Der König der Welt

Mit Titanic wurde Leonardo DiCaprio zum globalen Mädchenschwarm. Dann zertrümmerte er sein Image, bis kein Teenager mehr bei seinem Anblick kreischte. Jetzt ist DiCaprio reif für den Oscar.

Frauen wissen nicht nur, wo sie waren, als sie von Lady Dianas Tod hörten, sondern auch, in welchem Kino sie zum ersten Mal Titanic sahen. Beides packte einen unerwartet heftig, beides ist einem heute eher peinlich. Dabei war die Begeisterung für Leonardo DiCaprio leicht verständlich. Er spielte einen unverschämt frechen Frauenversteher. Diese Kombination gibt es bei Männern im richtigen Leben selten. Deswegen erwischte sie einen unvorbereitet. Für sexy und altruistisch waren wir nicht gewappnet.

Den meisten Männern war die Leonardo-Euphorie ein Rätsel. »Was, dieser minderjährig aussehende Vollmondschädel?«, fragten sie ungläubig. Zehn Jahre nach Titanic finden vor allem Männer DiCaprio gut. Frauen auch, wenn sie sich für außerordentliche Schauspieler ohne nennenswerte Liebesgeschichten interessieren. Nicht mehr zu den Fans gehören schwärmende Teenies, denn aus DiCaprios Pausbacken wurde ein attraktives Männergesicht. Fast zweieinhalb Stunden sieht man DiCaprio in dem Film Blood Diamond – und denkt kein einziges Mal an sein Aussehen. Das sagt etwas über sein Talent und noch mehr darüber, was er seit Titanic konsequent vermeidet: ein Star wie Tom Cruise zu werden, der in jeder Rolle vor allem Tom Cruise ist. Kein Zufall, dass DiCaprio bei den diesjährigen Golden Globes für Departed: Unter Feinden und Blood Diamond vorgeschlagen war. Bei der Verleihung der Oscars am übernächsten Sonntag ist Leonardo DiCaprio in der Kategorie »beste männliche Hauptrolle« für Blood Diamond nominiert. Scorseses Departed, in dem DiCaprio furios spielt, geht als bester Film und für die beste Regie ins Rennen. Hollywood weiß, wie gut ein Schauspieler sein muss, der das verweigert, was man gern von ihm sähe, und die Zuschauer trotzdem kriegt.

Im Gegensatz zu Scorseses großartigem Departed, wo sich DiCaprio als Undercover-Polizist in seiner Doppelrolle verliert, ist Blood Diamond von Regisseur Edward Zwick eher kein Meisterwerk. Eine Geschichte während des blutigen Bürgerkriegs in Sierra Leone, in der der südafrikanische Söldner Danny Archer (DiCaprio) und sein schwarzer Gegenspieler Solomon Vandy (Djimon Hounsou) versuchen, einen von Vandy versteckten Diamanten zu bergen. DiCaprio als mitleidloser, von Frauen kaum zu beeindruckender, aber keineswegs humorloser Einzelgänger hat viele Kritiker zu einem Vergleich mit Humphrey Bogart hingerissen. Aber Danny Archer ist kein Gutmensch wie Bogarts Rick, der sich mit Schroffheit panzert, sondern ein Söldner, der seine Betrügereien genießt. Dass Blood Diamond nicht zum linolschnittartigem Moralwerk geriet, liegt einzig daran, dass DiCaprio keinen Moment lang zulässt, dass ihn die Zuschauer für sein Handeln verurteilen.

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Leonardo DiCaprio war gerade 15, als ihn Robert De Niro für die Rolle des rebellischen Teenagers in This Boy’s Life (1993) aus Dutzenden von Bewerbern pickte, nachdem DiCaprio ihn beim Vorsprechen angeschrien hatte. De Niro sagte später, das habe bisher niemand gewagt. Während De Niros Darstellung in This Boy’s Life für den Oscar nicht in Erwägung gezogen wurde, verpasste DiCaprio nur knapp eine Nominierung. Er erhielt sie dann mit 19 für den Film Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa, wo er Johnny Depps debilen kleinen Bruder spielte und dabei aussah, als sei er höchstens 14.

Spätestens nach der Oscar-Nominierung wurde Leonardo DiCaprio, Sohn eines italoamerikanischen Comic-Händlers und einer deutsch-amerikanischen Sekretärin, groß geworden in einem für Drogenhandel und Prostitution berüchtigten Viertel Hollywoods, neben River Phoenix und Johnny Depp als der große Nachwuchsstar der USA gehandelt. Seinen nächsten Film, Baz Luhrmanns Adaptation von Romeo und Julia, fanden viele Kritiker grauenvoll, das junge Publikum war begeistert. So tränentreibend wie dieser Romeo hatte schon lange kein junger Mann mehr im Kino an der Liebe gelitten. In Interviews zu dem Film sagte der romantische Held ernüchternde Dinge wie: »Ich bin überhaupt nicht wie Romeo im richtigen Leben. Ich heirate wahrscheinlich, wenn überhaupt, erst, wenn ich mit jemandem zehn oder zwanzig Jahre gelebt habe.«

1996 bekam der damals 22-jährige Leonardo DiCaprio zwei Filmrollen angeboten: die des Pornostars Dirk Diggler in Boogie Nights und die des armen Malers Jack Dawson, der beim Zocken eine Karte für die Jungfernfahrt der Titanic gewinnt. Hätte er sich für Boogie Nights entschieden, würde man ihn vielleicht heute noch in Filmen sehen, die Frauen zum Seufzen bringen. Aber er machte Titanic, den erfolgreichsten Film der Kinogeschichte. Und lehnt seither jede Rolle ab, die auch nur von ferne daran erinnert, dass er als Liebhaber auf der Leinwand hinreißend war. Schade für Kinogängerinnen, klug für die Karriere. DiCaprio will einen Platz in der Filmgeschichte, nicht an den Wänden der Mädchenzimmer.

Kaum war Titanic in den Kinos, war er außerstande, einen Schritt zu tun, ohne dass irgendein Teenager die Bluse aufriss. Was globalhysterische weibliche Bewunderung mit einem macht, wenn man gerade 23 ist, kann sich niemand vorstellen. Er verglich es einmal mit einem Kübel Eiswasser, der einem über den Kopf geleert wird. DiCaprio kaufte sich keinen Ferrari und benahm sich selten daneben. Aber er ging mit seinen Freunden in Klubs wie früher, knutschte mit schönen Mädchen und sah gelegentlich auf Paparazzi-Bildern etwas betrunken aus. »Er wird enden wie River Phoenix«, unkte der Rolling Stone. Aber Leonardo DiCaprio versuchte lediglich, trotz der Euphorie, normal zu bleiben. Erfolglos: »Wenn du ständig mit Komplimenten überschüttet wirst und plötzlich mehr Macht hast als je in deinem Leben, wirst du nicht unbedingt ein arrogantes, unfreundliches Arschloch. Aber du kriegst eine falsche Vorstellung deiner Wichtigkeit und dessen, was du geleistet hast. Du glaubst wirklich, du hättest den Lauf der Geschichte verändert.«

Es war einer der ersten und letzten ansatzweise persönlichen Sätze, die er den Medien gegenüber äußerte. Wann immer möglich, ging er nun Interviews aus dem Weg. Und wenn er sie geben musste, waren seine Antworten in der Regel zum Gähnen. Dass er sich schon früh für Umweltschutz engagierte, war zweifellos lobenswert. Aber was war mit seiner Freundin, Supermodel Gisele Bündchen? DiCaprio überhörte die Frage und zählte ungerührt zwanzig vom Aussterben bedrohte Tierarten auf.

Die Taktik ist erfolgreich, wenn man sie durchhält. Sich den Medien gegenüber als Langweiler darzustellen, um in Ruhe gelassen zu werden, haben außer Leonardo DiCaprio nur wenige geschafft. Keanu Reeves hätte nach dem Welterfolg von The Matrix der große Abräumer in Hollywood werden können. Aber dann gab er Interviews, bei denen selbst die hingerissensten Journalisten einnickten. Bis heute weiß niemand, ob Reeves privat ein glänzender Unterhalter oder eine Schlaftablette ist. Das Gleiche tat DiCaprios enger Jugendfreund Tobey Maguire, nachdem er mit Spider-Man einen der größten Kassenerfolge eingespielt hatte: Er vergrätzte Journalisten mit nichtssagenden Antworten. Alle drei gehören zu Hollywoods angeblich dauergejagter A-Liste. Alle drei werden außerhalb der Zeiten, in denen sie für ihre neuen Filme werben, nur selten von Reportern und Kameras behelligt.

Fast drei Jahre lang spielte Leonardo DiCaprio nach Titanic nicht mehr, ehe The Beach, ein Film über einen gelangweilten jungen US-Touristen, der in einer thailändischen Aussteiger-Kommune völlig ausrastet, in die Kinos kam. Niemand konnte den egozen-trischen Globetrotter leiden, was vermutlich genau das war, worauf sein Darsteller gehofft hatte. Der Misserfolg nach der langen Leo-losen Durststrecke kam überraschend, aber die Botschaft war klar: DiCaprio wollte nie mehr mit Jack Dawson in Titanic verwechselt werden. Die noch größere Rebellion gegen sein süßes Titanic-Image schien der 2001 in Berlin gezeigte Don’s Plum: ein Schwarz-Weiß-Film über eine Gruppe junger Zyniker, unter ihnen DiCaprio und Tobey Maguire, die sich einen Abend um die Ohren schlagen und mit Obszönitäten übertrumpfen. Aber der vermeintliche Rebellenakt zweier weltberühmter Stars entpuppte sich als Improvisationsübung von 1995, nie dazu bestimmt, in die Kinos zu kommen, und vom Regisseur aus kommerziellen Gründen zum Spielfilm aufgeblasen. Interesse für Don’s Plum kam auf, als DiCaprio und Maguire für die USA ein Aufführungsverbot durchsetzten. Offenbar war die Zotendrescherei nicht kompatibel mit dem Image als Charakterdarsteller. Wer DiCaprio heute auf den Film anspricht, wird von seinem PR-Mann unterbrochen.

Trotz The Beach und der Gerüchte um Don’s Plum blieben DiCaprios Talent und Star-Power so unbestritten, dass ihn 2002 die beiden größten Regisseure Hollywoods unter Vertrag nahmen: Steven Spielberg engagierte ihn für zwanzig Millionen Dollar für die Betrügerkomödie Catch Me If You Can, Martin Scorsese für zehn Millionen plus Erfolgsbeteiligung für sein altes Lieblingsprojekt Gangs of New York. In Martin Scorsese entdeckte DiCaprio eine verwandte Seele: den Mentor, das Vorbild und einen, der genauso besessen war wie er, Filmgeschichte zu schreiben.

Der Film, der am meisten über DiCaprio erzählt, ist nicht sein bester: Martin Scorseses Aviator, eine irritierend sterile Wiedergabe eines kühnen wie gepeinigten Lebens. Der Millionärssohn Howard Hughes, der sich mit 18 vor Gericht das Recht erstritt, die Ölförderfirma seines Vaters zu führen, und mit seinem Vermögen die zivile Luftfahrt revolutionierte, Filme finanzierte und jede schöne Frau in Hollywood ins Bett brachte, hätte ein leidenschaftlicheres Porträt verdient. Ebenso der Hughes, der seine Phobie vor Keimen und öffentlichen Auftritten immer weniger im Griff hatte. Aber möglicherweise war der unter panischer Flugangst leidende Scorsese nicht der ideale Regisseur, einen Film über einen Pionier zu machen, der sich nur sicher fühlte, wenn er keinen Boden unter den Füßen hatte.

Doch Scorsese brauchte nach dem Flop von Gangs of New York Geld. Aviator war nicht sein, sondern DiCaprios Projekt. Er hatte die Hughes-Biografie gelesen und seit Langem versucht, einen Regisseur zu finden. Nach eigenen Worten war er besessen von Howard Hughes: »Er war der Tycoon seiner Zeit, hatte alles Geld der Welt und riskierte sein Leben für Testflüge. Und er stürzte ab. Es waren keine PR-Aktionen.« Aviator brachte DiCaprio seine zweite Oscar-Nominierung ein. Er verlor gegen Jamie Foxx als Ray, der ebenfalls nominierte Scorsese gegen Eastwoods Million Dollar Baby. Die Chancen, dass Mentor und Schützling mit Departed mehr Glück haben, stehen gut. Inzwischen arbeiten beide am nächsten gemeinsamen Projekt: The Rise of Theodore Roosevelt. Einmal mehr kein Liebhaber.

Beatrice Schlag ist Reporterin der Schweizer Wochenzeitschrift WELTWOCHE.