Zutaten, die es für Charisma braucht: ideologisch überhöhte Programmatik, mitreißende Rhetorik, funkelnde Intellektualität. Er ist eigentlich ein Anti-Charismatiker. Sein politisches Genie zeigt sich darin, dass er trotzdem zu einem charismatischen Politiker wurde.
Helmut Kohl ist von seiner historischen Bedeutung ergriffen: Er hat in seinen Altkanzler-Jahren ein spezielles Pathos entwickelt, seine Weltgeschichten zu erzählen, und zu diesem Pathos gehörte es, dass es nicht nur die Zuhörer ergriff, sondern ihn auch selbst zu Tränen rührte. Sein Sinn für Geschichte verbindet ihn mit François Mitterrand. Und darum haben sich die beiden Staatsmänner so gut verstanden, auch wenn keiner die Sprache des anderen konnte.
Kohl hätte auch gern Monumente gebaut, große Baudenkmäler, wie sie Mitterrand mitten in Paris errichten hat lassen, um seine Unsterblichkeit in Stein zu meißeln: die Grande Arche, die Grande Bibliothèque, die Opèra Bastille, die Pyramide du Louvre. Es ist vielleicht besser, dass Kohl die Mittel zu solchen Großbauten nicht hatte. Er hat das Land auf andere Weise verändert.
Und er selbst hat sich verändert. Zu seinem 80. Geburtstag sitzt Helmut Kohl, Bundeskanzler von 1982 bis 1998, auf keinem Thron, sondern im Rollstuhl. Er ist ein gebrechlicher alter König, ein Riese außer Dienst, einer, der bei den Ehrungen, die man ihm zuteilwerden lässt, mit Mühe und mit beiden Händen das Glas ergreift und mit großer Anstrengung seinen Trinkspruch formuliert: »Ich hebe das Glas auf die Zukunft, Freunde!«
Es ergeht ihm seit etwa drei Jahren sehr schlecht, noch schlechter, als es einst anderen Großen ergangen ist, Friedrich dem Großen zum Beispiel, der 68 war, als er an d’Alembert schrieb: »Mein Namensgedächtnis schwindet, meine geistige Frische lässt nach, meine Beine sind schwach, ich sehe schlecht: kurz, ich habe Beschwerden wie jeder andere.«
Das Alter hat Helmut Kohl getroffen wie der Blitz die deutsche Eiche, es hat ihn gefällt, es hat ein Wrack gemacht aus einem großen und gewaltigen Mann. Auf den Glanz eines Kanzlerlebens folgte das Elend der Gefangenschaft in einem Körper, der ihm den Dienst verweigert. Früher hat diesem Helmut Kohl die CDU gehorcht, ja auch die Staatsmänner Europas haben ihm gehorcht – jetzt gehorcht ihm der Körper nicht mehr und nicht die Stimme.
Die Zuhörer bei seinen wenigen öffentlichen Auftritten haben Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, wenn er spricht; aber zugleich ist es so, als verstünden sie ihn besser denn je. Er trägt eigentlich nichts mehr vor, er ist nur noch da. Man ist angerührt von der feierlichen Gebrechlichkeit des Altkanzlers.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Er flüsterte ihm ab und an ein gewünschtes Stück ins Ohr, am liebsten La Paloma oder Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt)
Der Staatsmann Helmut Kohl hatte die Gabe, aus Erlebnissen, Erinnerungen und Geschichten Geschichte zu machen, aus Geschichten wie dieser, die er einst im SZ-Interview erzählt hat: »Ich habe einmal eine Rede in Metz gehalten. Das sagte mir der dortige Oberbürgermeister, wie ich war er Jahrgang 1930, dass er in Erinnerung hat, wie man in Metz vom Gehsteig runtergehen musste, wenn ein deutscher Offizier kam.
Das war im Jahr 1943. Und dann hatte ich gesagt, ich habe eine Erinnerung an 1945 in meiner Heimatstadt, wo es dann umgekehrt war. Wir mussten vom Gehsteig runter, wenn ein französischer Offizier kam. Die beiden Städte liegen gerade zweihundert Kilometer auseinander.«
Das sind die Erlebnisse, die Kohls Europapolitik geformt haben. Diese Europapolitik war so lebendig, wie es Kohls Erinnerungen waren.
Wenn er davon erzählte, klangen zwar die Sätze wie Formeln und Phrasen, die seine Zuhörer auch bald auswendig aufsagen konnten: »Ich habe den Krieg mit all seinen Schrecken und seinem Grauen erlebt und dann als 15-Jähriger das Kriegsende. Alle meine Erfahrungen dieser Zeit haben mein weiteres Leben tief geprägt – und mir wurde klar, dass die Zeit der Kriege in Europa beendet werden muss.«
Konrad Adenauer hatte auch so simpel formuliert. Aber in dieser Simplizität steckte die Kraft Kohls zu einer furiosen und grandiosen Europapolitik. Wenn er so redete, war das oft ziemlich selbstgerecht, aber gleichwohl ein Ereignis, weil man spürte, dass da einer das politische Geschäft nicht nur als Geschäft, sondern als Aufgabe verstand. Und an den besten Stellen seiner Reden war es so, dass man glauben mochte, er lese sie sich von seiner Seele ab.
Von Kohls Kraft ist nichts mehr übrig geblieben, vom Pathos bleibt seine griechische Urbedeutung übrig: Leiden. Und es bleibt ihm die Seligkeit der Erinnerung.
Der 80. Geburtstag steht bevor. Vielleicht zürnt er erinnerlich darüber, dass es den ehemaligen innerparteilichen Gegnern seines Alters gesundheitlich so viel besser geht als ihm. Kurt Biedenkopf, sein ehemaliger Generalsekretär, reist von Vortrag zu Vortrag. Heiner Geißler, auch ehemaliger Generalsekretär, sitzt, zusammengeschraubt nach allerlei Unfällen und einem Absturz mit dem Gleitschirm, putzmunter, streitbar, streitlustig und altersweise zugleich, in jeder zweiten politischen Fernsehdiskussion. Und der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, von Herkommen und Habitus der Gegentyp zu Kohl, wird bald, noch immer beneidenswert fit, 90 Jahre alt.
Helmut Kohl aber ist ein gesundheitliches Wrack; aber er ist der einzige Deutsche seiner Generation, der Weltgeschichte geschrieben hat.
In seinen guten Zeiten hatte Helmut Kohl nicht nur einmal, so wie andere Leute, sondern gleich zweimal im Jahr Geburtstag. Der eine Geburtstag war sein Geburtstag, der andere war der Parteitag der CDU. Wenn dort der Tag vollbracht und Helmut Kohl zum zehnten, elften oder zwölften Mal als Parteivorsitzender wiedergewählt worden war, wenn der Kanzler also mit sich, mit seiner Partei, mit Deutschland und mit der Welt im Reinen war, dann begann dieser Geburtstag – und zwar so: Kohl setzte sich an eine Orgel, die auf der kleinen Bühne in der großen Halle stand.
Es handelte sich um ein weiß poliertes elektronisches Instrument, auf dem man, je nach Gusto, eine Streichergruppe, eine Bläsergruppe oder auch ein ganzes Sinfonieorchester imitieren konnte. Nein, Helmut Kohl spielte es nicht selbst; er saß strahlend, breit und mächtig vor der Tastatur neben Franz Lambert, dem Orgelspieler, und er flüsterte ihm ab und an ein gewünschtes Stück ins Ohr, am liebsten La Paloma oder Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.
Wenn Lambert einen hohen Ton brauchte, musste Lambert an Helmut Kohls Bauch vorbeilangen. Es herrschte eine Stimmung wie bei einer großen Hochzeit auf dem Land und Helmut Kohl war stumm vor Stolz und Glück, wie ein Feuerwehrkommandant, der gerade seine älteste Tochter gut verheiratet hat. Einen »pfälzischen Menhir« hat ihn einmal ein Freund genannt.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Ohne dass er an der Reihe war, in das Mikrofon geschrien, alle zusammengeschissen; und alle haben auf ihn gehört. Er brüllte ›François‹ – und Mitterrand, schon gezeichnet von schwerer Krankheit, zuckte zusammen und nickte. Er hat diese Kerle beherrscht.«)
Um diesen Menhir herum, die laienhafte Übersetzung ist Hinkelstein, drehte und drängte sich nun alles, Delegierte, Ministergattinnen, Kreis- und Bezirksvorsitzende; es wurde getanzt. Er kannte sie fast alle, er wusste alles über sie, alles jedenfalls, was er wissen musste, um Fäden zu ziehen, um in allen Parteidingen zu dirigieren und zu intrigieren.
Bei dem einen oder anderen mag er sich bei dieser Gelegenheit vorgenommen haben, ihn im Wahlkampf mit einer finanziellen Zuwendung aus seiner schwarzen Kasse zu bedenken. Und viele von denen wiederum, die er beim Vorbeitanzen betrachtete, überlegten still bei sich, wann der Alte wohl plant, den Laden zu übergeben; aber das tat und tat er nicht.
So war das jahrelang; so war das Geburtstag für Geburtstag. Es war wie bei einem immerwährenden Weinfest: eine dahindudelnde Musik, eine schunkelnde Partei, ein lächelnder Kanzler. Es war seine Welt, die Pfalz, sie war überall dort, wo er war, er brachte sie mit. Hier hörte er des Dorfs Getümmel, hier war seines Volkes wahrer Himmel. Hier war die Tankstelle des Staatsmanns Helmut Kohl. Und bei den europäischen Ratssitzungen ging es am Schluss zwar nicht zu wie bei einem Geburtstag, aber doch wie bei einem Klassentreffen mit Kohl als Klassensprecher und Organisator.
Kohl hat, so erinnert sich einer, der dabei war, »ohne dass er an der Reihe war, in das Mikrofon geschrien, alle zusammengeschissen; und alle haben auf ihn gehört. Er brüllte ›François‹ – und Mitterrand, schon gezeichnet von schwerer Krankheit, zuckte zusammen und nickte. Er hat diese Kerle beherrscht.« Diese Kerle, die Staatsführer Europas, waren »seine Kerle«. Und er konnte davon glucksend, bewegt, pathetisch, feierlich, stolz und unglaublich selbstzufrieden reden.
Der Staatsmann Helmut Kohl war ein pfälzisch-europäischer Berserker – Europas Berserker, Europas Christophorus. Er ist ein Vater des neuen Europa.
Diese Geburtstage und Klassentreffen sind eigentlich noch gar nicht so lange her, an die 15 Jahre. Rüttgers und Röttgen und Pofalla und Merkel waren damals auch schon da; aber vorstellen kann man sich das eigentlich schon gar nicht mehr.
Nicht viele der ganz alten und noch nicht so ganz alten Weggefährten dürfen zu Kohl; seine zweite Ehefrau, Maike Kohl-Richter, bewacht den Zugang. Ähnlich hat es seinerzeit Brigitte Seebacher-Brandt gehalten, als sie 1983 Willy Brandt geheiratet und dann bis zu seinem Tod 1992 mit ihm zusammengelebt hatte. Maike Kohl-Richter kümmert sich so liebevoll zärtlich um den kranken Alten, dass seine nur noch wenigen getreuen Freunde und Besucher sagen, dass er ohne sie wohl nicht mehr leben würde.
Es ist viel gerätselt und geschwätzt worden über diese letzte Beziehung Kohls: Er war 78, sie 44, als sie im allerengsten Kreis im Heidelberger Universitätsklinikum geheiratet haben. Aber vielleicht ist das ein Stücklein ähnlich wie im Brandner Kasper und das ewig’ Leben. Als zum Brandner Kasper der Tod kam, Boandlkramer heißt er dort, füllte der ihn mit Kirschwasser ab und luchste ihm noch viele Erdenjahre ab. Wer mit Thatcher, Bush senior und Gorbatschow höchst erfolgreich verhandelt hat, kann das vielleicht auch mit dem Boandlkramer.
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Die Beziehung zwischen Heribert Prantl, 56, und Helmut Kohl hat auch eine historische Dimension: denn sie beginnt nicht erst irgendwann in den Neunzigerjahren, als der vormalige Richter Prantl politischer Journalist geworden war. Sie beginnt viel früher, genauer gesagt im Jahr 1329, als Bayern seinen nordöstlichen Teil an die Rheinpfalz abgab. Am Abendtisch des CDU-Parteitags zu Erfurt, das war kurz nach der Abwahl Kohls als Kanzler, entspann sich eine heftige Diskussion zwischen dem Pfälzer Kohl und dem Oberpfälzer Prantl über die historischen Wurzel der jeweiligen Heimatorte Oggersheim und Nittenau. Ergebnis: Beide lagen jahrhundertelang in ein und demselben Herrschaftsgebiet. Prantl hat seinen Text zum 80. Geburtstag also auch in landsmannschaftlicher Verbundenheit geschrieben.
Konrad R. Müller / Agentur Focus (Fotos)