»Man überlegt: Haben sie schon mein Haus abgebrannt?«

Gareth Southgate hat 1996 gegen Deutschland den entscheidenden Elfmeter verschossen. Ein Jahr später gab er dem SZ-Magazin ein Interview, über das Gefühl, ein ganzes Land enttäuscht zu haben und für immer der Depp zu sein. 

Der Super-GAU eines englischen Nationalspielers: gegen Deutschland verschießen, im EM-Halbfinale, im eigenen Land. 

Foto: dpa

Über die männliche Hauptrolle müsste man noch diskutieren, aber das Leben des Gareth Southgate sollte dringend verfilmt werden. Es wäre einer dieser Filme, die einen auf kitschige Art rühren und deren Happy End wirkt, als hätte es sich jemand ausgedacht. Die Geschichte beginnt 1996: Der Nationalspieler Southgate verschießt den wichtigsten Elfmeter in der Fußballgeschichte Englands:

SZ-Magazin (Interview aus dem Jahr 1997): Wie oft erscheint Ihnen der deutsche Torwart Andreas Köpke noch im Traum? 
Gareth Southgate:
Ich stehe nicht jede Nacht senkrecht im Bett und verschieße in Gedanken Elfmeter. Aber manchmal habe ich das alles wieder vor mir, ganz plötzlich; ich kann gar nicht sagen, warum. Und dann merke ich: Oh ja, es tut auch jetzt immer noch weh.


Schmerzt Sie die Aussicht, dass Sie ihr Leben lang für diesen Fehlschuss berühmt sein werden?
Wenn ich ehrlich zu mir bin, weiß ich, das ist die Wahrheit. Der verschossene Elfmeter wird wohl der entscheidende Punkt in meiner Karriere bleiben. Viele Leute, die mich trösten wollten, haben gesagt: Wirst sehen, das geht vorbei. Aber es geht nicht vorbei. Mit welcher Leistung soll ich das ausgleichen? Es war so ein großes Spiel, Deutschland gegen England, Europameisterschafts-Halbfinale im eigenen Land, und die ganze Nation verrückt wegen des Turniers. Und dann verpasst England meinetwegen das Finale.  

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Sie sagen das ohne erkennbare Erregung. 
Aber damit zu leben ist sehr schwer. Es war meine erste internationale Meisterschaft, und ich habe sehr gut gespielt – aber alles, was in Erinnerung bleibt, ist dieser kleine, dumme Fehler. Alles, was die Leute von Gareth Southgate behalten haben, ist: Der kann keine Elfmeter schießen. 

Sehen die Leute in England das wirklich so – Sie allein haben das Spiel verloren? 
Die meisten sind nett zu mir. Aber ich habe auch Hassbriefe bekommen. Ein Hooligan, der vor Gericht stand, schrieb mir, dass die Anklage eigentlich mir gelten müsste, da es letztlich meine Schuld sei, dass er bei Ausschreitungen nach dem Spiel am Trafalgar Square verhaftet worden ist. Merkwürdig, was ein Elfmeter in den Menschen auslösen kann. Für viele andere, die Leid erfahren haben, bin ich plötzlich ein Verbündeter. Die Leute schreiben mir nicht nur, um Trost zu spenden, sondern erwarten ihrerseits Zuspruch von mir für ihre Probleme. Ich bin fast so etwas wie ein Kummerkastenonkel geworden.

Antworten Sie den Leuten?
Nicht jedem persönlich, das waren ja am Anfang riesige Postsäcke, die jeden Tag ankamen. Ich habe einen allgemeinen Dankesbrief aufgesetzt, sonst hätte ich das nicht geschafft. Aber viele habe ich auch von Hand zurückgeschrieben. Einer Familie aus Dunblane zum Beispiel – Sie wissen doch, was in Dunblane passiert ist?

Dort rannte im Frühjahr 1996 ein Mann in die Schule, er erschoss 16 Kinder und die Lehrerin.
Eines der Kinder gehörte dieser Familie. Sie schrieben mir, ich sollte mir wegen des Elfmeters keine Sorgen machen; wir hätten ihnen mit unserem Fußball viel Freude gemacht, eine Freude, die sie lange nicht mehr empfunden hätten. Solche Briefe haben meine Sichtweise verändert. Der Elfmeter und alles, was danach kam, haben mein Leben verändert. Einer unserer berühmtesten Trainer hier, Bill Shankly, sagte einmal: »Fußball ist wichtiger als Leben und Tod.« Ich habe das geglaubt. Heute weiß ich: Wenn ich Leuten wie dieser Familie helfen kann, ist das wichtiger als Tore zu schießen. 

Sie sind unter die Wohltäter gegangen?
Ich unterstütze einige Krankenhäuser hier rund um Birmingham und engagiere mich für ein Kinderhilfswerk. Ich gebe aber auch zu, dass ich neulich abgesagt habe, als ich etwas für einen guten Zweck tun sollte. Ich hätte noch einmal in Wembley einen Elfmeter schießen sollen, mit einem Komiker im Tor, live im Fernsehen. Das hab ich nicht gebracht: Noch einmal das Wembley-Stadion, Millionen vor dem Fernseher – und ich beim Elfmeter.

Wohin wollten Sie damals eigentlich schießen? Der Schuss war weder kraftvoll noch gezielt. 
Mein Straßstoß war armselig. Aber als der Zeitpunkt kam – wie soll ich das sagen... Ich war überrascht, als unser Coach mich nahm. Ich hatte Elfmeterschießen nie geübt, nur einmal zuvor in meinem Leben einen geschossen – und auch da schon nicht getroffen. Ich kann das nicht gut.

Southgate bei der WM 2018 in Russland nach dem gewonnenen Elfmeterschießen gegen Kolumbien.

Werden Sie jemals wieder einen Elfmeter schießen? 
Ich bin nicht unbedingt scharf darauf. Lieber würde ich versuchen, andere Sachen im Stadion zu machen, um den Fehler zu vergessen. Ich hätte Lust, Libero zu spielen, so wie Matthias Sammer. Das ist mein neues Ziel.

Damals in Wembley, mit Tränen auf den Wangen, sahen Sie aus, als wäre Elfmeterschießen das größte Unglück der Welt.
Ich erinnere mich nicht mehr an wahnsinnig viel von dem, was direkt nach dem Strafstoß geschehen ist. Ich bin in der Nacht ins Bett gegangen, den Kopf voller Müll. Du liegst wach und denkst: Was werden die Leute mit dir machen, haben sie schon dein Haus abgebrannt? Es war beängstigend. Mein Kollege Stuart Pearce sagte: »Gareth, morgen werde ich wieder zu Hause sein und auf die Weide gehen, um meine Pferde zu füttern. Ich werde sie anschauen und sagen: Wir haben es wieder nicht geschafft. Wir haben gegen Deutschland im Elfmeterschießen verloren. Und die Pferde werden mir antworten: »Was kümmerst du dich darum? Gib uns endlich die Karotten.«