Eigentlich wollten die Bewohner der südfranzösischen Stadt Sète vor fast 350 Jahren ein Reiterturnier veranstalten. Jenen klassischen Wettkampf, bei dem sich Kontrahenten mit Lanzen vom Pferd stoßen.
Dumm nur, dass es in Sète damals kaum Pferde gab - sie wurden für die Feldarbeit gebraucht und waren eher Ackergäule als Schlachtrösser. Um sich zu duellieren, mussten die Männer also auf das zurückgreifen, was es in der Küstenstadt am Mittelmeer reichlich gibt: Wasser und Boote.
So entstand im Sommer 1666 die »Fête de la Saint Louis«, ein Spektakel, das ähnlich funktioniert wie ein Ritterduell, nur eben auf der wichtigsten Wasserstraße der Region, dem Canal Royal: Zwei Schiffe rudern aufeinander zu, hinten stehen die raubeinigsten Kerle der Gegend und versuchen, ihren Gegner mit einer Lanze vom Boot zu schubsen. Fischerstechen nennt sich der Brauch, es gibt ihn auch in Deutschland. Doch nirgends wird dieser Sport so ernst genommen wie in Sète, wo die Wasserschlacht jedes Jahr stattfindet. Kinder trainieren ab dem vierten Lebensjahr, um einmal dabei sein zu dürfen. Beim großen Finale im August stehen Tausende Zuschauer am Kanal, essen frittierte Tintenfische und bejubeln die jouteurs in ihren strahlend weißen Uniformen. Der Sieger wird gefeiert wie ein Held, sein Name wird auf ein Schild im Museum graviert.
Früher hatte das Duell in der Hafenstadt ganz praktische Gründe, erklärt Sophie Yates von der Tourismusbehörde: »Hier gab es viele Zugezogene, Händler und Ortsfremde - Leute also, die ihren Platz in der Gesellschaft erst finden mussten.« Und was könnte die Stadt-Hierarchie besser regeln, als ein jährliches Duell?
Wenn man sich die Bilder anschaut, die der Fotograf Christopher Anderson vom Finale der Fischerstecher gemacht hat, könnte man meinen, dass es bei dem Wettkampf auch heute noch um mehr geht als um Applaus und eingravierte Namen. In den Blicken der Lanzenstecher erkennt man diese Konzentration, die nur bei archaischem Kräftemessen zu beobachten ist: Elfmeterschützen schauen so. Stierkämpfer. Ringer. Und die Verlierer fallen so dramatisch ins Wasser und schlagen sich die Hände vors Gesicht, als würde beim Fischerstechen auch heute noch bestimmt, wer in der Stadt etwas zu sagen hat.
Auch wenn es aussieht wie ein Haudrauf-Sport: Die Regeln sind in einem vierzigseitigen Buch beschrieben, von der Größe der Boote (acht mal zwei Meter) und den Instrumenten der Bordkapelle (Oboe und Trommel) bis zu den Stellen des gegnerischen Schildes, die man treffen darf, ohne disqualifiziert zu werden. Auch das Essen der jouteurs ist seit Ewigkeiten gleich: Pasta mit Fleischsoße, genannt »Macaronade«. Nichts für Menschen auf Diät, aber ohne anständiges Kampfgewicht geht es nicht. Weniger als hundert Kilo wiegt kaum einer.
Das Idol des Sports heißt Louis Vaillé, Spitzname »Mouton«, auf Deutsch: Rammbock. Er hat vor mehr als hundert Jahren legendäre acht Siege hintereinander geholt, nach ihm wurde in Sète eine Straße benannt. Und ein neuer Star ist schon in Sicht: Der 150-Kilo-Mann Aurélien Evangelisti, er hat letztes Jahr gewonnen, ihn kennt in Sète jedes Kind. »Ihn einen Popstar zu nennen wäre untertrieben«, sagt Sophie Yates. »Für uns ist er eine Art Gott.«
Fotos: Christopher Sanderson