Endlich ist sie wieder da, die märchenhafte Kombination aus Sommer und Fußball, und mit ihr alles, was uns für ein paar laue Abende das Gefühl gibt, als wäre die Welt nicht nur in Ordnung, sondern schön, und wir nicht einigermaßen zufrieden, sondern glücklich: Bierflaschen, die in Badewannen vor sich hin kühlen, Flachbildschirme, die samt meterlangen Verlängerungskabeln in Hinterhöfe geschleppt werden, Nachbarn, die eigentlich – Hey, kommt ihr heute Abend rüber? – doch ganz in Ordnung sind; dazu unsere Farben, unsere Jungs, unser Jogi; vier Wochen lang von Europa bis zur Rente alles vergessen, was uns Sorgen macht, vier Wochen lang Panini-Bilder mit den Kindern tauschen, unsere Fahne aus dem Beifahrerfenster flattern lassen, früher vom Büro nach Hause gehen, und der Chef findets okay, weil er doch selbst zu seinen Kumpels will, Fußball schauen, paar Bierchen verhaften, sich lebendig fühlen.
Natürlich können wir uns auch bei dieser Europameisterschaft wieder vom schwarzrotgoldenen Kollektivtaumel mitreißen lassen. Vielleicht kriegen wir es sogar noch mal hin, uns einzureden, dass sich unser Land südländisch entspannt anfühlt. Wir können kurz vor dem Anpfiff aber auch noch mal innehalten und ein paar Zeilen lang darüber nachdenken, was Fußball mal war und was daraus geworden ist, wie viel Gefühl wir in ihn investieren und was wir zurückkriegen, wer warum auf dem Platz stehen darf und wer warum nicht und ob wir es eigentlich gut finden, dass die lustigen Sprüche zu Hause auf dem Sofa gerissen werden, Manuel Neuer aber, egal wie phänomenal er die Bälle aus der Luft gepflückt hat, immer sagt: »Ich bin nicht stolz auf mich, sondern auf die Mannschaft.« Eine Gedenkminute also, obwohl niemand gestorben ist.
Oder ist doch was gestorben oder sagen wir: systematisch abgeschafft worden?
Es ist ja so, dass die 23 jungen Männer, die am Sonntag in Lille die deutsche Nationalhymne singen werden, unser Land nicht nur wegen ihres »sportlichen Werts« vertreten, sondern weil sie »Persönlichkeiten«, also Botschafter und Vorbilder sind, das hat der Bundestrainer selbst so gesagt. Dementsprechend vorbildhaft werden sie sich benehmen: In Interviews werden sie nur Sätze sagen, die niemandem wehtun, meistens solche, von denen man nach ein paar Wörtern weiß, wie sie weitergehen: »Wir denken nur – von Spiel zu Spiel.« Oder: »Das müssen wir – in Ruhe analysieren.« Sie werden sich oft bei Mitspielern, Gegnern, Fans bedanken und sich bei jeder Gelegenheit für Respekt und gegen Rassismus aussprechen. Sollte einem Mitspieler eine Flanke misslingen, werden sie nicht sauer sein, sondern den Daumen in die Höhe halten: Schon okay, war ja gut gemeint. Auf keinen Fall werden sie dem Publikum den Stinkefinger zeigen, dafür umso öfter ein Herz, das sie mit ihren Fingern formen. Sie werden jeden Abend pünktlich im Bett liegen und nichts twittern, was von irgendjemandem als anstößig empfunden werden könnte, höchstens unter der Bettdecke noch eine Gute-Nacht-SMS an die Freundin schreiben. Man nennt das wohl professionell, kann es auch als Zugewinn von Zivilisiertheit und Umgangsformen interpretieren, aber ein bisschen öde ist es halt auch, wenn das einzig Exzentrische an einem Fußballer die Frisur ist, wenn alle Spieler gleich vernünftig und korrekt sind, nicht unterkühlt, aber eben auch nicht fiebrig; nicht langweilig, obwohl – doch langweilig. Fußball ist ein Spiel, bei dem eine Mannschaft gegen eine andere gewinnen will, dementsprechend ernst sollte man es doch bitte schön nehmen und auf und neben dem Platz die komplette Emotionspalette ausreizen, Wut, Stolz, Übermut, Aggression, Enttäuschung, Triumph, ein bisschen mehr Ronaldo, ein bisschen weniger Toni Kroos, der sich über das magische 7:1 gegen Brasilien bei der vergangenen WM folgendermaßen freute: »Brasilien im eigenen Land 7:1 zu schlagen, ähm, Respekt!«
Einer wird die Hymne am Sonntag nicht mitsingen oder höchstens zu Hause auf dem Sofa: Max Kruse vom VfL Wolfsburg. Er kann sich nach turbulenten Wochen ein wenig erholen. Wir erinnern uns: Kruse hatte nach einer Pokernacht 75 000 Euro in einem Taxi liegen lassen, in einem Berliner Club einer Bild-Journalistin die Fotos vom Handy gelöscht und die Hauptrolle in einem Sexvideo gespielt, das jeder unter Achtzigjährige problemlos im Netz finden konnte. Am Ende waren es ein paar Boulevardmeldungen zu viel. Kruse wurde von der Nationalmannschaft suspendiert und musste eine Strafe an seinen Verein zahlen, der ihm obendrauf psychologische Hilfe anbot. Innerhalb weniger Tage war er zum Skandalkicker der Nation geworden, der auf die Therapeutencouch gehört, obwohl er sich gewiss nicht vorbildlich, aber eben auch nicht strafrechtlich relevant verhalten hatte, eher wie ein übermütiger 28-jähriger Millionär, der er ja schließlich auch ist. »Wir haben aktuell nicht den Eindruck, dass es das richtige Zeichen ist, wenn er bei uns dabei wäre«, so hat der Team-Manager Oliver Bierhoff das ausgedrückt. Der Fußball als Spiegel der Gesellschaft, hier stimmt es wieder mal. In einer Gesellschaft, die Gesundheit und Korrektheit, Lustfeindlichkeit und Kontrollierbarkeit belohnt, wird alles Ausschweifende und Unberechenbare nicht nur nicht toleriert, sondern sanktioniert und ausgestoßen. Vor ein paar Monaten war Kruse Gast im ZDF-Sportstudio. Es war eine der lustigeren Sendungen, weil Kruse ja nicht nur einen Maserati in Tarnfarben fährt, sondern auch sonst nicht wie ein Profifußballer wirkt, sondern wie ein Mensch, der beruflich Fußball spielt. Das war unterhaltsam und irgendwie tröstlich. Auf ein Lob seines ehemaligen Trainers André Schubert, wie professionell er sei, entgegnete er: »Den habe ich gut manipuliert, wenn er denkt, dass ich ein Vollprofi bin.« Man hätte es also ahnen können.
Es ist okay, dass Kruse bei der EM nicht dabei ist, denn er hat in der vergangenen Saison doppelt so viel verdient, aber nur halb so gut gespielt wie in der zuvor. Trotzdem bleibt der Verdacht, dass er wegen seiner Eskapaden zu Hause bleiben musste. Konsequent wäre das nicht, eher ungerecht, wenn man bedenkt, dass Marco Reus monatelang mit gefälschtem Führerschein im Aston Martin durch Dortmund kutschiert ist, von Team-Manager Bierhoff damals aber keinen Ärger, sondern Unterstützung bekam: »Marco hat nicht unprofessionell für sich oder seinen Beruf gehandelt.«
Dass Kruse nicht dabei ist, egal, er säße ohnehin auf der Bank, aber die wochenlange Debatte um Moral im Fußball und die Diskussion darüber, wie ein Profi sich zu verhalten hat oder eben nicht, haben vor allem eines offenbart: die unanständige und kaum noch aushaltbare Lücke, die zwischen der Verkommenheit des internationalen Fußballgeschäfts und dem moralischen Anspruch an seine Protagonisten klafft. Ein System, das Woche für Woche sämtliche ethische Standards unterschreitet, schraubt eben diese für seine Spieler immer noch ein Stückchen höher. Das kann, wenn es nicht so bigott wäre, auch mal lustig sein: Vor ein paar Jahren wurde Florian Kringe von Borussia Dortmund von seinem Trainer Thomas Doll »wegen Disziplinlosigkeit« für drei Tage gesperrt, weil er mit nacktem Oberkörper ein Buch gelesen hatte.
Die Fans erzählen sich immer noch die legendären Geschichten von früher: Wie Günter Netzer übers Wochenende zum Feiern nach Las Vegas geflogen und am Montagmorgen, damit ihn niemand erkennt, mit Trenchcoat und Hut in Madrid gelandet und zum Trainingsgelände gefahren ist. Oder wie sich die deutsche Nationalmannschaft am Schluchsee, der als »Schlucksee« in die Fußballgeschichte einging, auf die Weltmeisterschaft 1982 in Spanien vorbereitete. Wirklich alle kennen den legendären Spruch von George Best von Manchester United: »Mein Geld habe ich für Alkohol, Weiber und schnelle Autos ausgegeben, den Rest habe ich verprasst.« Es sind dies die Mythen, von denen sich der Fußball nährt, die ihm Sinn, Bedeutung und Geschichte verleihen. Es sind die Ausrutscher, Ausraster und unprofessionellen Momente, die dafür sorgen, dass Fußball mehr ist als ein Spiel, bei dem 22 Menschen einem Ball hinterherlaufen. Leider werden keine neuen hinzukommen, weil jede menschliche Regung, jede unbedachte Äußerung, jeder temperamentvolle Charme und grenzüberschreitende Humor glattdiszipliniert wird. So gesehen ist Nivea der ideale Pflegeausstatter der Nationalmannschaft. Da wie dort sind Unebenheiten unerwünscht und werden überschminkt.
»Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball«, hat Albert Camus gesagt. Man sieht daran, wie lange er schon tot ist. Denn ausgerechnet in der Saison, in der sich der DFB als der kleine, aber gelehrige Schüler der korrupten Fifa herausstellte, wurden die Spieler gnadenloser denn je moralisch evaluiert. Fast wöchentlich wurden neue Skandale über Schwarzkassen, Bestechungen, Wettmanipulationen sowie fragwürdige Werbepartner aus Osteuropa und dem Nahen Osten vermeldet, sodass man sich gelegentlich fragte, welcher Funktionär eigentlich noch ein normales Konto oder wenigstens legales Aktiendepot besitzt. Immer mehr Spitzenvereine sind im Besitz amerikanischer Hedgefonds oder russischer Oligarchen, auf den WM-Baustellen in Katar haben bereits Hunderte Arbeiter ihr Leben verloren, neunjährige Buben aus Südamerika werden an europäische Spitzenclubs verkauft, homosexuelle Profis haben immer noch Angst, sich zu outen, dazu kommen die vielen kleinen und größeren Stillosigkeiten beim Transfer von Spielern und der Verabschiedung von Trainern. Und wir diskutieren ernsthaft wochenlang darüber, ob Max Kruse, der Spaß daran hat, sein Glied mit dem Handy zu filmen, integer genug ist, um Teil der deutschen Nationalmannschaft zu sein? Vor Jahren hatte Stefan Effenberg es gewagt, in roter Lederhose und Cowboystiefeln auf der Weihnachtsfeier des FC Bayern München aufzukreuzen. Und es ist rückblickend nicht unlustig, dass ausgerechnet Uli Hoeneß damals von einem »Sittenverfall« und Franz Beckenbauer von einem »grauenvollen Erscheinungsbild« sprach.
Der Fußball ist ein riesiges Illusionstheater und ein milliardenschwerer Wirtschaftszweig. Es ist nur logisch, dass er von den gleichen kriminellen und halbkriminellen Begleiterscheinungen flankiert wird wie, sagen wir: das Bankenwesen. Und wo Banken, um Vertrauen zurückzugewinnen, einen Werbespot nach dem anderen mit dieser sympathischen jungen Frauenstimme unterlegen, müssen beim Fußball die Spieler herhalten, indem sie immer höflich und wohltemperiert auftreten, damit die Dunkelkammer Fußball nicht gar so finster daherkommt. Eine Geste, die es längst zur Konvention gebracht hat, ist der stille Jubel: Wenn ein Spieler ein Tor gegen seinen ehemaligen Verein schießt, hält er sich den Zeigefinger vor den Mund. Pssst, soll das heißen und klarmachen, er freut sich schon, aber mehr so innerlich, weil er die Fans von früher nicht kränken möchte. Was aber ist mit den Fans von heute? Und dem aktuellen Arbeitgeber? Und warum hat er, wenn ihm die Fans so wichtig sind, überhaupt den Verein gewechselt? Am Ende soll eine sentimentale Geste die Doppelmoral camouflieren und die Illusion aufrechterhalten, dass es im modernen Profifußball so etwas wie Treue, Loyalität oder Identität geben könnte.
Fast scheint es, als müssten die Spieler Teile ihrer Persönlichkeit opfern, damit der moralische Niedergang des durchkommerzialisierten Profifußballs bestmöglich verschleiert werden kann. Das Drumherum, die Meldungen, die Gerüchte, die Ablösesummen, werden immer hysterischer und leidenschaftlicher, die Spieler immer noch tastender, vorsichtiger, verängstigter, bald sagt keiner mehr was, ohne vorher seinen Berater um Erlaubnis gefragt zu haben. Deswegen gibt Thomas Müller inzwischen gefühlt achtzig Prozent aller Interviews, nicht weil er so ein Rebell ist, sondern weil er über das Talent verfügt, sich innerhalb des erlaubten Rahmens unterhaltsam auszudrücken. In einer ziemlich humorlosen Branche genügt das schon, um als Karl Valentin des Fußballs durchzugehen.
Und wir, die Fans, stehen jede Woche wieder vor der Aufgabe, die skandalöse Wahrheit über unseren Lieblingssport auszublenden, um uns auf Aufstellung, Taktik und Tore konzentrieren zu können. Interessanterweise kriegen wir das ganz gut hin. Wenn Investmentbanker unser Vertrauen missbrauchen, drehen wir durch, schimpfen auf die da oben, fühlen uns als Opfer, hilflos, ausgeliefert, betrogen. Beim Fußball funktioniert das nicht, denn wer ihn schlechtmacht, schadet sich selbst, weil er sich der Illusion beraubt, von der er so dringend abhängig ist, weil sie sein Durchschnittsleben mit Struktur, Sinn und Leidenschaft füllt. Für unseren Lieblingssport schließen wir uns jede Woche wieder zu einer weltumspannenden Kollektivlüge zusammen, und jetzt schnell rüber zu den Kumpels, Fußball schauen, paar Bierchen verhaften, sich lebendig fühlen.
Foto: Panini