Jetzt ist sie Geschichte, die 20. Fußballweltmeisterschaft in Brasilien. Ein weiteres Turnier ist gespielt, hat seine emblematischen Bilder produziert, wie den waagerecht schwebenden van Persie beim Flugkopfball, die hängenden Köpfe der entzauberten Spanier oder den Biss des uruguayischen Stürmers Luis Suárez. Für die heute Sieben- oder Neunjährigen wird diese WM vielleicht einmal die erste sein, an die sie sich in vereinzelten Bildern und Splittern erinnern können. Denn das ist für jeden Menschen, dem Fußball etwas bedeutet, eine Zäsur: die Schwelle, welche die wirklich erlebten Welt- und Europameisterschaften von den früheren scheidet, die man nur aus nachträglich gesehenen Bildern kennt. »Was ist deine erste WM?« – eine Jahreszahl, die für manche fast so tief im Bewusstsein verankert ist wie das eigene Geburtsdatum.
An den Großereignissen der Welt- und Europameisterschaften entlang lässt sich das eigene Leben erzählen, mit einem Anfang, dessen Verschwommenheit natürlich auf das weit zurückliegende Ereignis weist, vielleicht aber auch auf die Müdigkeit des Kindes, damals vor dem Fernseher zu nachtschlafender Zeit. Das Elfmeterschießen im EM-Finale 1976 zwischen Deutschland und der ČSSR: Es sind nur ganz wenige Augenblicke, die mir davon in Erinnerung geblieben sind. Hoeneß’ Schuss in die Wolken, das schneidende Gefühl der Enttäuschung, doch bevor ich mir über die Folgen dieses Missgeschicks wirklich klar wurde, stand schon der letzte Spieler der Tschechoslowaken am Elfmeterpunkt, der etwas mürrisch aussehende, schnauzbärtige Kapitän, »der Panenka«, wie mein Vater ehrfürchtig sagte. Und dann geschah etwas Seltsames: Der Schütze im roten Trikot lief an, Sepp Maier warf sich in eine Ecke, doch der Ball nahm eine Flugbahn ins Tor, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Lag es an meiner Übermüdung? An meinem Platz auf der Couch etwas schräg zum Fernseher? Ich verstand jedenfalls nicht gleich, was geschehen war. Erst in der Wiederholung löste sich das dreiste Unterfangen auf, diese neue, demütigende Variante des Elfmeterschusses, die seither seinen Namen trägt, der »Panenka-Elfer«, bei dem, nach einem schnellen Anlauf, der Ball einfach ganz leicht in die Mitte des Tores gelupft wird (gechipt, wie man seit ein paar Jahren sagt). Bis heute wird diese riskante Methode erfolgreich kopiert, manchmal auch in entscheidenden Spielen, wie von Andrea Pirlo bei der Europameisterschaft 2012 im Elfmeterschießen gegen England.
Mit dieser fragmentarischen Szene, herausgelöst aus dem restlichen, für mich vollständig getilgten Turnier von 1976, beginnt meine Erinnerung an den Fußball. Die Weltmeisterschaft in Argentinien dann, zwei Jahre später, ist mir schon als durchgängiges Ereignis im Gedächtnis, vom bleiernen, torlosen Eröffnungsspiel der Deutschen gegen Polen bis zum Finale, in dem mich der von weißen Papierfetzen und Konfetti übersäte Rasen des Stadions in Buenos Aires faszinierte, auf dem Mario Kempes die Holländer in der Verlängerung niederrang. Meinen Schreibtisch im Kinderzimmer beklebte ich nach und nach mit Panini-Bildern (warum ich kein Album besaß, weiß ich nicht mehr), und ich erinnere mich vor allem an die Trikots der Peruaner, an den diagonalen roten Streifen auf dem weißen Hemd, der die Spieler wie eine noble Schärpe zierte.
Seither bilden die großen Turniere alle zwei Jahre und die Platzierungen der deutschen Mannschaft einen verlässlichen Hintergrundrhythmus des eigenen Lebens. In schlaflosen Nächten oder auf langen Reisen gehe ich diese Zahlenreihe manchmal durch, eine besonders beruhigende Art des Schäfchenzählens: WM-Zweiter 1966, WM-Dritter 1970, Europameister 1972, Weltmeister 1974, EM-Zweiter 76, Europameister 80, WM-Zweiter 82 und 86, EM-Halbfinalist 88, Weltmeister 90, EM-Zweiter 92, Europameister 96. Zumindest drei Jahrzehnte lang hat der deutsche Fußball eine nahezu lückenlose Erfolgsgeschichte hervorgebracht. Nicht dass das gute Abschneiden der Nationalmannschaft unmittelbare Auswirkungen auf das Glück des einzelnen Zuschauers gehabt hätte; aber in der Regelmäßigkeit der Erfolge formulierte sich zumindest ein Versprechen: dass das eigene Leben erzählbar sei. Jeder weiß, wo er am 11. September 2001 war oder am 22. November 1963 oder am 9. November 1989; für Menschen, die Fußball lieben, ist die kollektive mit der persönlichen Erinnerung auf ähnliche Weise verbunden, wenn sie an die Finals von 1974, 1980, 1990 zurückdenken.
Von 1998 bis 2004 wurde die Erfolgskette der Deutschen bekanntlich brüchig. Ein »Aus in der Vorrunde« ließ sich nicht ohne Weiteres in das große Gefüge integrieren, und der zweite Platz bei der Weltmeisterschaft 2002 wirkte eher wie ein zufälliges, von Losglück begünstig-tes Intermezzo. Seit dem »Sommermärchen« von 2006 scheint die Erzählung des deutschen Fußballs wieder an Stabilität gewonnen zu haben, wobei es ein befremdliches Zeichen gegenwärtiger Eventseligkeit ist, dass dritte Plätze bei Weltmeisterschaften inzwischen mit Empfängen und Volksaufläufen gefeiert werden, wo in den Achtzigerjahren noch eine Finalniederlage für karge Niedergeschlagenheit bei der Rückkehr sorgte.
Abseits von diesen kanonischen Spielen und Szenen aber kam es kaum einmal zur Wiederholung des einmal Gesehenen.
Jede Welt- und Europameisterschaft ist mit bestimmten Orten verknüpft, die im Lauf der Wochen zur regelmäßigen Anlaufstelle wurden und die Erinnerung an das Ereignis dann auf Jahre hinaus prägte. Die entscheidenden Szenen der ersten bewusst erlebten Turniere sind alle noch an den Fernseher im Wohnzimmer zu Hause gebunden, das Elfmeterschießen zwischen Deutschland und Frankreich im Halbfinale 1982 zum Beispiel, der verzweifelte Stielike, der nach seinem Fehlschuss von Littbarski getröstet wird. (Die Fernsehkamera verharrte damals so lange auf den beiden, dass der Elfmeter des nächsten Franzosen nicht zu sehen war; dass der Spieler verschossen hatte, erkannte man nur an der euphorischen Reaktion Littbarskis.) Später dann blieben andere Orte in Erinnerung, das spektakuläre Achtelfinale 1990 gegen die Holländer auf einer Saisonabschlussreise mit dem eigenen Fußballverein nach Ibiza, fast betäubt von zu viel Sonne und nachmittäglichen Lumumba-Cocktails; 1998 die Vorrundenspiele in einem großen Biergarten mit viel zu hellen, fast unsichtbaren Leinwandbildern, die den Abscheu vor Public Viewing schon vor dessen allgemeiner Etablierung und Namensgebung für alle Zeiten einpflanzte. Und ganz im Gegenteil dann das 4:0 gegen Argentinien 2010, alleine in einem Pensionszimmer am Bodensee, als letzte Bestätigung des Verdachts, dass das wahre Glück, ein episches Fußballspiel im Fernsehen anzusehen, so wenig Gemeinschaft, Tageslicht und kollektiven Jubel benötigt wie ein eindringlicher Film im Kino.
Bis vor etwa zehn Jahren gab es nur wenige Gelegenheiten, die eigenen Erinnerungen an alte WM- oder EM-Spiele aufzufrischen. Im Bücherregal standen vielleicht ein paar von Dieter Kürten oder Harry Valérien herausgegebene Fotobände über vergangene Turniere, zur Einstimmung auf das kommende zeigte das Nachtprogramm im Fernsehen die immer gleichen »Klassiker« deutscher WM-Partien. Abseits von diesen kanonischen Spielen und Szenen aber kam es kaum einmal zur Wiederholung des einmal Gesehenen. Diese Situation hat sich elementar gewandelt. Das totale Archiv des Internets hält inzwischen für beinahe jeden Moment der jüngeren WM- und EM-Geschichte die augenblickliche Verifizierung bereit. Alle Unsicherheiten des eigenen Gedächtnisses können bei Youtube mit einem Knopfdruck behoben werden: War Antonín Panenkas Schnurrbart 1976 wirklich so struppig? War das Stadion in Buenos Aires beim Finale 1978 so übersät mit weißen Papierfetzen, wie ich es vor mir sehe, und woraus bestanden diese Fetzen genau? Und hatte Littbarski tatsächlich keine Schienbeinschoner unter den Stutzen, als er gegen Frankreich 1982 zum Elfmeterpunkt schritt?
Dieser unentwegte Abgleich mag grobe Erinnerungsfehler tilgen – in erster Linie ebnet er aber die subjektiven Imaginationen ein. Und sind es nicht gerade die Schleier und Unschärfen des Gedächtnisses, die das für alle Zugängliche im Lauf der Zeit zum Eigenen machten, ungefähr so wie man beim Durchblättern alter Panini-Sammelalben heute gerade die einst so schmerzlich empfundenen Lücken wertschätzt? Ein vollständig gefülltes Album würde sich nicht mehr von einem Muster der Firma unterscheiden. Für die Vorstellungen vom Fußball hat das Internet vielleicht ähnliche Konsequenzen gehabt wie für die Vorstellungen vom Sex: Jede Option, jeder Wunsch ist sofort abrufbar; es gibt im Netz zahllose Filmschnipsel mit den spektakulärsten Toren, den härtesten Fouls, den haarsträubendsten Torwartfehlern; eine Art Fußballpornografie in Nahaufnahme, die Cumshots der Treffer und Eruptionen.
Die Welt- und Europameisterschaften sind das Ordnungsschema der eigenen Biografie – und ist das vielleicht nicht längst der eigentliche Grund, warum wir so viel Fußball schauen? Instinktiv würde jeder behaupten, dass es um die spannenden Partien geht, um die schönen Tore, die spektakulären Szenen, also um die Essenz dieses Sports. Doch man muss sich nur in Erinnerung rufen, was selbst nach den größten Spielen und Erfolgen fast ohne Verzögerung geschieht. Sogar nach dem Triple-Gewinn der Bayern vor einem Jahr etwa formulierten Spieler und Vorstand noch am Abend des Champions-League-Sieges, dass man bei aller Glückseligkeit doch weiter auch »nach vorne schauen müsse«, sich »auf den Erfolgen nicht ausruhen« dürfe. Ähnliche Aussagen wird man mit Gewissheit auch vom Sieger des Finales von übermorgen bald nach dem WM-Triumph hören können. Ein Innehalten ist nicht vorgesehen. Das einzelne Spiel, das einzelne Tor – sei es auch noch so entscheidend – tritt zurück vor dem Gefüge der Daten, der Liebe zur Statistik; die reine Gegenwart des Fußballs verblasst hinter zelebrierten Erinnerungen an das Vollbrachte und verlässlichen Planungen des Kommenden. Das ist aber nichts, worüber man traurig werden sollte. Denn auch für uns Zuschauer mag der Augenblick eines grandiosen Tores zwar kurzzeitige Euphorie auslösen. Noch mehr bedeutet jeder Treffer, jeder Sieg, jede Weltmeisterschaft aber im Rückblick – als weiteres Glied einer Kette von Erinnerungen, die unser Leben ausmacht.
(Fotos: dpa)