Kann doch nicht sein, sagen die Chinesen, dass wir unter 1,3 Milliarden nicht elf finden, die den Ball ins Tor bringen. Doch, kann. Kann doch nicht sein, sagen sie, dass alles immer noch schlimmer kommt. Doch, kann. 15. Juni 2013. China spielt gegen Thailand. Zu Hause, in Hefei. China schickt seine besten Spieler auf den Platz. Thailand, zu der Zeit Weltranglistenplatz 142, schickt seine U23. China verliert 1:5. »Wenigstens«, schrieb ein Kommentator hernach, »sind wir uns treu geblieben.« Die Agonie ist die Konstante im Leben von Chinas Fußballfans. Und ihr siamesischer Zwilling: die Hoffnung, die ewige, wider alle Einsicht.
In der Provinz Guangdong, 1100 Kilometer südlich des Stadions von Hefei, hatten sie da gerade eben wieder die Hoffnung zu Stein getürmt, zu Mauern so hoch, als wollten sie keinem erlauben, sie je wieder umzublasen. Von Guangzhou kommend, fährt man in die Berge von Qingyuan durch karstigen Fels und unendliches Grün. Wenn sich dann in der Abenddämmerung die Evergrande Academy vor einem erhebt, fühlt man sich ein wenig wie der Hobbit Frodo vor dem Palast der Elben in Bruchtal, strahlenumkränzt. Ein gewaltiges Tor, das per Inschrift die künftigen »Helden und Champions der Welt« willkommen heißt. Ein herrschaftlicher Park. Schwere Gemäuer mit Türmchen und Erkern und Dächern, die in der Dunkelheit neonblau zu glühen beginnen. Im Licht des nächsten Morgens wird offenbar, dass eher die Zauberschule Hogwarts aus den Harry-Potter-Filmen Vorbild stand, und hier und da eine Prise altes Rom. »Europäischer Stil«, erklärt die Dame von der Presseabteilung stolz.
Die Evergrande Academy ist eine Fußballschule. Es ist, darunter machen sie es hier ja nicht mehr, die größte der Welt. 3000 Schüler sind es im Moment, es sollen einmal zehntausend sein. Mehr als 50 Fußballplätze, 24 der Trainer hat Real Madrid hergeschickt, das mit Guangzhou Evergrande kooperiert. Die Schule hat eine Mission: die Rettung der Nation. »Wir wollen China Weltstars schenken«, sagt der Bauunternehmer Xu Jiayin, der Chef des Evergrande-Konzerns. »Wir wollen Chinas Fußball wieder Leben einhauchen.« Sie stehen da noch am Anfang. Zauberkräfte, das wär’s.
Das stolze China. Aufsteigende Weltmacht. Es ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde, Deutschland und Japan hat das Land längst überholt, die USA sind in Griffweite. Die meisten Baukräne der Welt, die meisten Wolkenkratzer, die meisten Smartphones, bald auch die meisten Milliardäre. China schickt Menschen ins Weltall. Bloß den Ball nicht ins Tor. So lange aber, finden nicht wenige im Land, zählt alles andere nicht. So lange leben wir, wie der Chefredakteur einer Guangzhouer Fußballzeitung meint, »in der miserabelsten aller Zeiten«. So lange lässt sich die Geschichte dieses Landes als »epische Tragödie« erzählen, wie Xu Guoqi 2008 schrieb, Historiker an der Universität Hongkong. Denn: »Wenn es um unseren geliebten Fußball geht, dann ist China nicht nur der kranke Mann Asiens, es ist der kranke Mann der Welt.« Und weil kranke Männer auch in China die volle Aufmerksamkeit fordern, werden derweil die Erfolge von Chinas Frauenfußballerinnen kaum wahrgenommen.
»China ist ein schlafender Gigant.« Sagte angeblich Napoleon Bonaparte beim Studium einer Weltkarte im Jahr 1803. »China ist ein schlafender Gigant.« Sagte tatsächlich Berti Vogts im Gespräch mit chinesischen Journalisten im Jahr 2015. Könnte aber doch sein, dass einer ihn weckt.
China 2015. Am Freitag, dem 23. Februar, tritt im hermetisch abgeschlossenen Zhongnanhai, dem Herzen des Reiches, unter dem Vorsitz des KP-Generalsekretärs und Staatspräsidenten Xi Jinping die Zentrale Führungsgruppe für Reform zusammen, neben Xi sind auch der Premier Li Keqiang und zwei andere Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros dabei. Die mächtigsten Männer Chinas. Das Thema der zunächst geheimen Sitzung: der »Chinesische Traum«, der Slogan, den Parteichef Xi Jinping zu seiner Regierungsdevise erhoben hat. An diesem Februartag wird der Regent konkret. Er befiehlt, meldet die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua, »die Wiederbelebung des chinesischen Fußballs«. Die Xinhua-Meldung lässt keinen Zweifel an der Dringlichkeit der Aufgabe, sie belegt auf nur wenigen Zeilen den Zustand der Fußballnationalmannschaft mit den Attributen »enttäuschend«, »kaputt«, »demütigend« und »nationale Schmach«. Ihr Reformgelöbnis, lassen die Herrscher Chinas wissen, entspringe dem »verzweifelten Sehnen des Volkes«, Widerstände würden »hinweggefegt«.
Jetzt klotzt der Staat. 20 000 Grund- und Mittelschulen sollen bis zum Jahr 2017 Fußballschwerpunktschulen werden. 100 000 neue Fußballspieler sollen bis dahin herangezogen werden. Der Staatsrat, Chinas Regierung, hat einen 50 Punkte langen Aktionsplan verabschiedet. 6000 Trainer werden noch in diesem Jahr ausgebildet. Es werden Schüler- ligen gegründet, im September finden die ersten Spiele statt. Gute Fußballspieler werden in Zukunft bei der Hochschulaufnahmeprüfung bevorzugt. So will es der Herr. Der Parteichef Xi Jinping ist Fußballfan. 2011, schon bevor er der starke Mann Chinas wurde, gab Xi seine drei sehnlichsten Wünsche zu Protokoll: Erstens also soll China die Qualifikation zu einer Fußball-Weltmeisterschaft schaffen. Zweitens die WM ins eigene Land holen. Und drittens: Weltmeister werden.
»Lasst China schlafen«, soll Napoleon noch gesagt haben. »Wenn es aufwacht, wird es die Welt erschüttern.« Vielleicht. »Aber wahrscheinlich«, sagt Lü Peng, ein Maler und jahrzehntelanger Fußballfan in Peking, »ist es wesentlich einfacher, einen Menschen zum Mond zu schicken als Chinas Fußballer in die Weltspitze.« Vielleicht also auch nicht.
Es sind dies zwei der größten Mysterien des modernen China: Warum in Herrgotts Namen spielen Chinas Fußballer so beharrlich miserabel? Und warum hält das Fanvolk trotzdem seit Jahrzehnten dem Spiel leidenschaftlich die Treue? 790 Millionen Chinesen schauten bei der WM 2014 zu, fast 100 Millionen sahen Deutschland im Finale über Argentinien siegen, um drei Uhr morgens Pekinger Zeit. Wenn chinesische Fans in Erinnerungen an die eigene Mannschaft schwelgen, springen sie von Pein zu Elend zu Qual. 1985 hätte China gegen Hongkong, damals noch britische Kolonie, ein Unentschieden gereicht für die WM-Teilnahme. 80 000 Fans erlebten in Peking eine demütigende Niederlage. Danach war die Hölle los. Ein wütender Mob steckte Busse und Autos in Brand. Später umstellten sie das Quartier ihrer Spieler und sangen die Hymne aller »Verdammten dieser Erde«, die Internationale. Der Fußball und die Revolte, der Fußball und die Politik, das war hier nie weit voneinander entfernt.
Liefe ihre Fußballmannschaft einmal, nur ein einziges Mal, bei einer Weltmeisterschaft auf, und sie müssten sich nicht schämen.
Einmal, ein einziges Mal nahm China an einer WM teil, 2002 war das, als die WM in Korea und Japan stattfand. Sie schossen dann in drei Spielen kein einziges Tor. »Tränen von Seoul« heißt ein Gericht in einem Lokal in der Nähe des Pekinger Arbeiterstadions: kalte Entenfüße, eingelegt in Senf, so scharf, dass einem das Heulen kommt. Da mag China sich Berge von olympischen Goldmedaillen erlaufen, erschmettern, erstemmen, erspringen, erturnen und ertanzen, die Chinesen gäben das alles hin, liefe ihre Fußballmannschaft einmal, nur ein einziges Mal, bei einer Weltmeisterschaft auf, und sie müssten sich nicht schämen.
Fußball ist der einzige wirklich globale Massensport. Im Fußball misst sich die Welt, für den Fußball zerreißt sie sich; die Leidenschaft, die Olympia hervorbringt, ist verglichen damit ein Abglanz. Ist es ein Wunder, dass das konstante Scheitern der Chinesen all jene Unsicherheit, jene Ohnmacht und jenen Zorn zum Vorschein bringt, die unter dem Firnis des neuen Selbstbewusstseins weiter an ihnen nagen? China ist eine auserwählte Nation, in dem Bewusstsein wird hier jedes Kind großgezogen. Der Unstern, der über Chinas Fußball steht, wirft Fragen auf. Die eigene Physis, die eigene Kultur, das regierende System – alles wird, vom Fußball ausgehend, in China permanent hinterfragt. Li Chengpeng, einer der bekanntesten liberalen Autoren Chinas, war lange Fußballjournalist. »Ich tat so, als schriebe ich über Fußball«, sagt er. »In Wirklichkeit schrieb ich über Politik.«
Die liberale Schule verwies wieder und wieder auf die fehlende Gewaltenteilung zwischen Verband und Politik, die haarsträubende Korruption in Liga und Nationalmannschaft – kein Wunder, dass das nicht klappe mit dem Fußball. Andere, wie der Maler Lü Peng, zeigen auf die eigene Gesellschaft: »Die besten Spieler wachsen auf in einem Geist der Verspieltheit, schau dir Messi an. Das fehlt den Chinesen komplett. Immer haben wir eine Mission, immer müssen wir dem Vaterland dienen. Verkrampft und eingeschüchtert von klein auf.«
An der Evergrande Academy, weit hinten auf Fußballplatz Nummer 23, erzählt Trainer Yu Sikuan von dem Druck, den er selbst einst erlebte, als er mit acht Jahren in ein staatliches Fußballinternat gesteckt wurde. »Uns wurde eingebläut, wir müssten der Nation Ruhm und Ehre bringen.« Der heute 27-Jährige studierte bis 2012 Fußball an der Sport-hochschule in Wuhan. »In unserem Lehrbuch gab es nur eine Form von Torschuss: mit dem Vollspann geradeaus ins Tor.« Also verboten ihnen die Dozenten alles andere. Es sei doch auffällig, sagt Yu Sikuan dann noch, dass die Chinesen vor allem in Sportarten ohne Körperkontakt und Zweikampf Erfolge feiern: beim Turmspringen, beim Schießen, beim Tischtennis. »Sie sind gut, wenn sie weit weg sind vom Gegner. Oder wenn ein Netz dazwischen ist. Beim Fußball aber kicken wir den Ball oft endlos in hohem Bogen hin und her. Ich denke manchmal, Chinas erste Liga, das ist wie Tischtennis auf grünem Rasen.«
Wie den Buchdruck und das Schießpulver hat China auch den Fußball erfunden, eine Variante jedenfalls, vor mehr als 2000 Jahren in der Han-Dynastie, sie nannten das Spiel Cuju. Vom Gründungskaiser Taizu der Song-Dynastie (960–1279) gibt es ein Gemälde, das ihn kickend inmitten seiner Berater zeigt. Nach der Gründung der Volksrepublik 1949 aber war es, als läge ein Fluch auf Chinas Spiel. Dabei soll Mao Zedong selbst als Schüler mal Torwart gewesen sein, natürlich ein »herausragender«, wie eine offizielle Biografie vermeldet. Und sein Nachfolger Deng Xiaoping wurde als junger Austauscharbeiter im Frankreich der 1920er-Jahre zum Fan, das ist verbürgt. Kurz nach der Machtergreifung durch seine Kommunisten zu Hause marschierte Deng zur eben neugegründeten Nationalmannschaft und gab seiner Zuversicht Ausdruck, wonach das Team »schnellstmöglich« die Nation begeistern werde. Das war 1952, seither harrt die Nation.
Dass der chinesische Fußballverband von Anfang an ein Befehlsempfänger der Politik war, ein Anhängsel des Sportministeriums, ist ein Grundübel. Dass die Profiliga 1994 auf ein Dekret der Regierung hin gegründet und dann erst einmal an mächtige Staatsunternehmen verscherbelt wurde, machte die Sache nicht besser. »Chinas Fußball kam schon als deformierter Fötus zur Welt«, schrieb die Pekinger Rechtszeitung. Korruption war früh ein Problem. 2003 wurde die Liga aufgelöst und neu gegründet – die Hälfte aller Spiele war nachweislich manipuliert worden.
Danach wurde alles schlimmer. Gleich zwei ehemalige Vorsitzende des chinesischen Fußballverbandes, Nan Yong und Xie Yalong, sitzen heute wegen Bestechlichkeit und Spielmanipulationen im Gefängnis, ebenso Lu Jun, als mehrfacher Preisträger der »Goldenen Pfeife« Chinas Schiedsrichterstar. Die Fußballzeitschrift Titan veröffentlichte 2010, damals gab es eine neue Verhaftungswelle, eine Preisliste: Für 200 000 Yuan, knapp 30 000 Euro, konnte sich demnach ein Spieler in die Nationalmannschaft einkaufen.
Für die Entwicklung des Spiels hatte der Skandal üble Folgen. »Die Eltern wandten sich ab«, sagt Gao Fengwen, ein ehemaliger Nationaltrainer. Keiner wollte sein Kind mehr so ein schmutziges Spiel spielen lassen. Überhaupt sollten die Kinder lieber für die Schule lernen. Auf Chinas Straßen sieht man keine Kinder kicken. Erstens fehlt der Platz, zweitens verschwindet die Generation der Einzelkinder ohnehin nach dem Grundschuleintritt hinter dem Schreibtisch, sie werden dort jahrelang für die Hochschulaufnahmeprüfung gedrillt und erst nach dem Uni-Abschluss wieder freigelassen.
Gao Fengwen ist 76 Jahre alt, er war Kapitän der Nationalmannschaft von 1965 bis 1973 und Nationaltrainer nach 1986. In den 1990er-Jahren gründete er in seiner Heimatstadt Shenyang die erste private Fußballschule des Landes, eine Schule, aus der viele Nationalspieler hervorgingen. Aber nach den Korruptionsskandalen ging es abwärts. Bis zum Jahr 2000 zählte Chinas Fußballverband 610 000 registrierte jugendliche Fußballer im Land. Fünf Jahre später waren es nur mehr 180 000. Und 2010 bloß noch 7000. Vor sechs Jahren machte Gao Fengwen seine Schule dicht. Jetzt ist sie ein Altersheim. »Aus unseren Fußballplätzen haben sie Äcker gemacht«, sagt Gao. »Sie pflanzen dort jetzt Biogemüse an.« Er zuckt mit den Achseln. Dann öffnen sich seine Augen weit. »Aber jetzt!« Der Parteichef, der neue Plan: »Das gab es noch nie. Und wir haben Geld. Wie viele chinesische Unternehmen sind im Moment auf der Forbes-Liste der 500 weltweit größten?« 95. »Sehen Sie! Jetzt sind wir dran.«
Das Vorhaben des Politbüros und der Regierung mutet erst einmal an wie früher: Der Staat plant den Erfolg mit Rechenschieber und Zirkel. Wenn man aber genauer hinschaut, liest man in dem 50-Punkte-Aktionsplan erstaunlich Vernünftiges. Peking scheint erkannt zu haben, dass man im Fußball die Weltherrschaft nicht herbeibefehlen kann. Also soll nun erst einmal der Sport an den Schulen gefördert werden, es sollen Graswurzelvereine gegründet und unterstützt, neue Plätze gebaut werden. Vor allem aber: Der Fußballverband soll unabhängig werden von der Politik.
»Ich konnte es zuerst gar nicht glauben«, sagt Rowan Simons, ein Brite, der mit seinem China Club Football, einem privaten Verein, seit vielen Jahren in Peking Fußball von unten fördert und den offiziellen Fußball stets harsch kritisiert hat. »All das, was ich immer gefordert habe, soll nun Wirklichkeit werden? Als der Plan veröffentlicht wurde, war mir, als hätte ich Geburtstag.« Noch aber stehen all die schönen Dinge nur auf dem Papier, und Chinas Bürokratie hat Jahrtausende Erfahrung im Ersticken großartiger Initiativen aus der Hauptstadt. »Aber für Chinas Fußball«, meint Simons, »ist es die beste und letzte Chance, die er kriegt.«
Klar ist: In einem autoritären System wie China richten sich alle Magnetnadeln stets nach dem Kaiserhof aus. »Wenn die Regierung also sagt, Fußball ist Trumpf, dann heißt das: Alle werden sich nun auf den Fußball stürzen«, sagt in Guangzhou Liu Xiaoxin, der Chefredakteur der einflussreichen Zeitung Fußball. Die Beamten, weil sie wissen, sie können dann nichts falsch machen. Die Geschäftsleute, weil sie Geschäfte wittern. Schon kündigte die Presse zwei Filme an. Ballesliebe soll der eine heißen. »Wir werden Messi fragen, ob er mitspielt«, sagt der Drehbuchautor. »Wir wollen zeigen, dass starke Jugendliche eine starke Nation schaffen.« Der Arbeitstitel des anderen Films ist Fußball-Tagebuch. »Wir werden Maradona fragen, ob er mitspielt«, sagt der Regisseur. »Die Kinder sollen lernen, wie man den Fußball, die Familie und das Vaterland lieben lernt.«
Im Guangzhouer Vorort Nanjiao kann man erste Resultate besichtigen. Der Direktor Chen Guotai empfängt in Sportkluft, seine kleine Grundschule ist eine der ersten, die mit dem Fußballtraining ernst machte. »Ich war mal Fan«, sagt der Direktor. »Bis unsere Nationalmannschaft meine Leidenschaft ausgemerzt hat.« Er lächelt gequält. Die Schüler der fünften Klasse stehen in Reih und Glied, ein jeder einen Ball unterm Arm. »Jeder neue Schüler bekommt einen Fußball geschenkt«, sagt der Direktor. »Den dürfen sie auch in den Ferien mit nach Hause nehmen.«
Das wöchentliche Training beginnt. »Liiiinks um!« brüllt der Trainer, die Schüler drehen sich nach links. »Reeechts um!« Sie marschieren. Vor, zurück, im Kreis. Dann schaltet der Trainer die Musikanlage an. Ein Popsong. Die Schüler legen den Ball hin, dann heben sie im Takt das linke Bein und stellen es auf den Ball, später das rechte Bein. Es ist mehr Rhythmische Sportgymnastik. Der Direktor deutet auf den Basketballplatz, auf dem die Schüler hin und her tänzeln: »Wir werden bald einen Fußballplatz daraus machen.« Der Trainer heißt Li und ist 26 Jahre alt. Die Sache mit China und der Weltmeisterschaft, Herr Li? »Puuuh«, sagt er.
»Es ist erstaunlich, wie spät die Vereine in Europa aufgewacht sind.«
Guangzhou ist Heimat des erfolgreichsten Fußballvereins Chinas: Guangzhou Evergrande. Der Bauunternehmer Xu Jiayin erkannte schon vor fünf Jahren, dass die Zeit gekommen war, in der sich eine Investition in den Fußball wieder lohnen könnte. Er steckte viel Geld in den Club, kaufte Spieler wie den Argentinier Darío Conca, Trainer wie Marcello Lippi, einst Coach der italienischen Nationalelf. Das Resultat: Vier Meisterschaften in Folge, 2013 gewann der Club zudem Asiens Champions League. Im vergangenen Jahr stieg der E-Commerce-Gigant Alibaba mit 50 Prozent bei dem Club ein. Im Juni unterschrieb Luiz Felipe Scolari, bis 2014 noch Nationaltrainer Brasiliens. Derweil ist in der Hafenstadt Dalian im Nordosten Chinas ein anderer Immobilienunternehmer aktiv: der Wanda-Chef Wang Jianlin, Chinas reichster Mann. Sein Konzern stieg mit 20 Prozent beim spanischen Verein Atlético Madrid ein, im Februar machte er Schlagzeilen, als er den Schweizer Sportrechtevermarkter Infront Sports für mehr als eine Milliarde Euro kaufte. Wang Jianlins enge Bande zu Chinas Politbüro waren unlängst Gegenstand einer Recherche der New York Times. Nicht wenige in China munkeln, sein Engagement im Fußball geschehe aus »Pflichtbewusstsein gegenüber dem Vaterland« heraus. Das bedeutet in China: Man engagiert sich für den chinesischen Traum, dafür brummen die eigenen Geschäfte.
So oder so: »Die Liga boomt im Moment.« Mads Davidsen sagt das, der Däne ist Assistenztrainer bei Shanghai SIPG. »Alle kommen sie nach China, Trainer wie Spieler«, sagt Davidsen. »Vor zehn Jahren verdiente einer in Europa viel mehr als hier, heute ist das umgekehrt.« Er selbst ist seit vier Jahren in China, sein Chef ist Sven-Göran Eriksson, der einstige Nationaltrainer Englands, der seit einem Jahr Shanghai SIPG trainiert. »Das Geld ist heute hier«, sagt Davidsen. »Es ist erstaunlich, wie spät die Vereine in Europa aufgewacht sind.«
Der FC Bayern hat nun beide Augen aufgerissen. Im Januar wünschte Bastian Schweinsteiger per Videobotschaft allen chinesischen Fans ein frohes Neujahr – auf Chinesisch. Im Mai reiste der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge nach Hangzhou, um gemeinsam mit Alibaba einen Online-Shop für Merchandisingartikel vorzustellen. Im Juli folgt die Mannschaft und wird drei Spiele in Peking, Shanghai und Guangzhou absolvieren. Dass die China-Offensive des FC Bayern München mit der Fußballrevolution des KP-Chefs Xi Jinping zusammenfällt, findet Karl-Heinz Rummenigge »einen glücklichen Zufall«.
Dass die desaströse Vergangenheit der eigenen Teams die Begeisterung der Chinesen für europäische Spitzenclubs erst recht gedeihen ließ, macht den Zufall noch glücklicher. Rummenigge erinnert sich an die erste China- Reise des FC Bayern 2012 und da vor allem an die Landung in Guangzhou. »Wir wurden von drei-, viertausend Fans in Bayerntrikots erwartet, die zusammen den Stern des Südens sangen« – die Vereinshymne. »So etwas habe ich noch nie erlebt.« 90 Millionen Fans will der FC Bayern in China ausgemacht haben, mehr als Deutschland Einwohner hat. Klar, dass der Verein hier, »auf dem globalen Wachstumsmarkt Nummer eins«, Geld verdienen will. »China wird mit Abstand unser stärkster Auslandsmarkt«, prophezeit Rummenigge im Gespräch mit dem SZ-Magazin. Gleichzeitig will der FC Bayern China bei dessen großen Plänen nun unter die Arme greifen. »Wir wollen hier nicht nur abkassieren, wir wollen auch etwas für den Fußball tun, und zwar nachhaltig«, sagt Rummenigge. »Wir wollen in China Grassroots-Programme unterstützen, vielleicht Trainer in München ausbilden.« Kann das denn funktionieren, was die Kommunistische Partei vorhat? Den Fußball mit Fünfjahresplänen auf Weltniveau bringen? »Warum nicht?«, fragt Rummenigge zurück. »Ich kenne wenige Völker auf der Erde, die beharrlicher wären.«
Der junge Boom der Liga hilft der Nationalmannschaft noch nicht. Unter den ersten 15 auf der Torschützenliste im vergangenen Jahr stand gerade mal ein Chinese. Was fehlt? Auf keinen Fall die Physis, sagt Mads Davidsen, auch nicht die Technik. In beidem seien chinesische Spieler »oft stärker als wir«. Was dann? »Sie kapieren einfach das Spiel nicht«, sagt der Däne: Resultat jahrelangen falschen Trainings.
Fußball endlich mit dem Kopf spielen. Daran arbeiten sie nun in der Evergrande Academy im tiefen Süden. »Von den Spaniern habe ich schon so viel gelernt«, sagt Trainer Yu Sikuan über die 24 Kollegen von Real Madrid, die an seiner Schule die Cheftrainer sind. Was denn? »Die haben Spaß am Fußball, Wahnsinn.« Und was noch? »Wir schimpfen und schlagen die Kinder jetzt nicht mehr«, sagt Yu zögernd. »Das war früher normal.« Manchmal prallen die Kulturen noch aufeinander. »Die chinesischen Trainer und die Kinder hier sind klasse«, sagt José Ignacio Artieda, einer der spanischen Trainer in der Akademie. »Aber die Bosse und die Leute vom Fußballverband, die leben noch immer auf einem anderen Planeten. Wir sagen ihnen: Nur mit der Ruhe, ganz langsam, Schritt für Schritt, die Erfolge kommen dann später. Sie nicken mit dem Kopf: Jajaja – und kaum sind wir aus dem Zimmer, rennen sie zu den Spielern und sagen: Wehe, ihr gewinnt heute nicht!« Die Spanier, jaja, sagt einer aus der Schulverwaltung. »Sie wissen doch, die sind ein wenig …« – er sucht nach dem rechten Wort – »… entspannter. Wir geben uns große Mühe, sie zu verstehen. Zu respektieren. Und ihnen zu helfen. Dass sie uns verstehen. Schließlich sind wir in China. Hier zählt auch die Ehre des Sieges. Die Eltern wollen ja sehen, wofür sie bezahlen.«
Die Evergrande Academy mag sich zum Ziel gesetzt haben, China einen Weltstar zu schenken, aber sie ist keine Drillanstalt alten Zuschnitts. Die Kinder erhalten hier eine ordentliche Schulbildung. Sie wirken fröhlich. Einige der Eltern erzählen, dass sie ihr Kind hierher gebracht hätten, um es der Mühle des chinesischen Schulsystems zu entreißen. »Anderswo ist es einfach zu brutal«, erzählt He Xixiang, die nebenher noch Taxi fährt, um das Schulgeld von umgerechnet 7500 Euro im Jahr für ihren Zehnjährigen aufzubringen. »Mein Sohn will jetzt nachts immer mit dem Fußball im Arm schlafen.« Er spielt Torwart. »Ich habe ihm gesagt: Hauptsache, du wächst gesund auf. Und wenn du willst, kannst du nebenher auch unser Vaterland retten.« Sie lacht schallend.
(Fotos: James Mollison, Algirdas Bakas, Imagine China, Kai Strittmatter, Wang Yi)