Draußen baden

Unsere Autorin (eine Österreicherin) hat ein Leben lang von einem Häuschen am See geträumt. Jetzt hat sich ihr Traum erfüllt (ausgerechnet im Berliner Umland).

Vor einigen Jahren haben wir ein Haus am See gekauft. Es ist ein hässliches, plumpes Häuschen an einem See, den niemand kennt. »An welchem See denn?«, fragen manchmal insistierend Berliner, die sich rühmen, alle bedeutenden und weniger bedeutenden Seen der weiteren Umgebung mindestens bis »Meck-Pomm« zu kennen, und die mit Ranglisten der Schönheit und Wasserqualität ebenso aufwarten können wie mit den letzten Geheimtipps in Sachen garantierter Gottverlassenheit. Aber an unserem See scheitern sie, »ach Mensch, das Urstromtal, da nennt sich ja jede Pfütze gleich See«.

Unsere schmale, aber langgestreckte Pfütze liegt so versteckt im Wald, dass es beim ersten Mal nicht reichte, sie auf einer Straßenkarte zu identifizieren. Wir mussten im Ort fragen und verfuhren uns trotzdem noch zweimal. In einem meiner Bücher gibt es eine Stelle, bei der die Menschen, die zu den Lesungen kommen, manchmal lachen. Die Protagonistin hat auch ein Haus am See, und wenn sie per E-Mail ihre Freunde einlädt, schreibt sie in der Wegbeschreibung: »Wenn ihr ganz sicher seid, falsch zu sein, dann seid ihr goldrichtig.« Ich habe zwar noch nie so eine E-Mail geschrieben oder diesen Satz zu einem meiner Freunde gesagt, trotzdem ist er gewissermaßen autobiografisch, denn ich muss ihn im Zusammenhang mit unserem Häuschen gedacht haben. Und das zeigt ganz nebenbei wieder einmal, um wie viel verschlungener die Wege zwischen Realität und Fiktion sind, als die Leute immer glauben.

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Von frühester Kindheit an verbindet sich für mich das sommerliche Paradies mit Bildern von kühlen, grün umsäumten Seen. Nicht vom Meer, nein. Das Meer war ein Statussymbol, das man gesehen haben musste, da Österreich bekanntlich seit fast hundert Jahren ein Binnenstaat ist. Und »Binnenstaat« hörte sich für mich als Schulkind schon so an wie »Land zweiter Klasse«. Nie habe ich den Verlust der Monarchie so bedauert wie damals, als ich frisch von ihrer Existenz und Ausdehnung erfuhr. Trotzdem lernten wir das Meer bald kennen, unser verlorenes, das Adriatische Meer, denn alle österreichischen Eltern, die es sich irgendwie leisten konnten, reisten in den Siebzigerjahren mit ihren Kindern in stundenlangen Autofahrten an die Adria, nach Italien oder Jugoslawien. Diese Urlaube waren ein immens anstrengendes Dorado aus Hitze, Sand, Eis, Spaghetti und Sonnenbrand, schön, aber auch gleißend fremd.

Doch nur am See lernte man schon als Kind, dass ein Hauptbestandteil des Glücks gerade in seiner verdammt kurzen Verweildauer liegt. Dass man sich nach dem Glück vor allem sehnt und dass man es, wenn man es endlich hat, nie auskosten kann, genau wie einem im Hochsommer das Eis unaufschleckbar in der Hand zerrinnt.

Ein Beispiel: Vierzehn Tage Familienurlaub am Ossiacher See, davon die ersten zehn Tage verregnet, die Eltern haben sich wahrscheinlich angegiftet, meine Schwester und ich haben uns wahrscheinlich geärgert, gezwickt, geprügelt und konnten nur mit den damals üblichen Ohrfeigen auseinandergetrieben werden; manchmal, wenn der Regen angeblich »ein bisserl nachgelassen« hatte, wie meine sich zwischendurch in den Zweckoptimismus flüchtende Mutter sagte, mussten wir im Regenumhang in den tropfenden Wäldern Eierschwammerln oder Heidelbeeren suchen. Aber die meisten Details dieser Elendsperioden habe ich vergessen.

Sommerfrische

Unvergesslich jedoch sind die ersten Morgenstunden nach dem Wetterwechsel, wenn die Wiese noch feucht, das Wasser noch schwarz, die Sonne noch unscharf wie ein zerlaufener Dotter war. Wenn mit klatschenden Holzrudern die ersten Boote erschienen, wenn die ersten Verrückten, meist ältere Männer mit sehnigen Körpern und Badehauben, zu schwimmen begannen, wenn die Luft langsam wärmer wurde, wenn man am Steg saß und mit den Zehen durchs Eiswasser Linien zog. Das war das kristallklare Glück, das Aufblitzen eines Splitters vom Paradies, und mit dem dumpfen, tierhaften, sand- und sonnenölverschmierten Vegetieren unter südlicher Sonne nicht zu vergleichen.

Sommer ist für mich: der See. Er bedeutet all das, was das Leben in unseren Breiten ansonsten nicht vorsieht – die Unbeschwertheit, mit fast gar nichts am Leib herumzulaufen, keine Jacke, keinen Pullover, keinen Schirm, keinen Schutz, nichts »zur Sicherheit« dabeizuhaben. Diese rein körperliche Unbeschwertheit führt, für die paar kostbaren Tage im Jahr, zu einer tiefen seelischen Befreiung (jedenfalls bei mir; zumindest wenn die Kinder nicht streiten und der Mann das Haus nicht umbauen will und die Eltern gesund sind und das Telefon nicht läutet und die WM vorbei ist und keiner mehr einen sommerlichen Text von mir will). Sind Seele und See eigentlich etymologisch verwandt?

Auf jeden Fall sind »Sommerfrische« und »See« Synonyme. Die Sommerfrische ist ohne Wasser (Erfrischung!) undenkbar. Und die Sommerfrische ist zwar vermutlich ein furchtbar konservatives Relikt aus vergangenen Zeiten und in andere Sprachen so schwer zu übersetzen wie »Sehnsucht«. Aber sie ist das glatte Gegenteil dessen, was inzwischen als weltweit gültiges Bild vom Urlaub im Umlauf ist, nämlich exhibitionierte Brüste und glänzende Muskeln, alles braun gebrannt, darauf und darin Tätowierungen und Piercings, dazu Musik, bunte Cocktails, schreiend gute Laune, und das alles vor Fototapeten von Sand, Palmen und Meer in undefinierbarer, also auswechselbarer Lage.

Sommerfrische ist das Gegenteil vom Dom-Rep-Rap, ob der nun auf Mallorca, in Caorle oder Antalya spielt. Es ist Badekleidung ohne Sex-Appeal, Sonnenschirm ohne Werbung, Strand ohne Sand und Disko, Wasser ohne Salz, Hitze, na ja, sagen wir lieber: Wärme ohne sofortige Gesundheitsgefährdung. Es ist Freizeit mit Regenmöglichkeit, ja, mit Regenwahrscheinlichkeit, und daher die einzig wahre Übung in innerer Ruhe. Kein Rausch, sondern freudige Demut, grundiert mit Melancholie.

Es gibt die saftigen, reichen, beinahe zu prächtigen Seen meiner Kindheit, die Kärntner Seen oder jene des Salzkammerguts, in Deutschland vergleichbar mit Chiemsee und Starnberger See. Das sind Orte wie große Symphonien, hinten gewaltige Landschaftskulisse, davor resche Dirndlträgerinnen, Schnitzel und Biere stemmend, im Gastgarten. Es gibt aber auch, wie kleine Etüden für die linke Hand, die kargen, armen Seen, umsäumt nur von Kiefern und Granitsteinbrüchen, daneben ein Stand  mit Eskimo-Eis. So ist es im Waldviertel, nordwestlich von Wien, an der tschechischen Grenze. Dort trieb ich in meinen frühen Zwanzigern an jedem heißen Wochenende im Karpfenteich vor dem Haus meines Bruders glückstrunken auf dem Rücken und versuchte, mir mein künftiges Leben vorzustellen.

Mein damals künftiges Leben, auf das ich jetzt ja schon teilweise zurückblicken kann, bestand, wenig überraschend, aus sehr viel Unwichtigem und wenig Wichtigem. Zum definitiv Wichtigen gehörte die Entdeckung eines vergleichbaren Sees (samt Haus) in Deutschland, diesem mir zuerst so fremden Land. Erst als ich begriff, dass Brandenburg ein ebenso armes, karges, melancholisch-schönes, aber immerhin klimatisch wärmeres Waldviertel ist, konnte ich mich in Berlin sicher niederlassen.

Ein Haus am See

Und so hat das plumpe kleine Haus uns gefunden: Indem es, auf einer Internet-Immobilienseite unter zirka fünfzig anderen fingernagelgroßen Hausfotos unübersehbar sein ehemaliges Kneipenschild (»Seeblick«) hochhielt, sodass wir es »nur zum Spaß« anklickten. Und dann den See sahen.

Da wir zum ersten und vermutlich letzten Mal in unserem Leben ein Haus kauften, waren wir erfüllt von einem Misstrauen, das genauso groß war wie unsere Inkompetenz, es baulich zu beurteilen: »Warum steht es so lange leer?«, fragten wir uns und den Makler, der übrigens für diesen Beruf nicht geboren schien, so gleichgültig war ihm alles. »Für die Ossis zu teuer, die wollen Datschen«, murmelte er, »und die Wessis wollen was Repräsentatives, mit Fachwerk oder gleich ’n Herrenhaus.« Selbst diese Begründung hat uns bezaubert, ihre wurschtige Aufrichtigkeit, und die Tatsache, dass auf der ganzen Welt nur wir zu diesem Haus zu passen schienen.

Nun bewohnen wir es den achten Sommer. Die Bilanz ist durchwegs positiv, im umfassend unberechenbaren See-Sinn. Man hat selten Zeit, es zu genießen. Entweder ist etwas kaputt, und man muss es aufwendig reparieren. Oder es ist seit langer Zeit nichts kaputtgegangen, ein zwingender Anreiz, endlich mal wieder etwas zu verbessern, zu erneuern, zu streichen oder umzubauen. Dabei geht bestimmt irgendetwas aufwendig kaputt. Oder der Sommer ist komplett verregnet, was jedoch selten vorkam, meistens herrscht hier extreme Trockenheit, die höchste Stufe der Waldbrandgefahr. Die Würstchen werden geruchsintensiv am Herd gebraten, und der teure Grill bleibt im Keller.

Je schöner das Haus wurde, zumindest innen, desto hinfälliger wurde der See. Vor vier Jahren ist er ganz gekippt (Blaualgen), nur er allein, die kleine, unbekannte Pfütze mitten in Brandenburg, das sich der ständig steigenden Wasserqualität all seiner Seen rühmt. Warum das passiert ist, weiß keiner. Die Menschen im Ort jammern und erzählen von der herrlichen Zeit vor fünfzig Jahren, als es noch ein Strandbad mit Sandstrand gab, genau wie am Wannsee. Die lokalen Behörden wissen nicht, was sie tun sollen, da sich der Verursacher leider nicht von selbst meldet. Das Land Brandenburg ist nicht zuständig, da der See in Privatbesitz ist. Der Privatbesitzer hat, einen See weiter oben, ein gigantisches Hotel mit »Wellness-Spa-Bereich« gebaut, für den ist ein gesunder See eher zweitrangig.

Zum Glück gibt es andere Seen und Teiche in der unmittelbaren Umgebung, an die wir unsere Kinder zum Schwimmen chauffieren können. Zum Fahrradfahren sind sie zu faul. Ich bin vierzig geworden und beginne jetzt Sätze manchmal mit »In meiner Kindheit hätte man sich nicht erlauben können …«. Zum runden Geburtstag haben mir meine Freunde ein Ruderboot geschenkt, dessen Holzruder theoretisch leise klatschen. Zurzeit ist es mir zum Rudern zu heiß, und abends sind die Mücken infernalisch. Wir übergießen uns mit Autan, am Gürtel baumelt die Zeckenzange, wir braten die Würstchen in der Pfanne, wir chauffieren die Kinder zu fremden Seen, und trotzdem …

Und trotzdem geht nichts über den Sonnenuntergang, der die Stämme der Kiefern rosa färbt wie Schneewittchens Wangen. Nichts über die Stille und Einsamkeit, nichts über das penetrante Hochzeitsgeschrei des Kuckucks im Früh-ling. Nichts über die zwanzig putzigen Fledermäuse, die vorgestern Abend aus dem beleuchtbaren »Seeblick«-Schild ausgezogen sind, unter Hinterlassung erklecklicher Mengen an Fledermaus-Kot auf unseren Fensterbrettern. Wir urlauben nicht nur, wir leben hier mitten im Wald, und das Leben ist nun mal kein reiner Genuss. Aber leichter wird es in der Sommerfrische, für die Seele, am See.

Alle, die es jetzt auch ans Wasser zieht, legen wir acht Wanderwege ans Herz, auf denen man herrlich ins Schwimmen gerät.

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